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Popkultur

Die musikalische DNA von Japan

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Was musst du in deinem Leben eigentlich alles falsch gemacht haben, dass Duran Duran dich vergöttern? Eine ganze Menge, scheint es. Aber es scheint eben nur so. Denn das genau ist doch das Merkwürdige: Eigentlich haben Japan und ihr Frontmann David Sylvian nämlich im Gegenteil alles immer und immer richtiger gemacht. Noch bevor Bands wie Talk Talk Ende der achtziger oder Radiohead Mitte der neunziger Jahre bewiesen, dass Pop mit Avantgarde zu vereinen war und dennoch Charterfolge davon nicht ausgeschlossen wurden, eroberte die britische Gruppe zuerst die Pop-Welt und stand schließlich mit Ghosts weit oben in den Hitparaden. Keine Rhythmussektion, keine Gitarre, ein Refrain, der so kaum zu nennen wäre und wunderliche Blubber-Sounds aus dem Synthesizer – es ist und bleibt der skurrilste Hit der Achtziger und darüber hinaus.


Hört hier in die musikalische DNA von Japan rein:

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Dabei hatten Japan doch ganz anders angefangen. Erst als schrammelige Hobbyband neben der Schule, später als schriller Glam Rock-Verschnitt, dann wurden sie den sogenannten New Romantics zugerechnet. Eine Zuschreibung, gegen die Sylvian stets Einspruch einlegte. „Ich will mit denen nicht in einen Topf geschmissen werden“, schäumte er. „Die Haltungen sind so verschieden. Für die ist ein schickes Outfit nur ein Kostüm. Für uns ein Lebensstil. Wir sehen und kleiden uns jeden Tag so.“ Da sprach auch ein frustriertes Kind der Arbeiterklasse aus ihm, das sich aus bescheidenen Umständen nach oben durchgekämpft hatte – mit Kunst, die nicht selten kompromisslos war. Was davon übrig blieb? Eine Marketingkampagne ernannte ihn zum „schönsten Mann der Welt“. Gegen seinen Willen, versteht sich. Dabei wollten er und seine Kollegen Steve Jansen (Schlagzeug), Richard Barbieri (Keyboards), Mick Karn (Bass) und der kurz vor Auflösung ausgestiegene Rob Dean (Gitarre) niemals Stars sein. Kein Wunder also, dass sie auf dem Zenit ihres Schaffens die Reißleine zogen.

Japan waren mehr als die Summe ihrer Teile. Mehr als Glam, mehr als schrille Frisuren und noch schrillere Songs. Für sie war Pop Kunst, weil ihre Kunst wie Pop klang. Sehr, sehr merkwürdiger Pop allerdings. Was diesen einzigartigen Sound beeinflusste, erfahren wir mit Blick auf die musikalische DNA von Japan.


1. New York Dolls – Personality Crisis

Catford ist ein beschaulicher Londoner Vorort, in dem heutzutage gerade mal 15 000 Menschen leben und in dem Mitte der siebziger Jahre tote Hose herrschte. Sylvian, Jansen, Barbieri und Karn wollten mehr vom Leben, so einfach war das aber nicht zu bekommen. Musik bot eine Ausflucht. Sylvian schrieb spartanische Songs und wechselte sich mit Karn am Mikro ab. Ein erster Live-Auftritt wurde arrangiert, ein Name musste her. Er fand sich in der Broschüre eines Reisebüros – so will es zumindest die Legende, besser gesagt: eine der vielen Legenden. Es ergibt allerdings durchaus Sinn: Japan schließlich ist vom tristen Catford weit, weit entfernt.

Nach nur drei Jahren indes öffnete sich für die fünf Jungspunde die Tür zur großen Welt zumindest für einen Spalt: Ariola Hansa nahm die Band unter Vertrag. Zwischen den deutschen Disco- und Electro-Acts im Roster waren Japan ein echter Fremdkörper, als sie 1978 mit ihrer LP Adolescent Sex debütierten. Nachdem die Band sich zuerst an Funk versucht hatte, ging es in Richtung Glam Rock. Häufig werden die New York Dolls als Hauptinspiration genannt. „Es war eher der visuelle als der musikalische Aspekt, der uns an den Dolls gereizt hat“, erklärte Dean dazu in einem Interview. „Die waren sehr Rock’n‘Roll. Wir waren nicht Rock’n‘Roll.“


2. Velvet Underground & Nico – All Tomorrow’s Parties

Von den New York Dolls also kamen eher modische und visuelle Impulse. Doch die Musik? Die Band mochte es gerne, wenn Musik etwas schräg war, gab Dean im selben Gespräch zu. „Die besten Bands hatten etwas Herausforderndes und Eklektisches an sich“, sagte er. „Deswegen ist es vermutlich nur folgerichtig, dass wir genau dasselbe angestrebt haben.“ Ja, doch – das klingt einleuchtend! Besonders herausfordernd waren Lou Reed und seine Band Velvet Underground, die gemeinsam mit Nico eines der herausforderndsten Alben der Rock-Geschichte aufnahmen.

Als 1979 das Japan-Album Quiet Life erschien, fand sich darauf auch eine Coverversion von All Tomorrow‘s Parties von eben jenem Album, die ganz anders als das Original klang. Fröhlicher, freundlicher war sie – und deshalb umso unheimlicher. Nachdem Japan schon mit ihrem Zweitwerk Obscure Alternatives einen Richtungswechsel vollzogen hatten, klangen sie nun anders als zuvor. Zugleich aber setzten sie sich stilistisch und ästhetisch auch von ihren eigenen Idolen ab. „Worin besteht denn auch der Sinn einer Cover-Version, die sich genauso wie das Original anhört“, fragte Dean, als er auf All Tomorrow‘s Parties angesprochen wurde. Im Grunde führte seine Band damit im selben Zug nur umso konsequenter fort, was Velvet Underground mehr als ein Jahrzehnt angefangen hatten.


3. David Bowie – Warszawa

Damit waren Japan allerdings natürlich nicht die einzigen. David Bowie setzte mit ähnlicher Konsequenz dort an, wo Velvet Underground aufgehört hatten. 1977 erschien mit Low ein düsteres Album, das mit viel elektronischen Mitteln auf Songs wie Warszawa eine intime und doch obskure Stimmung einfing. Bowie war einer der maßgeblichen Fixsterne im Japan-Kosmos. Vielleicht nämlich hat sich die Band doch nicht nach einer Broschüre benannt, sondern nach der Ziggy Stardust-Zeile „Like some cat from Japan, he could lick ’em by smiling“. Oder doch nicht? Dean selbst war sich nicht so sicher.

Fest steht zumindest, dass Bowie einer der maßgeblichen Einflüsse für Japans kreative Entwicklung war: Ständig wandelte sich Bowie, ständig taten es Japan. Als sich die Band schon aufgelöst hatte, kam dann endlich zusammen, was zusammen gehörte: Forbidden Colours, ein gemeinsamer Song von David Sylvian und dem japanischen Musiker Ryuichi Sakamoto wurde als Lead-Single für den Film Merry Christmas Mr Lawrence verwendet. In der Hauptrolle: David Bowie.


4. Brian Eno & David Byrne – Regiment

Bowies Low-Album markierte den Beginn einer fruchtbaren Kollaboration mit dem britischen Klangkünstler Brian Eno, der sich zuerst als Mitglied von Roxy Music einen Namen gemacht hatte. Richtig, auch Eno vollzog den Wandel vom Glam zu abenteuerlicher Musik! Da ist es nur logisch, dass auch seine Musik für Sylvian und sein Truppe interessant wurde. Das zeigt sich allein schon daran, dass der Japan-Frontmann später mit vielen engen Bekannten Enos zusammenarbeitete, unter anderem Robert Fripp und Jon Hassell, mit dem Eno 1980 am Album Fourth World Vol. 1: Possible Musics getüftelt hatte.

Ein Jahr später folgte My Life in the Bush of Ghosts, Enos Kollaboration mit dem Talking Heads-Mitglied David Byrne. Darauf führte Eno die eigentlich von Hassell entwickelten Sampling-Experimente fort und schuf eine Musik, die mit für das westliche Ohr ungewohnten Rhythmen und Klängen arbeitete und ordentlich Funk in sich trug, wie etwa in Regiment zu hören ist. Eno und Sylvian beziehungsweise Japan sprachen nie offen über ihr gegenseitiges Verhältnis, doch sind die Parallelen zwischen den beiden Ansätzen, die der Brite und die Gruppe Anfang der achtziger Jahre jeweils verfolgten, kaum von der Hand zu weisen: Beide wollten mit elektronischen Mitteln Musik schaffen, die kulturelle Grenzen überbrückte.


5. John Foxx – Underpass

Trotz ihrer Liebäugelei mit dem eher avantgardistischen Spektrum der Pop-Welt wurden Japan auf dem Höhepunkt ihrer Karriere doch in die New Romantics-Schublade gesteckt. Dabei wollten sie mit Sängern wie Boy George nun wirklich nichts zu tun haben! Und mit der Pop-Welt schon sowieso gar nicht. Kunst ging ihnen vor Kommerz, Allüren lagen Japan fern. Sie wollten wichtige, besondere Musik machen anstatt als Eintagsfliegen zu vergehen. Ein Schicksal, das sie mit John Foxx teilten. Als Gründungsmitglied von Ultravox hatte dieser nämlich Ambitionen, die sich nicht auf eine Platzierung in den Top 10 beschränkten.

Ultravox‘ drittes Album unter seiner Führung nahm die Gruppe mit dem legendären Krautrock-Produzenten Conny Plank auf und floppten damit, ebenso wie eine anschließende US-Tour. Foxx verließ die Band, die mit Midge Ure – mit dem Mick Karn später Hits schreiben sollte – einen immer kommerzielleren Kurs aufnahmen, der in Songs wie Dancing With Tears in My Eyes resultierte. Foxx aber wechselte zu Virgin, wo auch Japan zu dieser Zeit unter Vertrag standen, und veröffentlichte 1980 mit Metamatic eine wunderbar eigenwillige Platte, die auch Japan beeindruckte. 2009 dann tat sich Steve Jansen mit Foxx und anderen für ein Kollaborationsalbum zusammen.


6. Yellow Magic Orchestra – Yellow Magic (Tong Poo)

Jansen und Foxx, das beweist mal wieder: Was zusammen gehört, findet einander irgendwann. So wie auch Japan und Japan. Also, Japan die Band und Japan, das Inselreich. Dort feierten die fünf bleichen Briten nämlich schon früh in ihrer Karriere einige Hits und näherten sich ästhetisch – und im Falle Sylvians sogar spirituell – immer mehr der japanischen Kultur an. Nicht allein Zen-Buddhismus und Shintoismus, sondern auch der neue japanische Sound der späten siebziger und frühen achtziger Jahre war für sie prägend.

„Es kam viel coole Musik aus Japan zu dieser Zeit“, schwärmte Dean und hob besonders Yellow Magic Orchestra hervor. „Sie waren die japanischen Kraftwerk. Nur mit etwas mehr Funk!“ Auch Jansen nannte den Drummer der Band, Yukihiro Takahashi, als Inspiration. Auch die intensive musikalische Beziehung zwischen Sakamoto und Sylvian ist bestens dokumentiert. Gemeinsam schrieben sie Stücke wie Bamboo Houses oder das bereits genannte Forbidden Colours, auch auf dem Japan-Live-Album Oil on Canvas ist Sakamoto beim Stück Ghosts zu hören. Im fernen Osten fand die Gruppe offenkundig etwas, das ihnen in Großbritannien fehlte: die Zukunft.


7. CAN – Future Days

1977 schrien die Punks noch „No Future“ durch die Straßen – und was sollte danach schon außer Ernüchterung kommen? Japan zeigten, wie Musik nach der Absage an den kulturellen Fortschritt klingen könnte. Auch dafür gab es – ironischer Weise – Vorbilder. Sie fanden sich in Deutschland, wo eine ganze Generation von Musiker*innen in derselben Zwickmühle steckte, aus dem Stehgreif ihren eigenen Sound erfinden zu müssen. Sie taten das aber mit Bravour, insbesondere die Band CAN mit dem Japaner Damo Suzuki am Mikro, Irmin Schmidt an den Synthies, Jaki Liebezeit am Drumkit, Holger Czukay am Bass und Michael Karoli an der Gitarre und Violine.

CAN werden der Krautrock-Bewegung zugeordnet, doch bei einer Band wie dieser verfehlt jede Genrezuschreibung ihren Kern. CAN waren CAN, und zogen damit auch Japan in ihren Bann – schon von früh auf an. Da verwundert es auch kaum, dass Sylvian beispielsweise später mit Czukay und dem Ausnahmeschlagzeuger Liebezeit zueinander fand, mit ihnen Musik aufnahm von viel von ihnen lernte, obwohl er selbst schon eine Größe für sich war. Selbst heute flüstert CANs Musik noch mit magischer Kraft von den Future Days und was von ihnen zu erwarten ist…


8. Tea Picking Dance – Ancient Chinese Music

Ob sich Sylvian, Jansen, Barbieri und Karn bewusst sind, dass manche ihr Album Tin Drum für eine Art Future Days der frühen Achtziger halten? Als die Band mit Ghosts den vermutlich unwahrscheinlichsten Hit der Pop-Geschichte landeten und damit sogar bei der Chart-Show Top of the Pops auftraten, verstand ein Teil des Publikums die Welt nicht mehr. Plötzlich waren die „No Future“-Rufe vergessen und es hieß stattdessen dieser Band zuzuhören, die alle Konventionen über den Haufen warfen. Und nebenbei gesagt noch unfassbar gut dabei klangen. Nur eben ein bisschen sonderlich, fremdartig. Als „artifiziellen Ethno-Funk“ beschrieb der Kulturtheoretiker Mark Fisher das Album.

Doch handelte es sich bei den Ethno-Elementen, die Japan verwendeten, häufig um Finten. Anders als der Name vermuten ließ, bezog sich insbesondere Tin Drum nämlich aus klassischen chinesischen und nicht japanischen Motiven. Insbesondere in den sachten Klängen von Ghosts, die gleichermaßen perkussiv wie melodisch scheinen, deutet sich eine Faszination für die Klangfarbe klassischer Instrumente wie der zitherähnlichen Guzheng an, die im Japanischen in ähnlicher Form als Koto bekannt ist. Doch wie schon das Gesicht von Mao Zedong auf dem Cover von Tin Drum andeutete: die transkulturelle Zukunft, die Japan präsentierten, orientierte sich überwiegend in Richtung China.


9. Donna Summer – I Feel Love (12” Version)

Andererseits ist es schon schwierig, überhaupt aus Japans Einflüssen und ihrer Musik schlau zu werden. So voll von überraschenden Referenzen und Querverweisen ist diese, so wenig scheinen einzelne Alben der Band miteinander zu tun zu haben. Im Japan-Universum nämlich bedeutete es offenkundig keinen Stilbruch, auch mal Marvin Gaye zu covern – obwohl die Ain‘t That Peculiar-Interpretation der Truppe vom Album Gentlemen Take Polaroids nun wirklich nicht viel mit dem Motown-Smashhit gemein hat. Und dass sie noch ein Jahr zuvor mit einer der Eurodisco-Legenden schlechthin gearbeitet hatten… Wie passt das eigentlich ins Bild?

Sehr gut tut es das! Wer jemals Life in Tokyo von Quiet Life aus dem Jahr 1979 gehört hat, wird darin unbedingt die Handschrift eines Giorgio Moroders erkennen, der als Co-Produzent im Studio saß. Genauer erinnern die nervösen Arpeggien, die unbeirrt durch den Mix schwirren, mehr als deutlich an I Feel Love, Moroders Hit-Single von 1977 mit Donna Summer hinter dem Mikrofon. Dass Life in Tokyo auch im clubfreundlichen 12“-Format als Extended-Version erschien, bewies nur einmal mehr, dass Japan sich ebenso auf dem Dancefloor wohl fühlten oder zumindest dorthin wollten. Nur schade eigentlich, dass Moroder ihnen kaum mehr als einen müden Abklatsch seines unsterblichen Hits auftischte…


10. Rufige Kru – Ghosts of My Life

Aber was soll‘s! Denn schließlich hatten Japan, die sich nur kurzfristig 1991 als Rain Tree Cow wieder zusammen fanden, selbst nach ihrer Auflösung 1982 noch genug Einfluss auf das musikalische Treiben der Pop-, Rock- und Dance-Welt. Barbieri ist heute als Keyboarder der Prog-Band Porcupine Tree bekannt, Sylvian als Solo-Künstler umtriebig, Karn arbeitete unter anderem mit Kate Bush und Jansen mit seinem Idol Yukihiro Takahashi, derweil der frühzeitig ausgestiegene Dean nach Gelegenheitsjobs für Gary Numan und Sinéad O‘Connor mittlerweile als Vogelkundler Karriere macht. Ähm, wie? Ja, genau.

Dass die – pardon, Kalauer – Paradiesvögel von Japan ihren Abdruck auf der Musikwelt hinterlassen hatten, zeigte sich vor allem in den neunziger Jahren. Der so spartanisch komponierte Song Ghosts wurde gleich von zwei prägenden Projekten der Dance-Szene gesampelt: Bomb the Bass (in Winter in July) und Rufige Kru (in Ghosts of My Life), einem Pseudonym der Jungle-Goldie. Kaum vorzustellen, wie die heruntergepitchte Stimme Sylvians damals auf den Dancefloors der britischen Rave-Community eingeschlagen sein muss. Aber wie schon die musikalische DNA von Japan selbst beweist: Besondere Bands finden besondere Fans, die wiederum ihr ganz eigenes musikalisches Universum erschaffen. Das mag zuerst merkwürdig klingen, ist aber vor allem eins: bemerkenswert.


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