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Popkultur

Say It Loud: Wie Musik unsere Gesellschaft verändert

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Obwohl sie oft nur drei, vier Minuten lang sind, können Songs wahnsinnig viel bewegen. Sie können Trost spenden und inspirieren, bekräftigen und aufklären – und noch so viel mehr. Einer der Gründe dafür ist wohl, dass es nun einmal Menschen sind, die sie komponiert und aufgenommen haben, Menschen mit Gefühlen und Fehlern und allem, was dazugehört. Auf Papier funktionieren Songtexte daher in der Regel nicht so gut. Verpackt als Songs jedoch halten sie der Welt nicht nur den Spiegel vor, denn sie haben auch immer wieder die Dinge ins Rollen gebracht und gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst. Mehr noch als jede andere Kunstform.

von Jamie Atkins

Schaut man weit zurück in die Geschichte, so wurden Songs damals vor allem selbst gesungen, denn mit ihnen wurden Inhalte und Anekdoten weitergereicht von einer Generation zur nächsten: Mündlich überlieferte Geschichte, Oral History. Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch wurde die Welt durch zahlreiche Erfindungen plötzlich in sehr kurzer Zeit sehr viel kleiner, und auch die Songs, die in dieser verkleinerten Welt entstanden, konnten sehr viel schneller von einem Ort zum anderen transportiert werden.

Aufnahmetechniken, Tonbänder, schließlich die Schallplatte – Erfindungen, die alles in der Musikwelt verändern sollten. Hatte man zuvor noch in der Nähe einer Oper leben (und dazu über die nötigen Mittel verfügen) müssen, um bewegende, relevante Performances zu hören, so war plötzlich dem Austausch von Stilen und Sounds keine Grenze mehr gesetzt. Der Blues z.B.: Vorher in seiner Reinform nur in den USA zu hören, konnte er nun überall aus den Boxen kommen. Horizonte wurden erweitert, Genres und Stile im- und exportiert, existierende Ideen hinterfragt. Und meistens ging es in den Songs um Aspekte des Lebens, die in den regulären Nachrichten keinen Platz hatten.

„Startschuss für die Bürgerrechtsbewegung“

Ein perfektes Beispiel für die welt- und gesellschaftsverändernde Kraft der Musik ist Billie Holidays Version von Strange Fruit (geschrieben von Abel Meeropol) aus dem Jahr 1939: Nicht ohne Grund bezeichnete Ahmet Ertegun, der Produzent und Mitbegründer von Atlantic Records, das Stück hinterher als „Startschuss für das Civil Rights Movement“. Rassendiskriminierung und -trennung waren in der US-Musiklandschaft zuvor noch nie ein Thema gewesen. Dabei war dieser Rassismus, diese Trennung auch hier zu spüren (z.B. in Konzerthallen). Berühmte schwarze Musiker wie Louis Armstrong wurden derweil als „Uncle Toms“ bezeichnet – sie würden ja doch nur für die Weißen spielen, um mehr Geld zu bekommen.

Die erste Konzerthalle, an der die Trennung abgeschafft wurde, war der New Yorker Jazzclub Café Society. Der damalige Inhaber Barney Joseph wollte Gleichbehandlung – im Publikum und auf der Bühne. Doch als er dann Billie Holiday für einen Auftritt ins Café holte, hatte die Angst vor den Reaktionen auf Strange Fruit: Immerhin war der Song von einer Postkarte inspiriert, auf der Schwarze an Lynchseilen hingen. „Zuerst klatschte auch niemand“, erzählte sie später in ihrer Autobiografie. „Bis dann doch einer anfing – und plötzlich der ganze Saal mitklatschte.“

Holidays Version von Strange Fruit sollte sich daraufhin nicht nur millionenfach verkaufen, denn viel wichtiger war, wie viel der Song in den Köpfen der Menschen bewegt hat. Ausschlaggebend war dabei wohl auch, wie krass die besagte Lynchszene im Text geschildert wird. Die dadurch ausgelösten Gefühle brachten viele Menschen dazu, wenig später gemeinsam mit Martin Luther King, Jr. zu marschieren… genau wie deren Enkel, die in jüngster Vergangenheit bei Black Lives Matter dabei waren.

Grenzen einreißen

Immer wieder waren es Musiker, die ihr Publikum zum Nach- und Umdenken brachten: Benny Goodmans Auftritt in der New Yorker Carnegie Hall im Januar 1938 ist ein weiterer wichtiger Meilenstein, denn es war das erste Jazzkonzert in der legendären Konzerthalle, bei der echter, improvisierter, „schwarzer“ Jazz gespielt wurde – und nicht die aufgeräumte „europäische“ Variante. Das Publikum rastete aus.

Während sich die Gesetzeslage im US-Süden erst im Jahr 1964 ändern sollte, war in Musikerkreisen schon davor oftmals Schluss mit Rassentrennung & Co.: Der Charakter eines Musikers war entscheidend, von seinem Können natürlich ganz zu schweigen. Dave Brubeck widersetzte sich in den Fünfzigern wiederholt den Vorgaben der Konzertveranstalter, die von ihm verlangten, seinen farbigen Bassisten Eugene Wright auszutauschen. Während Brubeck die Sache publik machte und sich zudem weigerte, vor segregiertem Publikum aufzutreten, bestanden die legendären MG’s (Booker T & The MG’s), die u.a. auch Otis Redding, Wilson Pickett, Sam & Dave und Carla Thomas unterstützten, genau genommen bereits aus schwarzen und weißen Mitgliedern.

Man muss sich das mal vorstellen: Beim 1957 in Memphis gegründeten Kult-Label Stax beheimatet, hatten die Musiker von Booker T & The MG’s zuvor Schulen besucht, an denen Rassentrennung ganz normal war. Und als dann 1962 ihr Song Green Onions durch die Decke ging, war es ihnen noch immer untersagt, in Memphis in einem Restaurant am selben Tisch zu sitzen! Noch ein bisschen später waren es Sly And The Family Stone, bei denen rassen- und geschlechterübergreifend Musik gemacht wurde – auch deshalb kam ihre Gleichberechtigungshymne Everyday People so unfassbar gut an.

Plötzlich sieht die Welt ganz anders aus

Der Fernseher sorgte schließlich dafür, dass Popsongs noch mehr Menschen erreichen und noch mehr in den Köpfen verändern konnten. Die Musiker auch zu sehen und nicht bloß zu hören, das faszinierte das Publikum von Anfang an. Man denke z.B. an die Sendung von Dusty Springfield in der britischen BBC: Springfield wusste genau, wie viel sie jener Musik zu verdanken hatte, die ursprünglich von Schwarzen gemacht wurde, und so bestand sie denn auch darauf, Schwarze in ihrer Sendung zu präsentieren. Ein mutiges Statement in jenen Tagen, besonders wenn man bedenkt, dass Dusty ein absolutes Mainstream-Programm war im britischen Fernsehen.

In den Staaten war derweil Motown ein weiteres Label, dessen Katalog zum Umdenken bewegte – auch im TV: Oprah Winfrey hat wiederholt davon gesprochen, was für ein einschneidendes Erlebnis der TV-Auftritt von The Supremes (in der Ed Sullivan Show) für sie war; genau genommen habe sie kaum etwas davon gesehen, weil sie die ganze Zeit am Telefon hing, um Freunden von „den Schwarzen im Fernsehen“ zu berichten. Ähnlich umwerfend muss es für viele Gleichaltrige gewesen sein, die jungen Jackson 5 schon 1969 bei Ed Sullivan zu sehen: Michael Jackson wirkt zwar noch etwas schüchtern während er I Want You Back ankündigt – aber sobald sie loslegen, ist er 100% überzeugend, damals schon durch und durch ein Popstar.

Jacksons unglaubliche Tanzschritte, sein Selbstbewusstsein, seine Stimme reichen vollkommen: Auch ohne politische Message kann der damals 10-Jährige schlagartig alles verändern mit einem derartigen Song, einer derartigen TV-Performance. Für schwarze Kids, die diesen Auftritt zu sehen bekamen, gab es nämlich doch eine versteckte Message: Alles ist möglich. Und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus.

Verschaff dir Gehör

Viele Popsongs lösen direkt ein Gefühl aus, manche regen sogar zum Nachdenken über das eigene Leben an und prägen einen Menschen nachhaltig. Oft passiert das im (nicht unbedingt) stillen Kämmerlein: Allein zu Hause, unterwegs auf Kopfhörern etc. Doch selbst dieser vermeintlich abgesonderte Musikkonsum hat etwas Gemeinschaftliches: Ein Mensch, der von den Aufnahmen eines anderen Menschen berührt wird, ist nicht wirklich allein. Genau genommen ist es ein Kontakt, ein Transfer, der täglich millionenfach stattfindet – und der genau deshalb so viel verändern kann.

Kommen wir noch einmal zu Motown zurück, denn dieses Label aus Detroit war in vielerlei Hinsicht Vorreiter: Gegründet von Berry Gordy vor ziemlich genau 60 Jahren (das Jubiläum steht im Januar 2019 an), war Motown die erste Plattenfirma, die von einem Afroamerikaner geleitet wurde. Das allein wäre schon einen Eintrag in den Geschichtsbüchern wert, doch Motown sollte bekanntlich über Jahrzehnte hinweg die Popmusik prägen wie kein anderes Label – es war wirklich „The Sound Of Young America“, um schließlich auch der Sound der ganzen Welt zu sein. Wenige Jahre zuvor hätten die Leute wahrscheinlich nur mit dem Kopf geschüttelt, wenn man ihnen davon erzählt hätte…

Ausschlaggebend für den massiven Erfolg von Motown waren natürlich die Künstler und ihr Verständnis von Soul und Pop: Stevie Wonder, The Supremes, Marvin Gaye, Smokey Robinson, Jackson 5, Gladys Knight & The Pips, The Temptations etc. – die Liste ist lang, die Hits heute noch immer so ansteckend wie vor 50, 60 Jahren. Die zwei Minuten und 36 Sekunden, die Baby Love von The Supremes dauert, sind nicht viel Zeit, aber was so ein Song im Laufe der Jahre losgetreten und bewegt hat, ist kaum zu beziffern. Vielleicht war der Impact sogar größer als der von vielen Bürgerrechtskampagnen, die parallel dazu liefen.

Auch die Grenzen des Pop überschritten die Motown-Künstler immer wieder: Marvin Gayes Album What’s Going On, Stevie Wonders Innervisions, der Song Papa Was A Rolling Stone von The Temptations – das waren ganz klare Statements für mehr soziales Bewusstsein, Songs, die genauso von Black Pride inspiriert waren wie die Arbeiten von Curtis Mayfield, James Brown, Sly Stone und Isaac Hayes. Deren Aufnahmen wiederum bildeten das Fundament für Musiker wie Gil Scott-Heron und Funkadelic/Parliament, worauf bekanntlich der Siegeszug von Rap und Hip-Hop folgte. Bis hin zur Black Lives Matter-Bewegung, die genauso von aktuellen R&B- und Hip-Hop-Künstlern unterstützt wird wie umgekehrt, wenn die Musiker sich von den jüngsten Entwicklungen inspirieren lassen.

Auch in der aktuellen US-Musiklandschaft spielen Themen wie Rassismus und Diskriminierung häufig eine zentrale Rolle: Künstler und Künstlerinnen wie Kendrick Lamar und Solange, D’Angelo, Beyoncé, Blood Orange und Common, um nur eine kleine Auswahl zu nennen, bringen über zeitgenössischen Pop-, Hip-Hop- und R&B-Produktionen ganz klar ihre Sichtweise zum Ausdruck. Mal klingt das wie Kendricks The Blacker The Berry, dann wieder wie bei Solanges Don’t Touch My Hair. Kendricks Alright wurde sogar zur Hymne der Black Lives Matter-Bewegung:

Die Macht der Bilder spielt in Zeiten von YouTube & Co. natürlich eine immense Rolle: So war Beyoncés Lemonade-LP nicht nur eine Abhandlung (in Albumlänge) über das Leben einer schwarzen Frau in den USA, sondern auch die dazugehörigen Clips waren gespickt mit unmissverständlichen politischen Anspielungen. Im Clip zu Forward waren die Mütter von Trayvon Martin, Eric Garner und Michael Brown zu sehen, die Fotos von ihren verstorbenen Söhnen hochhalten; Formation hingegen rechnet knallhart mit Polizeigewalt ab und teilt dazu auch gegen die Verantwortlichen aus, die nach dem Hurricane Katrina nicht den Opfern (zumeist Farbige) geholfen haben.

Noch viel krasser ist dabei das relativ junge Video zu This Is America von Childish Gambino, in dem der Rapper nicht nur Waffengewalt thematisiert (und mit unzähligen Referenzen illustriert), sondern auch die Tendenz, wie Black Culture immer wieder vom Mainstream vereinnahmt wird. Entscheidend ist bei den Clips von Gambino, Beyoncé & Co. vor allem eine Sache: Es sind allesamt globale Hits. Millionenfach angeschaute Clips. Songs, die eine politische Message beinhalten – und damit ein riesiges Publikum erreichen. Auch die Videos machen die Musik zu einem Medium, das den Status quo beeinflussen und verändern kann wie kaum ein anderes.

„You Don’t Own Me“

Auch in Sachen Gleichberechtigung von Männern und Frauen hat die Musik vieles ins Rollen gebracht, obwohl manche Menschen es im Jahr 2018 noch immer beachtenswert finden, wenn Mädels eine Band gründen – und dann auch noch richtig gut spielen können… Die Liste der Songs, die sich für mehr Frauenrechte stark machen, ist ausgesprochen lang: Lesley Gores You Don’t Own Me aus dem Jahr 1963 ist ein frühes Beispiel, gefolgt von Arethas Respect, bis hin zu den Aufnahmen von Bands wie The Slits, Bikini Kill, Sleater-Kinney und Le Tigre oder auch den Popentwürfen von den Spice Girls und Destiny’s Child.

Wiederum waren es gar nicht mal erhobene Zeigefinger, sondern vielmehr Dinge wie die Purzelbäume der Spice Girls im Clip zu Wannabe, die etwas in den Köpfen verändern sollten: Das war eine greifbare Hymne über Freundschaft und Zusammenhalt unter Frauen, über Selbstbestimmung und gelebte Gleichberechtigung. Heute, gut 20 Jahre später, tun Künstlerinnen wie Lorde, Taylor Swift, Grimes und St. Vincent letztlich genau das: Sie treten selbstbewusst auf, nehmen kein Blatt vor den Kopf, überzeugen, indem sie es vormachen und Exempel statuieren.

Andere Länder, andere Baustellen

Gerade außerhalb der USA muss man natürlich auch den Einfluss von einer Band wie The Beatles erwähnen – und das nicht nur mit Blick auf die damaligen Frisurentrends und den Fan-Kult ganz allgemein. Lucy In The Sky With Diamonds veränderte das Verhältnis zu Drogen, andere Songs brachten esoterische Themen auf die Agenda, und überhaupt waren die Sechziger eine Ära, in der Traditionen mindestens hinterfragt, wenn nicht gleich über den Haufen geworfen wurden.

Dasselbe wollten etwas später auch die Vertreter der Punk-Bewegung, schlugen dabei aber bekanntlich einen ganz anderen Ton an. Auch wenn die Mainstream-Presse hart daran arbeitete, die Sache abzutun, war gerade der Do-It-Yourself-Spirit der Bewegung prägend für die gesamte Musikwelt: Man brauchte kein Label, ja, im Punk nicht mal besonders viel Talent, um selbst Stellung zu beziehen. Hauptsache, man machte überhaupt den Mund auf. Die Tatsache, dass Buzzcocks ihre erste EP Spiral Scratch in Eigenregie veröffentlichten, war so gesehen ein vielleicht wichtigeres Statement als die Musik selbst…

Rau und echt statt glatt poliert: Gitarrist Steve Diggle (links) und Schlagzeuger John Maher von den Buzzcocks, backstage im Marquee Club London 1977. Foto von Kevin Cummins/Getty Images

Grenzen ausradieren

Ungefähr zeitgleich tauchten auch immer mehr Songs auf, die sich für die Rechte von Schwulen und Lesben stark machten: Glad To Be Gay lautete der deutliche Titel eines 1978 veröffentlichten Songs von der Tom Robinson Band. Davor hatte es zwar schon Songs wie Tutti Frutti (von Little Richard) oder You’re The Top (von Cole Porter) gegeben – aber da war das Thema noch sehr viel verschleierter präsentiert worden. Deutlich provokantere Töne kamen in den Achtzigern schließlich auch im Mainstream an, als u.a. Prince und Madonna die Charts dominierten.

Bevor Frank Ocean zu einem der einflussreichsten Künstler unserer Zeit aufsteigen sollte, gehörte der R&B-Erneuerer als Mitglied von Odd Future in Rapper-Kreise – traditionell eher für homophobe Tendenzen bekannt. Doch parallel zur Veröffentlichung von Channel Orange schrieb er auf dem eigenen Tumblr über seine Bisexualität (und auch auf Blonde ging es inhaltlich immer wieder darum) – und beides stieß auf viel Akzeptanz rund um den Globus. Auch im Gender-Diskurs übernimmt die Musik wieder eine Vorreiterrolle, weil sie den Menschen in aller Welt die Gedanken und Gefühle anderer aufzeigt, alternative Sicht- und Denkweisen vermittelt. Mal klingt das wie bei Ahohni oder wie bei Christine & The Queens; dann wieder sind es Mainstream-Künstlerinnen wie Lady Gaga, die sich für mehr Toleranz, mehr Offenheit und Akzeptanz, für ein fluideres Selbst- und Weltbild starkmachen.

Auch sie wollen starre Denkmuster in den Köpfen aufbrechen und setzen dafür auf die Kraft der Musik: Denn genau dafür eignet sich das so griffige, so prägnante Songformat besser als jede andere Kunstform.

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