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Popkultur

Der Boss schwitzt nicht: Das erste Mal mit Bruce Springsteen (Live in Berlin)

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Quelle, Bild: Screenshot YouTube

Am 19. Juni machten Bruce Springsteen und seine E Street Band auf ihrer The River-Welttournee Halt in Berlin. Unser nicht mehr ganz so junger Autor beschreibt sein erstes Springsteen-Konzert und wie es sich anfühlt, den Boss so langsam zu verstehen.


Wir haben die Setlist des Bruce Springsteen Konzerts Song für Song als Playlist nachgebaut – jetzt hier anhören, während du den Artikel liest:


 

„Tja, irgendwann landen sie alle beim Boss“, sagte mir vor kurzem ein Kollege. Ohne zu zögern hatte ich hochpreisige Karten für Bruce Springsteen im Olympiastadion Berlin gekauft. Warum, das war mir auch nicht ganz klar. Und wie musste ich den Kommentar meines Kollegen verstehen? War das ein Todesurteil für meinen Musikgeschmack und meine Jugend? Oder ist Bruce Springsteen tatsächlich etwas, das man erst irgendwann verstehen kann? Eine Sache der Erfahrung?

Gestern war es so weit. Ich pilgerte mit zehntausenden Menschen zum Boss ins Stadion und es sollte ein grandioser Abend werden. Alle Erwartungen, die ich niemals hatte, wurden erfüllt. In den letzten Tagen habe ich oft The River gehört, das Album aus dem Jahr 1980, dem Bruce Springsteen mit seiner aktuellen Tour die Ehre erweist. Es gilt oft als seine beste Platte – ein Doppelalbum, das alle Facetten dieser überlebensgroßen Rock-Ikone in 20 Songs zusammenbringt. Die lauten und die leisen Momente, die jubelnden und die nachdenklichen, klassisches Rock&Roll-Material, Seeleninnenleben und Geschichten aus Springsteens Amerika. Über 30 Jahre, aber wie Springsteen selbst schwebt das alles über der Zeitrechnung. Der Inbegriff eines Klassikers.


 Bruce Springsteen eröffnet das Konzert mit ‘Adam Raised A Cain’:


 

The River war das erste Springsteen-Album, das bei mir gezündet hat vor einigen Jahren. Ein erster Versuch mit Born To Run vor etwa 10 Jahren ging in die Hose. Dieser Springsteen-Klassiker war mir zu klassisch. Alles zu langweilig, zu gleich, zu viel Saxophon-Piano-Rock fürs Radio. Aber so ist der Boss eben, heute weiß ich das. Die Songs auf The River waren aber der passende Schlüssel, um diesen Typen interessant zu finden. Natürlich hätte ich gerne den Springsteen von damals gesehen. Diesen smarten, melancholischen Typen auf dem The River-Cover, oder den Burschen, der auf dem ikonischen Born In The USA mit Jeans und weißem T-Shirt wie Coca-Cola-Boy und Marlboro-Man in Personalunion wirkt. Popkultur-Sehnsüchte. Aber ist nicht. Bruce Springsteen ist 67 Jahre alt und sieht natürlich heute anders aus. Man muss ja froh sein, dass der Herr in diesem Alter überhaupt noch eine Welttournee stemmen kann. Ich bin also eingestellt darauf, dass dieser Abend mit meinen unrealistischen Erwartungen bricht. Aber der echte Bruce Springsteen, der mich vielleicht gar nicht so sehr interessiert wie seine junge Variante, wird das alles regeln: Alter und Jahre, das sind doch nur ein paar Zahlen.

Noch nie war ich auf einem Springsteen-Konzert, noch nie auf einem Stadion-Gig dieser Größe. Ich bin jetzt 30. Guter Zeitpunkt, oder? Bruce Springsteen ist tatsächlich eine Sache der älteren Generationen, um es mal vorsichtig zu sagen. Das soll kein Qualitätsurteil sein, aber gibt es wirklich viele Leute Anfang 20, die den Boss hören? Nicht dass ich wüsste. Man kann es ihnen nicht verübeln, immerhin gibt es doch so viel neue und interessante Musik zu hören. Da bleibt nicht viel Zeit übrig, nicht mal für den Boss. Der Weg zum Olympiastadion macht das deutlich: Eine Teenie-Veranstaltung wird das garantiert nicht. Aber es sieht nach einem grundsympathischen Publikum aus. Es könnte auch ein Fußball-Spiel stattfinden, so wie die buntgemischte Menge in ihren Fan-Shirts Richtung Stadion wandern, entspannt und gutgelaunt und aufgeregt. Es ist bestimmt nicht ihr erstes Mal mit dem Boss, so wie für mich. Irgendwie fühle ich mich wohl, aber das liegt auch an der Flasche Sekt, die jetzt leer ist. Eine gute Mischung.



Wenige Minuten nach 19 Uhr geht es los in der sonnigen Arena. Die vielen Zuschauer auf den Sitzplätzen der Tribünen wirken ein bisschen bedauerlich, denn die Distanzen sind schon gewaltig. Ohne die Videoleinwände wäre es schwierig, die Mitglieder der E-Street-Band und ihren Anführer einzeln auszumachen. Während der ersten Songs herrscht keine schlechte Laune, doch auf den Rängen sieht es eher verhalten aus. Es braucht noch einen der großen Songs, um alle Leute auf Betriebstemperatur zu bringen. Hungry Heart übernimmt das, nachdem der Boss schon elf Nummern abgeliefert hat. Am Ende werden es dreimal so viele sein. Spätestens jetzt wird dieser Abend ein einziges Fest, bei dem jeder ohne Hemmungen mitmacht. Hingabe, überall. Woran es auf jeden Fall nicht mangelt, ist Lautstärke. Im Nachhinein wird, wie eigentlich bei jedem Konzert, der Sound bemängelt werden, die Nuancen der Band seien in diesem lauten Breitwand-Rock-Brei völlig untergegangen. Damit haben die erfahrenen Fans sicher recht, aber mir sind solche Feinheiten entgangen: Ich war gebannt von diesem perfekt ablaufenden Musikspektakel, von den glücklich mitklatschenden Muttis, den ganz versunken tanzenden Jeansjacken-Rentner, diesen Songs, die schon seit vielen Jahrzehnten perfekt funktionieren. Und natürlich von diesem Typen da oben. 67, blendend weißes Lächeln, durchtrainiert, extrem sympathisch. Ein Strahlemann, dem man aber nicht böse sein kann. Auch nach drei Stunden vollem Körpereinsatz hat Bruce Springsteen keine Anzeichen von Schweiß in seinem gesunden Gesicht stehen. Die perfekte Täuschung oder der Beweis, das Rock&Roll auch ein Jungbrunnen sein kann? Der Boss läuft hunderte Meter Fans ab und schüttelt Hände, holt sich einen Jungen aus dem Publikum auf die Schultern, macht ein Tänzchen mit einem Fan, und seine Stimme ist in jeder Sekunde völlig unverwüstlich.


 

Ein von annæ (@brevtel) gepostetes Foto am


 

Irgendwann fällt mir auf, dass bei dieser The River-Tour überraschend wenig Songs von ebenjenem Album kommen. Es scheint einfach nur ein Best-Of-Konzert zu werden, aber das soll mir als Anfänger ganz recht sein. So bleibt auch Zeit für Lieblingssongs wie I’m On Fire, dieses herrlich zarte, unrockige Lied, bei dem ich fast eine Träne wegdrücken muss. Damit hätte ich nicht gerechnet, dass solche intimen Momente möglich sind, während tausende Menschen im Chor singen, mit man ansonsten eher wenige Berührungspunkte im Leben hat. Eine große Erkenntnis dieses Abends muss ich hier noch eingestehen: Liebe Fans, verzeiht es mir, aber ich wusste nicht, dass Bruce Springsteen damals den Song Because The Night geschrieben und Patti Smith überlassen hat. Große Nummer von einer großen Musikerin, aber dieser Überraschungsmoment ist unbezahlbar.

Weitere Erkenntnisse: Ja, er ist definitiv der Boss, das Augenzwinkern darf man trotzdem nicht vergessen. Ja, am Ende landen vielleicht wirklich alle beim Boss. Hier ist man gut aufgehoben. Geglückte Experimente machen glücklich. Bin ich jetzt tatsächlich ein Fan geworden? Ironisch natürlich, Augenzwinkern. Aber auch von ganzem Herzen. I’m on fire.

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