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Popkultur

So war’s: The Rolling Stones live in Hamburg

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Die Sonne scheint. Unglaublich. Nach tagelangem Dauerregen gleicht die große Festwiese im Stadtpark mehr einer Moorlandschaft als dem Ort einer Art heiligen Messe. Die Ankunft der Unsterblichen im Reich der Normalsterblichen droht also ganz weltlich ins Wasser zu fallen. Schietwetter eben. Hamburg halt. Doch dann, kurz bevor die Götter vom Rockolymp steigen, zeigt der Himmel ein wenig Ehrfurcht und bricht auf. Der Sonnenuntergang ist herrlich. Die Rolling Stones bitten zur Audienz.

Halleluja!


Wir haben die Setlist des Rolling Stones Konzerts Song für Song als Playlist nachgebaut – jetzt hier anhören, während du den Artikel liest:


Selbst Historiker streiten darüber, seit wann der unverwüstlichsten Live-Band bereits das Ende prophezeit wird. Die Abschiedstouren sind ja längst noch schwerer zu zählen als die Falten im Gesicht von Keith Richards. Doch jetzt steht er mit Mick Jagger, Charlie Watts, Ron Wood und einem halben Dutzend virtuoser Begleitmusiker auf der gewaltigsten Bühne Hamburgs, und eigentlich ist beim Deutschlandauftakt der europaweiten Tour namens „No Filter“ alles wie immer. Also grandios. Und zwar buchstäblich. Rund 80.000 Menschen sind ins grüne Herz der Hansestadt gepilgert, um die Steine endlich mal oder wieder und wieder und wieder rollen zu sehen. Sie haben dafür den Gegenwert eines Kurzurlaubs mit der Kleinfamilie bezahlt oder zumindest zweier Wocheneinkäufe im Bioloaden und schon die bloße Zahl der Sprachen und Dialekte im Publikum zeugt davon, dass vielfach noch einiges an Transferkosten hinzukommt. Aber bitte, rund 80.000 Menschen pilgern auch alle zwei Wochen aus aller Welt in die Fußballstadien von Dortmund oder Schalke und zahlen für ein mystisch aufgeladenes Erweckungserlebnis Höchstpreise.

LONDON, ENGLAND - JULY 06: (L-R) Charlie Watts, Mick Jagger and Keith Richards of The Rolling Stones performs live on stage during day two of British Summer Time Hyde Park presented by Barclaycard at Hyde Park on July 6, 2013 in London, England. (Photo by Simone Joyner/Getty Images)


Nur: dort weiß niemand ganz genau, was man denn kriegt für sein Geld. Hier weiß es jeder ganz genau. Nach dem zeitgenössisch aufgemotzten, aber nostalgischen Bluesrock der jungen Vorgruppe Kaleo aus Island nämlich knallen die Rolling Stones auf die Sekunde pünktlich um halb neun das Original aus den Boxenbergen in Kirchturmhöhe. „Sympathy for the Devil“ heißt der Opener. Und ohne Zeitverzug gerät die Menge so kollektiv ins Wogen, dass es selbst in der Komfortzone vorm Bühnenrand niemanden auf dem Klappstuhl hält. Das liegt natürlich am Track, den nicht wenige zum besten der Rockgeschichte erklären. Es hat gewiss auch mit dem herausragenden Sound zu tun, den ein Heer der besten Tontechniker bis auf die gut besuchte Picknickwiese vorm Eingangsbereich trägt. Und weil vier riesige LED-Wände das Ganze auch visuell bis zum hintersten Sitzplatz der zwölf Tribünen tragen, sorgen die vier Hauptründe der Völkerwanderung auch in 100 Metern unverzüglich für Verzückung.

Denn Mick Jagger springt von Minute eins an über die Bretter als sei er nicht 74, sondern – nun ja, ein ganzes Stück jünger. 293 Lenze bringt das Quartett 56 Jahre, nachdem sich das Gründungsduo auf einem englischen Bahnhof begegnet ist, on stage. Und wenn der Sänger ein Rock’n’Roller-Leben später in discoesker Glitzerjacke auf Deutsch brüllt, „es ist super, nach zehn Jahren wieder in Hamburg zu sein“, erweckt er nicht den Eindruck, zwischendurch spürbar gealtert zu sein.


Gut, das ist er natürlich schon, sie alle sind es. Weder Mick Jaggers Bewegungsdrang noch Ron Woods Strass-Sneaker, weder Keith Richards Coolness noch Charlie Watts Athletik können wirklich darüber hinwegtäuschen, dass die verbliebenen Langzeitmitglieder keine 40, 50, 60, ja bis auf Wood gar 70 mehr sind. Aber genau das ist nicht nur herzlich egal, sondern eines der Erfolgsgeheimnisse. Die Rolling Stones sind schließlich keinesfalls nur durch ihr Repertoire zu den Gottvätern im Rockolymp geworden. Schon als ihr selbstbetiteltes Debütalbum 1965 für den US-Markt in „England’s Newest Hit Makers“ umgetauft wurde, orientierte sich ihr Sound zu sehr am klassischen Blues, um dem innovativen Beat jener Jahre etwas grundlegend Neues, gar Revolutionäres hinzuzufügen. Nein, das Unvergleichliche der Rolling Stones zeigt sich bereits Sekunden nach dem Anpfiff auch im kühlen Hamburg wie eh und je. Es ist die unzerstörbare Innbrunst, mit der sie weit jenseits des Renteneintrittsalter ins Rampenlicht treten, besser: springen.

Sobald Mick, Keith, Ron und Charly die Massen, ihre Massen sehen, blühen sie spürbar auf. Gerade in der jüngeren Vergangenheit ist die Bühne weit mehr ihr Revier als das Studio. Wenn sie sich an diesem lauen Spätsommerabend also von „It’s Only Rock’n’Roll“ über „Out of Control“ bis „Under My Thumb“ durch ihre Hits wühlen, mag das für Spätgeborene ein bisschen zu klassisch klingen, um modern zu sein. Aber keiner der Stones erweckt je den Eindruck, aus irgendeiner Form von Pflichterfüllung zweieinhalb Stunden Vollgas zu geben.

INDIANAPOLIS, IN - JUL 04: Ronnie Wood of the Rolling Stones performs at the Indianapolis Motor Speedway on July 4, 2015 in Indianapolis, Indiana. (Photo by Michael Hickey/Getty Images)


Selbst „a couple of coversongs“, wie Mick Jagger zwei Stücke der jüngsten Platte ankündigt, mit der die Band mit antiquiertem Oldschool Blues ihren Vorbildern huldigt, schaffen es, das Publikum tief zu bewegen. Und das ist schlichtweg ein Rätsel, um nicht zu sagen: Wunder. Es wird ja gern gelästert über verwaschene Band-Shirts, die sich bei derlei Gigs bedenklich über Männerbäuchen spannen. Auch in Hamburg spannt – abgesehen von den drahtigen Hauptdarstellern auf der 1600-Quadratmeter-Bühne – so einiges. Aber das geht unter im Querschnitt einer Masse, die wirklich alle Bevölkerungsgruppen umfasst.

Eingefleischte Fans etwa wie den früheren Hells Angel Teja, der auf seinem 23. Stones-Konzert seit 1965 augenzwinkernd einräumt, nach seinem ersten in Schweden regelmäßig Beatles-Fans verdroschen zu haben, „diese Weicheier“. Oder Neulinge wie die Mittvierzigerin Uli, die sich den Schmerz der Beerdigung einer Freundin am Morgen weg tanzt. Und ein paar Stehplatzmeter Richtung des heillos überlasteten Bierstands erzählen Jonathan, Thea, Richard aus Köln, wie sie sich als Teenager vor drei Jahren auf der Berliner Waldbühne geschworen haben, hierzulande kein Konzert der Stones mehr zu verpassen. Und das, obwohl die Playlist seit Ewigkeiten allenfalls in Nuancen variiert? „Nicht obwohl“, entgegnet Thea lachend, fügt „genau deshalb!“ hinzu und schreit spitz auf, als die ersten Akkorde des uralten Evergreens „You Can’t Always Get What You Want“ über den Stehplatzbereich rauschen.


1969, der Song schoss damals gerade weltweit die Hitparaden empor, war selbst Theas Vater wohl nicht geboren. Fast 40 Jahre nun später verliert dessen Tochter allenfalls bei Keith Richards krächzendem Gesang eines eher unbekannten Solostücks kurz an jugendlicher Begeisterung. Die Fans wollen Hits, Hits, Hits. Und die Stones liefern. Von seltener gespielten Balladen wie „Play With Fire“ übers traurige Tour-Inventar „Paint It Black“ bis hin zum heiteren Dauerbrenner „Honky Tonk Women“ wirkt die Auswahl angesichts der schieren Masse zwar naturgemäß selektiv. Aber „Brown Sugar“ ist natürlich dennoch dabei und wird entsprechend bejubelt. Und gegen Ende liefert das hymnisch gedehnte „Gimme Shelter“ zur Diashow sozialer Bewegungen aus sechs Jahrzehnten sogar Gesellschaftspolitik im selbstreferenziellen Spaßbetrieb Bluesrock.

Wer den Stones staunend dabei zusieht, wie sie während „Satisfaction“ gut gelaunt, ja ausgelassen miteinander flachsen, der mag kaum glauben, wie oft sie die häufig missverstandene Konsumkritik schon gespielt haben. Tausendmal? Millionenfach? Egal! Die drei Veteranen vorm Schlagzeug wirken hingebungsvoll konzentriert als erlebe es hier die Premiere. Und als „Jumpin Jack Flash“ den Gig wenig später mit der zweiten Zugabe beendet, lächelt in seinem weißen Oberhemd überm durchgedrückten Rückgrat hinterm Schlagzeug sogar der Stoiker Charlie Watts. Vier Freunde auf gefühlter Abschiedstour, die wohl doch wieder keine sein wird: so und nicht anders haben es sich die 80.000 Jünger erhofft, so und nicht anders werden sie von ihren Göttern beschenkt. Und was immer Mick Jagger in zehn Jahren von der Bühne in Hamburg rufen wird – aller Voraussicht nach ist er auch 2027 ohne Unterhautfettgewebe, aber voller Lust am Live-Erlebnis.

LONDON - AUGUST 20: The Rolling Stones members Keith Richards and Ron Wood (L) perform on stage at Twickenham Stadium August 20, 2006 in London, England. (Photo by MJ Kim/Getty Images)


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