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Popkultur

Zeitsprung: Am 30.6.2000 passiert Schlimmes bei einer Pearl Jam-Show in Roskilde.

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Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 30.6.2000.

von Andrea Leim und Christof Leim

Sieben Bühnen, 74.000 Besucher – die 30. Ausgabe des Roskilde-Festivals im Jahr 2000 gehört zu den bis dato größten Open Airs in Europa. Als einer der Headliner der mehrtägigen Veranstaltung stehen Pearl Jam auf dem Programm. Als Eddie Vedder und seine Bandkollegen am 30. Juni gegen 22:30 Uhr mit ihrem Set beginnen, stehen schon um die 50.000 Menschen vor der Bühne. Es ist kalt und feucht, erst kurz zuvor hatte es in dem kleinen dänischen Dorf geregnet. Doch die Menge feiert und jubelt den Rockern zu. Das Konzert beginnt wie ein guter Konzertabend eben beginnt: mit guter Stimmung und jeder Menge Vorfreude.

Hört hier das damals aktuelle Album Binaural:

Doch etwa 45 Minuten nach dem Start ereignet sich eines der schlimmsten Unglücke der Geschichte von Musikfestivals: Der Moshpit wird zur tödlichen Falle. In der dicht gedrängten Menge kommen neun Männer zwischen 17 und 26 Jahren ums Leben. Ein Besucher erinnert sich später in einem beklemmenden Bericht des Rolling Stone: „Es war eh schon sehr eng und wurde mit der Zeit immer enger. Ich konnte meine Arme nicht mehr bewegen und hatte Todesangst. Dann habe ich gesehen, wie Menschen hinfallen.“

Entscheidende Minuten

Genau das kann das Sicherheitspersonal allerdings nicht sofort erkennen, weshalb es einige Zeit dauert, bis überhaupt eingegriffen wird. Danach vergehen noch einmal kostbare Minuten, bis die Band informiert wird. Später streiten sich Organisation und Band genau um diese Minuten, die möglicherweise Menschenleben hätten retten können. Denn als Eddie Vedder gegen 23:30 Uhr weiß, was vor sich geht, unterbricht er das Konzert sofort und bittet die Fans, drei Schritte zurückzugehen. „Was in den nächsten fünf Minuten passieren wird, hat mit Musik nichts zu tun“, wendet er sich an sein Publikum. „Aber es ist unglaublich wichtig. Stellt euch vor, ich bin einer eurer Freunde, und ihr müsst ein paar Schritte zurückgehen, um mir nicht weh zu tun. Eure Freunde sind hier vorne. Deshalb zähle ich jetzt bis drei und dann tretet ihr alle drei Schritte zurück. Wer einverstanden ist, sagt jetzt ‘Ja‘!“ Die Menge schreit Vedder ein „Ja“ entgegen, er zählt bis drei, und tatsächlich bewegen sich alle nach hinten. Vedder zählt noch einmal, und wieder weicht die Menge ein gutes Stück zurück, wie man in dieser dänischen TV-Dokumentation sehen kann:

Doch das Einschreiten des Pearl Jam-Frontmanns kommt zu spät. Acht Fans, darunter auch ein 26-jähriger Hamburger, können von den Sicherheitsleuten nur tot aus der Menge gezogen werden. 25 weitere kommen in ein Krankenhaus, einer von ihnen stirbt wenige Tage später, am 5. Juli, an seinen schweren Verletzungen.

Weitermachen oder abbrechen?

Pearl Jam spielen nach dem Unglück nicht mehr weiter, doch die Organisatoren des Festivals entschließen sich, die mehrtägige Musikveranstaltung nicht abzubrechen. „Wir sind nicht 150 Prozent sicher, dass diese Entscheidung besser als ein Abbruch ist, und wir wissen, dass wir kritisiert werden. Aber wir mussten uns entscheiden“, wird Festivalchef Leif Skov in den Medien zitiert. Nur zwölf Stunden nach der Tragödie beginnen am Samstagmittag also die nächsten Konzerte. Die Pet Shop Boys und Oasis sagen ihre Auftritte jedoch ab, die dänische Band D-A-D gedenkt den Opfern am Abend mit einer Schweigeminute.

Pearl Jam veröffentlichen schließlich ein Statement: „Es ist so schmerzhaft. Wir warten darauf, dass uns jemand aus diesem fürchterlichen Alptraum aufweckt. Worte können nicht ausdrücken, wie sehr wir mit den Familien und Hinterbliebenen dieser verlorenen wertvollen Seelen fühlen. Uns wurde noch nicht erklärt, wie es zu dem Unglück kommen konnte, es scheint aber unvorhersehbar gewesen und besorgniserregend schnell gegangen zu sein. Es macht alles einfach keinen Sinn. Wenn man bei einem Festival dieser Größe und mit soviel Erfahrung spielt, kann man sich nicht vorstellen, dass es zu einer solchen herzzerreißenden Tragödie kommen kann. Für uns wird nichts so sein wie vorher. Aber unser Schmerz ist mit dem der Familien, Freunde und Beteiligten nicht zu vergleichen. Es ist so tragisch. Wir sind sprachlos. Untröstlich, Pearl Jam“

Die Schuldfrage

Pearl sagen im Anschluss zwei geplante Shows in Belgien und Holland ab. Auf ihrer Homepage erheben sie später Vorwürfe gegen die Festivalveranwortlichen, weil sie auf der Bühne zu spät über die Probleme informiert wurden. Ein früherer Konzertabbruch, so heißt es in der Erklärung, hätte vielleicht Leben retten können. Außerdem sei eine ausreichende medizinische Versorgung nicht gewährleistet gewesen. Die Musiker kritisierten weiter, dass der Bühnenaufbau es unmöglich für sie machte, Probleme in den vorderen Reihen zu erkennen. Die Festivalleitung weist alle Vorwürfe zurück, beschuldigt ihrerseits aber die Band, das Publikum besonders angeheizt zu haben, so dass es überhaupt erst zu der Tragödie kommen konnte.

Verständlicherweise schwer und langanhaltend geschockt: Pearl Jam.

Das Unglück nimmt Eddie Vedder so stark mit, dass er sich ein ganzes Jahr lang zurückzieht. Allerdings schreibt er die Familien der Opfer an, und Gitarrist Stone Gossard kehrt 2003 nach Dänemark zurück, um sich mit fünf der sechs skandinavischen Familien zu treffen. Zu einem Elternpaar entwickelt sich eine Freundschaft, Gossard macht das Paar mit weiteren Bandmitglieder nbekannt und lädt sie seither immer zu Konzerten ein, wenn Pearl Jam in der Nähe spielen. Musikalisch setzen sich die Musiker ebenfalls mit dem Unglück auseinander: Auf dem 2003 veröffentlichten Album Riot Act handeln die beiden Songs I Am Mine und Love Boat Captain davon.

Genau zehn Jahre nach Roskilde tritt die Band in der Berliner Waldbühne auf. Vedder beginnt auf der Bühne zu weinen und bittet das Publikum um einen Moment der Stille in Gedenken an die Opfer.

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Zeitsprung: Am 8.1.1991 tötet sich ein Teenager selbst. Pearl Jam schreiben den Song “Jeremy” darüber.

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