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Popkultur

Die musikalische DNA von R.E.M.

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1987 kürte das Magazin Rolling Stone R.E.M. als »Amerikas beste Rock’n’Roll-Band«. Dabei stimmt das doch eigentlich nicht: Mit muckerhaftem Rock’n’Roll hatte die 1980 gegründete Band aus Athens, Georgia doch wenig zu tun. Punk und Pop waren die Hauptkoordinaten der Gruppe, die damit den Grundstein für das legen sollten, was wir heute als Indie kennen. R.E.M. waren nie besonders laut, sie wurden aber gehört. Nicht nur intellektuelle Slacker wie Pavement, sondern auch junge Rebellen wie Nirvana nannten sie als Einfluss, mit Alben wie Automatic For The People feierten sie Welterfolge. Die 2011 aufgelösten R.E.M. waren also alles andere als eine typische Rock’n’Roll-Band. »Die sture Unorthodoxie der Gruppe sprach Kids an, die nicht dazu gehörten – die zu smart, zu unkonventionell, zu geeky, zu philosophisch, zu artsy waren«, schrieb Annie Zaleksi im Magazin Salon. Was den Sound dieser besonderen Band so besonders machte, erfahren wir mit Blick auf ihre musikalische DNA.


Höre dir hier unsere kuratierte Playlist an und lies weiter:


1. Patti Smith – So You Want To Be (A Rock’n’Roll Star)

Der Januar 1980 war nicht nur der erste Monat eines neuen Jahrzehnts, fast schien damit eine neue Zeitrechnung angebrochen zu sein. Der breitbeinige Sound der siebziger Jahre wurde schon vorher von Punk unterlaufen, kurz darauf wandten sich frische junge Bands den Synthesizern zu. An der Schwelle zum neuen Zeitalter trafen sich Michael Stipe und Peter Buck zwischen den Crates des Plattenladens Wuxtry Records in Athens, Georgia auf verschiedenen Seiten der Ladentheke. Buck verstand sich schnell bestens mit dem jungen Kunststudenten, der alle Platten aufkaufte, die der damalige Verkäufer für sich selbst reserviert hatte. Die waren von Television, The Velvet Underground und Patti Smith, der »Godmother of Punk«. 26 Jahre danach sollte Smith auf dem R.E.M.-Song E-Bow To The Letter zu hören sein und später ihren Gesang zum letzten Album der Band beisteuern. Im Januar 1980 aber wird vor allem der Song So You Want To Be (A Rock’n’Roll Star) von ihrem vierten Album Wave in der Luft gehangen haben. Stars wurden Stipe und Buck schon – Rock’n’Roll aber wurde dank ihnen erneuert.


2. The B52s – 52 Girls

Zuerst mussten die beiden sowieso Mitstreiter finden, was dem frischgebackenen Sänger Stipe am örtlichen College nicht schwer fiel: Mike Mills (Bass) und Bill Berry (Drums) komplettierten R.E.M. bald. Das Quartett musste sich nun nur noch auf die Suche nach einem eigenen Sound machen. Gar nicht so leicht, denn ihre Heimatstadt Athens konnte mit einer virilen Musikszene aufwarten, die etwa vier Jahre zuvor The B52s hervorgebracht hatte. Auch wenn sich deren Sound noch am ehesten aus dem klassischen Rock’n’Roll bezog und sich die vier Mitglieder der Band durch eine Exaltiertheit auszeichnete, gegen welche die frühen R.E.M. fast verschüchtert wirkten: Beide Bands teilten nicht nur die Herkunft, sondern scherten sich ähnlich wenig um das Männlichkeitsbild der vorangegangenen Generation. Die B52s ließen schon auf ihrem ersten Release einen Lobgesang auf die »girls of the USA« erklingen. Katie Pierson von den B52s übrigens war auf dem Mega-Hit Shiny Happy People vom Album Out Of Time zu hören. Ihre Wurzeln vergaßen R.E.M. selbst dann nicht, als sie schon internationale Stars waren.


3. The Rolling Stones – Under My Thumb

Bevor sie allerdings zu solchen wurden, veröffentlichten R.E.M. erst die Single Free Radio Europe, die zu ihrer Überraschung ein voller Erfolg wurde. Ganz klar: Dem musste ein Album folgen! Die erste LP erschien 1983 in Form von Murmur, benannt nach einem der sechs Worte in der englischen Sprache, welches am einfachsten auszusprechen ist – sagte damals zumindest Michael Stipe, der allerdings hin und wieder in Sachen Lyrics Widersprüchliches von sich gab. Ergaben seine Texte nun Sinn – oder reihte der charismatische Sänger schlicht Worte aneinander, wie er selbst oft in Interviews behauptete? Wir haben da eine Vermutung, sicher aber sind wir uns zumindest darüber, dass Murmur sich die Rolling Stones zum Vorbild nahm. »Der Gedanke war, eine Platte ohne Platzhalter zu machen«, sagte Peter Buck damals gegenüber dem Guardian. »So wie Aftermath von den Stones, wo jeder Song anders ist und trotzdem alles nach einer Teamleistung klingt.« Mission erfüllt, oder? R.E.M. legten schließlich auch eine ähnliche Experimentierfreude an den Tag wie die Stones, die etwa auf Under My Thumb eine Marimba einsetzten. Ein ähnlich ungewöhnliches Instrument im Rock-Universum spielte auch auf einem von R.E.M.s größten Hits die Hauptrolle: die Mandoline in Losing My Religion.


4. Wire – Strange

Die Stones waren nicht die einzige britische Band, welche R.E.M. in ihren Anfangstagen beeinflussten. Tatsächlich war es für die Band sogar leichter, in Großbritannien Fuß zu fassen: Nach Ende der neunziger Jahre zeigten die USA kaum noch Interesse an R.E.M., während die Verkäufe im UK stabil blieben. Dort war das Publikum ja aber auch an ebenso knackigen wie melodiösen Post-Punk von etwa Wire gewöhnt, die kurz nach dem Punk-Jahr 1977 dem Erbe der Sex Pistols ein bisschen mehr technisches Können und mitsingbare Refrains schenkten. Wire werden gemeinhin als einer der Haupteinflüsse von R.E.M. gezählt. Den Song »Strange« von Wires Durchbruchsalbum Pink Flag coverten R.E.M. auf Document. Zwischen all den Originalen – unter anderem dem Hit It’s The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine) – fügte sich das Stück aber bestens ein.


5. Nick Drake – Northern Sky

Nicht, dass es R.E.M. in England immer besonders gut gegangen wäre. Als sie dort im Jahr 1985 ihr drittes Album Fables Of Reconstruction aufnahmen, hatten sie mit einigen Problemen zu kämpfen – allem voran natürlich mit dem britischen Essen und dem grausigen Klima. Ein Konzeptalbum über den US-amerikanischen Süden, das im Londoner Winter aufgenommen wurde? Kein Wunder, dass es nicht so richtig laufen wollte. Selbst schuld, denn die Band wollte unbedingt ihren Sound verändern und holte sich dafür auch den Produzenten Joe Boyd ins Boot. Der wiederum hatte zuvor überwiegend mit britischen Folk-Acts zusammengearbeitet, unter anderem Fairport Convention und niemand Geringerem als Nick Drake. Boyd hatte dessen legendäres Album Bryter Layter produziert, welches viel zu spät von der Weltöffentlichkeit bemerkt wurde. Obwohl R.E.M. ihre ganz eigenen Problemchen unter dem Northern Sky hatten, ihr musikalisches Feingefühl hatte sie nicht verlassen. Fables Of Reconstruction markierte einen Kurswechsel im Sound der Band, die von nun an mit mehr Instrumenten und reichhaltigen Arrangements experimente. Mehr Erfolg als Drake konnten sie übrigens ebenso verzeichnen: In den heimischen USA erreichte die Platte Gold-Status.


6. Big Star – Thirteen

À propos: Das einfühlsame und doch energische Gitarrenspiel von Peter Buck lässt sich auf viele Einflüsse zurückführen. Chuck Berry oder Country- und Folk-Artists nannte der Musiker selbst; oft wurde ihm auch attestiert, sich an den Byrds zu orientieren. Das allerdings stimmt nicht so ganz, wie er schon am Anfang seiner Karriere betonte. »Ich höre mir wohl häufiger die Musik von Leuten an, die von den Byrds gestohlen haben, als ich die Byrds höre«, hieß es trocken. Eine der Bands, die sich deutlich am melodischen Sound von Roger McGuinns zwölfsaitiger Gitarre orientierten, waren Big Star aus Memphis, Tennessee. »Rock’n’Roll is here to stay«, heißt es im Song Thirteen von ihrem Debütalbum #1 Record – dabei klangen sie doch viel sanfter als die Rock-Bands ihrer Tage. Die getragene Melancholie von Big Star hallt in R.E.M.-Songs wie »Everybody Hurts« oder »Nightswimming« wider, aber auch in den gitarrenlastigen Stücken ist der Einfluss von Big Star merklich.


7. New York Dolls – Personality Crisis

Was R.E.M. zu ihrer noch mehr von den vorangegangenen Rock-Bands unterschied als ihr Sound allein war die Tatsache, dass diese Band in 31 Jahren ohne Skandale auskam. Keine zerstörten Hotelzimmer, keine Groupies, keine öffentlichen Zankereien. Selbst als Drummer Bill Berry nach 17 Jahren die Band verließ, geschah dies in aller Freundschaft. Er musste die verbliebenen drei Mitglieder geradezu dazu zwingen, als R.E.M. weiterzumachen! Hin und wieder setzte sich Berry, der seine Entscheidung zwei Jahre nach einem Zusammenbruch auf der Bühne in Folge eines Hirnaneurysmas traf, doch wieder hinter das Drumkit seiner alten Band. So auch, als sie 2007 in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen wurden. Sie wollten bei Gründung von R.E.M. immer schon mal in New York spielen, erinnerte sich Michael Stipe in seiner Dankesrede. »Ich denke, heute Abend haben wir das geschafft!«. Eine Band, die der Stadt mit ihrem Namen Tribut zollte, war ein maßgeblicher Einfluss für R.E.M.: Mit ihrem Song Crush With Eyeliner zollten sie den New York Dolls Tribut, welche mit ihrer Mischung aus Glam Rock-Attitüde und (Proto-)Punk-Energie insbesondere für die Rhythmussektion – bestehend aus Mike Mills am Bass und Drummer Berry – den Takt vorgab.


8. The Velvet Underground – Pale Blue Eyes

Auf eine andere New Yorker Legende konnten sich bei R.E.M. alle einigen: The Velvet Underground waren ein musikalischer Eckpfeiler in der Bandsozialisierung. Die Mischung aus dröhnender Repetition, Pop-affinem Songwriting und den Lyrics von Lou Reed (und Nico!) war schließlich nicht nur Ende der sechziger Jahre bahnbrechend, sondern wirkte noch lange nach. R.E.M. coverten das Stück Pale Blue Eyes von The Velvet Undergrounds selbstbetiteltem Album. Derweil die Verbindung zwischen beiden Bands recht eindeutig scheint, beklagte sich R.E.M. während seiner Karriere darüber, dass sie nie auf die musikalische Geistesverwandtschaft angesprochen worden sein. »Niemand vergleicht uns mit Velvet Underground«, sagte er in einem Interview. »Ich denke aber, dass wir ziemlich nach den Velvets klingen – nicht wie etwa Dream Syndicate [ein frühes experimentelles Projekt von John Cale, Anm. d. Red.], aber meine Gitarrenparts sind sehr velvetig – droneig und doch melodisch.« Der Song blieb übrigens nicht der einzige, den R.E.M. von The Velvet Underground coverten. Was übrigens Lou Reed so sehr freute, dass er Michael Stipe regelmäßig dafür dankte. Dabei hat der doch gerade als Texter viel von Reed und seiner Band gelernt!


9. Wanda Jackson – Funnel Of Love

Wo wir schon bei Traditionslinien sind, die im Klang von R.E.M. ständig übersehen wurden: Michael Stipe zeigte sich pikiert, dass ein anderer Einfluss völlig unterschätzt wurde. »Niemand ist je auf unser Country-Ding eingegangen«, sagte er in einem Interview. »Dabei ist mein Gesang von Country-Sängern, vor allem aber Frauen beeinflusst: Patsy Cline, Skeeter Davis, Kitty Wells, Wanda Jackson.« Dabei überrascht vor allem die Nennung von Wanda Jackson, deren berühmtester Song neben Let’s Have A Party wohl Funnel Of Love ist, ein treibender und fast psychedelischer Song mit viel Blues im Blut. Was aber Jacksons durchdringende Stimme mit dem fragilen Gesang Stipes zu tun hat? Vielleicht hat er bei der – mittlerweile wieder hyperaktiven – Jackson gelernt, dass Charakter vor Schönheit geht. Stipes markantes Zittern, sein fast kieksender Ton – wie viel ärmer würden R.E.M. doch ohne diese Besonderheiten klingen! Mit Stipes Stimme hielt eine Verletzlichkeit in die Rock-Musik Einzug, die dort dringend vonnöten war. Dank dafür gilt der Queen of Rockabilly Wanda Jackson!


10. Radiohead – No Surprises

Diese Verletzlichkeit war es auch, die vielen nachfolgenden Bands den Mut gab, sich ähnlich offen auf der Bühne zu präsentieren. In den USA waren das etwa Nirvana – vor seinem Suizid plante Kurt Cobain eine Kollaboration mit Michael Stipe! – und im UK Radiohead, die 1996 von der Band als Support für die Tour zum Album Monster ausgewählt wurden. Eine große Ehre für Radiohead, aber auch ein wichtiger Schritt in ihrer Karriere – und eine maßgebliche Inspiration für Sänger Thom Yorke. »Wenn ich ‘Finest Worksong’ höre, fühle ich mich, als wäre ich drei Meter groß und könnte alles plattwalzen, was mir in den Weg kommt«, notierte er während der Tour in seinem Tagebuch. »Im Umkleideraum (eigentlich eine Toilette) spiele ich allen einen neuen Song vor. Er heißt No Surprises Please.« Der Song war eines der Herzstücke auf Radioheads unsterblichem Album OK Computer, mit dem die Band für den von R.E.M. geprägten Indie-Rock das tat, was diese zuvor für den Rock bedeuteten: Sie warfen alle Konventionen über den Haufen. Nicht nur der Wille zur musikalischen Grenzüberschreitung jedoch, sondern auch das politische Engagement R.E.M.s lebt in der britischen Band weiter.


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