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Popkultur

Zum Tod von Genesis P-Orridge: 7 unglaubliche Grenzgänger-Geschichten

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Foto: Denis O'Regan/Getty Images

Genesis P-Orridge ist tot. Warum das Gründungsmitglied von Throbbing Gristle und Psychic TV elektronische*r Pionier*in und Pop-Ikone gleichermaßen war, beweisen diese sieben Anekdoten aus einem Leben an der Grenze.

von Björn Springorum

Seinen/ihren 70. Geburtstag konnte Genesis Breyer P-Orridge gerade noch feiern. Vor wenigen Tagen verstarb die grenzgängerische Ikone, die stets darauf achtete, sowohl als Er als auch als Sie wahrgenommen zu werden, an Leukämie. Als Gründer*in der legendären Bands Throbbing Gristle und Psychic TV krempelte P-Orridge das Verständnis von Pop und elektronischer Musik radikal um. Das gefiel nicht allen und wurde zeitlebens nur von einem eingeschworenen Kreis an Verehrer*innen gefeiert; wie so oft wird der Tod das ändern. P-Orridge dürfte das kalt gelassen haben: Ihr/ihm ging es stets nur um das Ausloten neuer Grenzen. Egal, ob jetzt zehn oder 10.000 Menschen zuhörten.

Ode an Brian Jones

Das Œuvre von Genesis Breyer P-Orridge umfasst allein über 200 Langspieler. Der Großteil von ihnen verhielt sich kommerziell recht unauffällig, doch wenn sie/er wollte, dann war jederzeit auch ein Hit drin. Wie 1986, als P-Orridge mit Psychic TV Godstar veröffentlichte, eine Nummer über den rätselhaften Tod von Stones-Gitarrist Brian Jones. Der Song kletterte bis auf Rang 67 der UK-Charts und erregte unter anderem wegen dieser Zeile die Aufmerksamkeit des Stones-Managements: „They started to steal your glory – They never even told your story“ heißt es da. Grund genug für die Manager, den britischen Sender Radio One unter Druck zu setzen. Entweder man würde diese verwerfliche Nummer aus dem Programm nehmen oder nie wieder die Stones spielen dürfen. Man kann sich denken, wie der Sender reagierte.

Musik als Waffe

Den Löwenanteil ihrer Kreativität wendeten Throbbing Gristle und Psychic TV darauf auf, die Grenzen und Auswirkungen des Klangs mit sezierender Präzision zu erforschen. Auf dem Throbbing-Gristle-Debüt The Second Annual Report von 1977 machte man sich mit Synthesizern, Bandmaschinen und einer kruden Auswahl selbst gelöteter Geräte daran, die Folgen von Klang auf Körper und Geist zu erforschen. Kann Musik berauschen, wie es Drogen tun? Kann Musik verletzen? Man verschlang Bücher über klangliche Kriegsführung, Manipulation durch Geräusche und Trancezustände. Ob es ihnen gelungen ist, mit ihrer Musik das Bewusstsein zu verändern, muss aber letztlich jeder selbst herausfinden:

Eintrag im Guinness Buch

An seltsamen Ideen mangelte es Genesis Breyer P-Orridge und seinem/ihren losen Verbund an Künstler*innen nicht. Nach dem Ende von Throbbing Gristle 1981 konzentrierte er/sie sich auf Psychic TV und nahm in der Folge über 100 Platten auf. Sogar ein Eintrag im Guinness Buch für die meisten innerhalb eines Jahres veröffentlichten Werke gelang dem Projekt. 1986 begonnen, plante man, 23 Monate lang an jedem 23. eines Monats ein Live-Album aufzunehmen. Klappte nicht ganz, doch man kam immerhin auf 14 Scheiben in 18 Monaten.

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Sex auf der Bühne

Auch mit Cosey Fanni Tutti (aka Christine Carol Newby) erforschte Genesis Breyer P-Orridge immer wieder Grenzen. Beide waren auch mit der Künstlergruppe COUM Transmissions aktiv und forderten ihr Publikum immer wieder aufs Neue heraus. Kam also schon mal vor, dass die beiden Sex auf der Bühne hatten. Vor Publikum. Fanni Tutti behauptete vor einigen Jahren in ihrer Biografie, P-Orridge habe sich ihr gegenüber gewalttätig und manipulativ verhalten. Er/sie stritt die Vorwürfe stets ab.

Ehe

Als P-Orridge 1993 Jacqueline Breyer kennenlernte, die in einem New Yorker S&M-Schuppen arbeitete, änderte sich alles. Die beiden unterwarfen sich plastischer Chirurgie, um ihr Aussehen einander anzugleichen. Was 2003 mit identischen Brustimplantaten begann (am Valentinstag natürlich!), zog sich fort mit Eingriffen an Augen und Nase, Fettabsaugung und Hormontherapie. Fortan zogen sie sich absolut identische Klamotten an und vertraten die Ansicht, zu einer dritten Person verschmolzen zu sein. „Stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, wenn es keine ‚reinen‘ Männer mehr gebe … wenn Männer erst so aussehen wie jede/r andere auch, dann sind sie auch nicht mehr so aggressiv und territorial“, wird P-Orridge zu diesem „Pandrogeny“-Projekt in der Zeit zitiert. „Und stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, wenn Männer ihren Babys die Brust geben könnten! Warum soll nicht jeder einzelne Mensch alles haben können, das Weibliche und das Männliche, das Schwarze und das Weiße und so weiter? Warum soll man sich mit weniger zufrieden geben, als möglich ist?“

Throbbing Gristle

Genesis Breyer P-Orridge 2009 auf der Bühne mit Throbbing Gristle. Foto: Wendy Redfern/Redferns/Getty Images

Die explodierende Galaxie

Die Sechziger waren die Zeit der Kommunen. Natürlich auch in London, wo sich P-Orridge einer namens Exploding Galaxy im Norden der Stadt anschloss. Wo es anderen um neue Formen des menschlichen Zusammenlebens und einen umfassenden Freiheitsgedanken ging, war das der Exploding Galaxy noch viel zu kurz gegriffen. Hier ging es um nichts Geringeres als die Auflösung des Daseins. Das Ende der Menschlichkeit, wie wir sie kennen. Alle gab ihre Identität auf, schlüpften jeden Tag in eine neue Rolle. Es gab keine festen Tages- und Nachtzeiten, keine Privatsphäre, keine Tabus. Eh klar, dass sich eine*r wie Genesis Breyer P-Orridge da echt zuhause fühlte.

Einflüsse

P-Orridge ließ nichts aus, um mit den Figuren in Kontakt zu kommen, die eine gewisse Ausstrahlung auf sie/ihn ausübten. Ob es LSD-Papst Timothy Leary oder Beat-Legende William S. Borroughs war: P-Orridge setzte sich ein okkultistisch-psychedelisches Weltbild zusammen, garniert vom sexualmagischen Schaffen des Magiers Aleister Crowley. Seine/ihre erste Band Worm bestand noch aus Schulfreunden, nahm 1968 ein Album im Geiste eines John Cage auf und ließ davon nur eine einzige LP produzieren. Schon damals hörte man deutlich heraus, in welche Richtung P-Orridge später streben würde.

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