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Der historische Verriss: “After The Gold Rush” (1970) von Neil Young

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Auch Experten liegen manchmal mächtig daneben. In dieser Reihe stellen wir vernichtende Plattenkritiken von großen Alben der Musikgeschichte vor, fatale Fehlurteile, die aus heutiger Sicht mindestens merkwürdig wirken. Oder war es doch durchaus berechtigte Kritik, die der allgemeinen Meinung entgegensteht? Zeit für eine erneute Analyse.

Dieses Mal geht es um eines der definitiven Singer-Songwriter-Alben der 1970er-Jahre. Unter Neil Youngs unzähligen Platten seit den späten 60ern – ob mit oder ohne Crazy Horse, mit oder ohne Crosby, Stills und Nash – gehört After The Gold Rush zu seinen schönsten Werken. Es war erst sein zweites Soloalbum und erschien ein Jahr nach der zusammen mit Crazy Horse eingespielten Folkrock-Platte Everybody Knows This Is Nowhere. After The Gold Rush setzte den Ton für Youngs folgendes Hit-Album Harvest (1972), war aber doch grundlegend anders gestrickt. Genau die Aspekte, die man heute an dieser Platte bewundert, stießen damals bei Langdon Winner vom amerikanischen Rolling Stone auf heftige Gegenwehr. Im Grunde war er selbst ein Fan von Neil Young, aber diese Veröffentlichung war für ihn nicht zu ertragen. Prüfen wir, ob seine Argumente haltbar sind.



Auf gewisse Weise hat der Rolling-Stone-Kritiker recht: Man könnte so lange an Songs feilen, bis sie scheinbar perfekt sind. Man kann sie aber auch vollkommen glatt feilen und sie damit kaputt und völlig uninteressant machen. Manchmal ist gerade die impulsive Momentaufnahme, in der die Magie des Augenblicks eingefangen wird, die beste Taktik. Dafür gibt es in der Musikgeschichte zigtausend Beispiele, Stichwort Improvisation und Jam-Session. Und er hat auch woanders recht: Die Songs auf After The Gold Rush sind tatsächlich erstklassig, sowohl Youngs Songwriting als auch seine Lyrics. Beides ist so stark, dass nicht mal die grottigste Produktion ihnen etwas anhaben könnte. Als Beispiel für seine These nennt Mr. Winner Southern Man, das auf Platte nicht an die Live-Wirkung herankommen würde. Das mag damals wohl so gewesen sein, und doch passt das Demo-Tape-Flair zu dieser Nummer so gut wie zum Rest der Platte. Wir bewegen uns wieder in die wohlbekannte wie gefährliche Region „Geschmacksache“. Was sind also die weiteren Kritikpunkte?



Richtig vermutet: Das hier ist eine vollkommen subjektive Rezension. Jedes Argument lässt sich prinzipiell mit einem Satz entkräften: „Finde ich aber nicht!“ Es ist zwar nicht ganz unwahr, dass Neil Young auf diesem Album sein Stimmvolumen merklich überdehnt, aber das könnte man von vielen großen Sängern behaupten. Was zählt, ist der Effekt, und der bringt hier – unserer Meinung nach – genau die richtige Portion Pathos mit. Only Love Can Break Your Heart soll lächerlich sein? Es ist zum Heulen schön! Es sollte auch nicht die letzte Platte gewesen sein, auf der Neil Young nicht gerade gesangliche Bestleistung nach Lehrbuch liefert. Aber ganz ehrlich: Lieber so, mit Ecken und Kanten, mit Charakter, als glattpoliert und effekthaschend. Dafür gibt es Formate wie “Deutschland sucht den Superstar”. Was Neil Young hier macht, in Kombination mit den recht rohen Songs und der nicht makellosen Aufnahme, ist letztendlich authentisch und aufrichtig. Manchmal ist Kunst, gerade Musik, eine so dringliche Angelegenheit, dass man sie unverfälscht in die Welt setzen muss, ohne langes Zögern und Nachbearbeiten. Doch unser Kritiker weiß, dass er in diesem Fall nicht unbedingt im Recht ist:



Tja, lieber Langdon. Es kann halt nicht immer klappen, dass einem eine Platte so sehr ans Herz wächst oder dass man sie so genau versteht, wie man sich das wünscht. Davon können wir ein Lied singen – es macht nicht immer direkt “Klick”. Aus heutiger Sicht muss man dich natürlich korrigieren: After The Gold Rush besitzt diese Qualitäten sehr wohl. Immerhin bist du offen und ehrlich, indem du sagst: Der Fehler liegt bei mir, andere werden diese Platte lieben. Bestimmt hast du dieser Platte später noch mal eine Chance gegeben, vielleicht hast du die Schönheit dieser Songs, dieser ungeschliffenen Diamanten, letztendlich doch erkannt. Gerade angesichts der tatsächlichen, nicht zu leugnenden Schwachpunkten in Neil Youngs späterem Schaffen, ist After The Gold Rush ein wahres Goldstück. Wenn man doch nur immer so in die Zukunft blicken könnte, wie wir in die Vergangenheit!


Header:  Photo by Michael Putland/Getty Images

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