------------

Popkultur

30 Jahre „Erotica“: Madonnas lustvoller Aufklärungsunterricht

Published on

Madonna
Foto: Murray Close/Getty Images

Zehn Jahre nach ihrem Einschlag in die New Yorker Partyszene veröffentlicht Madonna ihr wolllüstiges Album Erotica. Das Konzeptalbum über Sex und Lust ist anfangs kein großer Erfolg; Heute wird es längst als wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Enttabuisierung von AIDS angesehen. Und ist auch für eine gewisse Beyoncé nicht ganz unwichtig…

von Björn Springorum

Hier könnt ihr euch Erotica von Madonna anhören:

1992 in New York City. Es ist mittlerweile zehn Jahre her, dass Madonna mit ihrer Debüt-Single Everybody für Aufsehen sorgen konnte. Ihr Debüt Madonna (1983) und vor allem der Nachfolger Like A Virgin (1984) machen sie innerhalb weniger Jahre zur wichtigsten Pop-Sängerin der Welt, zur Galionsfigur, die für die einen identitätsstiftendes Vorbild, für die anderen schiere Provokation ist. Darauf baut sie auch zu Beginn der neuen Dekade konsequent auf: Die Single Justify My Love kommt mit einem derart expliziten Video daher, dass es von MTV nicht gezeigt wird, ihr sehr freizügiger Dokufilm In Bed With Madonna wird im Handumdrehen zum Skandal – und zur erfolgreichsten Doku aller Zeiten. Mit anderen Worten: Madonna steht längst synonym für Sex sells.

Aus Harlems schummrigen Gassen

Und hört auf für ihr fünftes Studioalbum nicht damit auf. Exakt zehn Jahre nach ihrem Einstand gründet sie mit Maverick ihre eigene Firma, unter der sie Plattenfirma, Filmproduktion, Verlag und Merchandise-Abteilugn subsumiert. Sie hat nunmehr vollkommene Kontrolle über ihr künstlerisches Schaffen. Und weiß das für ihren nächsten Schlag zu nutzen: Im Frühjahr 1992 entstehen simultan ein Album und ein Buch, konzipiert als provokanter, skandalöser, sinnlicher Doppel-Release.

Das Album hört auf den Namen Erotica und spricht deutlich von ihrer neu gewonnenen Hoheit über ihren Output: Der Vorgänger Like A Prayer ist damals schon drei Jahre alt und soll keinesfalls wiederholt werden. Madonna will eine dreckigere, organischere Produktion, die in ihren eigenen Worten so klingen sollte, als wäre das Album in einer schummrigen Hintergasse in Harlem aufgenommen worden. Auch sonst hat sie sehr genaue Vorstellungen: Die Nummer Deeper And Deeper ist eigentlich schon fertig, als sie beschließt, dass sie ihr nicht gefällt. Die Lösung: Eine Flamenco-Gitarre in der Mitte des Songs, flankiert von rappelnden Kastagnetten. Das ist nur der Anfang: Mit Erotica tobt sich Madonna aus, wird zur Libertärin, die nicht mehr länger nur auf Dance-Hits schielt. Auch eine Beyoncé wird sich später daran orientieren.

Sex und toxische Beziehungen

Produzent Shep Pettibone ist wenig überzeugt von der kommerziellen Verwertbarkeit des Materials. „Ich sagte zu ihr: Das ist großartig, aber eine Nummer wie Vogue ist nicht dabei. Sie sagte bloß: Nicht jeder Song kann Vogue sein. Und wie gut etwas auch sein mag: Man kann nichts auf dieser Welt zweimal machen.“ Obwohl Madonna oftmals nicht im Studio ist, weil sie irgendwo einen Film dreht, entsteht im Sommer 1992 ihr persönlichstes und ambitioniertestes Album – ein Konzeptwerk über Sex, Liebe und Romantik, erzählt aus der Perspektive ihres Alter Egos Mistress Dita. Es geht um Oralsex und um Lust, aber auch um toxische Beziehungen und Eifersucht, oftmals verpackt in hintersinnige Wortspiele, um nicht auf dem Index zu landen.

Musikalisch flirrt das Album zwischen Dance, Disco, House und R&B hin und her, zeigt mit Balladen wie Rain aber auch mal die melancholische Seite der Madonna. Für die Hörerschaft ist das anfangs vielleicht ein wenig zu viel: Erotica geht erstmals seit ihrem Debüt nicht direkt auf die Eins in die US-Charts, ist in Ländern wie China sogar verboten.

Befreiungsschlag für marginalisierte Gruppen

Ist aber halb so wild: Nur einen Tag nach Erscheinen von Erotica erreicht auch ihr Buch Sex die Buchläden – eine pikante Sammlung von Geschichten und erotischen bis sadomasochistischen Fotografien von Madonna selbst. Der Aufschrei der Prüderie überschattet den Release von Erotica, doch zugleich wird Sex zum kommerziellen Phänomen: Allein in den USA verkauft sie 150.000 Bücher am ersten Tag und 500.000 nach nur einer Woche. Schneller und besser hat sich ein Coffee-Table-Buch noch nie verkauft.

Es zeigt, dass Madonna 1992 längst mehr war als „nur“ eine Sängerin. Sie ist eine Unternehmerin der sexuellen Freiheit, ein Gesamtkunstwerk, ein libertärer Leuchtturm gegen Unterdrückung, gegen Tabus und für mehr Toleranz. In einer Zeit, in der AIDS die Lust lähmt und die Gleichung Sex = Tod in den Köpfen vieler Menschen festsitzt, ist Erotica ein kühner Befreiungsschlag für marginalisierte Gruppen, ein trotziges Statement, dass Sex weiterhin Spaß machen darf – egal, wer da jetzt mit wem in die Kiste hüpft. Dafür kann man ihr gar nicht genug danken.

Du willst nichts mehr in der Rockwelt verpassen? Melde dich hier für unseren Newsletter an und werde regelmäßig von uns über die wichtigsten Neuigkeiten, die spannendsten Geschichten sowie die besten Veröffentlichungen und Aktionen informiert!

Zeitsprung: Am 21.10.1992 veröffentlicht Madonna ihr Buch „Sex“ — samt Skandal.

Don't Miss