Popkultur
Bill Kaulitz zum Jubiläum von „Durch den Monsun“: „Für uns gab’s nur Geradeaus“
Innerhalb eines Sommers änderte sich für Tokio Hotel alles: Am 15. August 2005 erschien ihre erste Single Durch den Monsun – von da an sollte das normale Leben vorbei sein für die vier Teenager aus der Nähe von Magdeburg. Der Song kletterte an die Spitze der deutschen Charts, eroberte in der englischen Version später auch Länder wie Griechenland, Belgien und die USA, das dazugehörige Album Schrei wurde über 1,5 Millionen mal verkauft.
von Christina Wenig
Schwelgt hier mit Schrei in Erinnerungen:
Tokio Hotel waren ein omnipräsentes Phänomen. MTV, Bravo & Co. zeigten die Band über Jahre bei jeder Gelegenheit, bei den Live-Auftritten der vier Jungs kam es zu Massenhysterien, die an die Beatlemania erinnern. Die Gruppe zog die Reißleine: Das Zwillingspaar Bill & Tom Kaulitz floh 2010 vor der ständigen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach Los Angeles, legte eine Pause ein, wurde erwachsen. Mittlerweile haben Tokio Hotel fünf Alben veröffentlicht und den Synthpop für sich entdeckt.
Im Interview erinnert sich Frontmann Bill Kaulitz – inzwischen auch als Solo-Künstler, Model und Moderator unterwegs – an seine musikalischen Anfänge, seine Vorbilder sowie die Höhe- und Tiefpunkte der Bandkarriere.
(Textversion des Interviews unter dem Video)
Bill, euer Durchbruch mit Durch den Monsun liegt jetzt 15 Jahre zurück. Wie fühlt sich das an?
Das ist krass. Irgendwie fühlt es sich auf eine Art an, als wäre es gestern erst gewesen. Ich denke mir: Wow, 15 Jahre, das ist die Hälfte meines Lebens. Auf der anderen Seite fühlt es sich aber auch so an – da denke ich mir: Das ist eine Ewigkeit her. Wir waren Kinder damals, das war unser allererstes Album und unser allererster Song. Ich verbinde damit viele schöne Erinnerungen, aber auf der anderen Seite fühlt es sich auch ein bisschen an wie ein anderes Leben. Es ist natürlich Vergangenheit und man hat die Connection nicht mehr zu seinem 15-jährigen Selbst. Ich guck da heute auch drauf wie ein Fremder auf eine Art. Aber es ist auch immer wieder schön, mal zurückzugucken. Ich nehme das jetzt tatsächlich zum Anlass mal zurückzuschauen, weil ich normalerweise niemand bin, der groß in Erinnerungen schwelgt; der sich hinsetzt und sentimental in die Vergangenheit guckt. Ich gucke, was kommt als nächstes. Mich interessiert eher, was morgen passiert, als was gestern war.
Du kommst aus einer ländlichen Gegend Sachsen-Anhalts, wo es keine Kunstszene gab. Wie bist du überhaupt mit Musik in Berührung gekommen?
Ich habe Nena auf einer Kassette von meiner Tante entdeckt, als ich sechs Jahre alt war. Wir haben alle zusammen in einer Wohnung gewohnt. Wir hatten keine Kohle, meine Eltern hatten sich getrennt, wir sind alle zusammen bei unseren Großeltern eingezogen. Ich habe dann diese Kassette entdeckt war in love, es war instant love bei Nena. Ich hab sie im Fernsehen gesehen bei Auftritten und Live-Konzerten und wollte ab dem Zeitpunkt genau das gleiche machen. Unser Stiefvater ist Musiker und hat uns eine Gitarre gegeben. Tom hat angefangen rumzuklimpern und sich das selber beizubringen. Wir haben sofort einen Song geschrieben und wollten auftreten und dachten, wir sind der coolste Scheiß. So hat das angefangen. Irgendwie war das unsere große Leidenschaft. Ich habe ab dem Moment nie wieder aufgehört, Songs zu schreiben und selber zu texten und hab ja auch relativ früh schon die ersten Songs von diesem ersten Album geschrieben. Auf unserem ersten Album, was dann kam, waren auch viele Sachen aus der Zeit, wo wir echt 7, 8, 9, 10 Jahre alt waren.
Mit 13 hast du bei der Castingshow Star Search mitgemacht, obwohl deine Mutter nicht an deinen Erfolg geglaubt hat und dich auch nicht zum Casting fahren wollte. Was war dein Antrieb, es trotzdem zu versuchen?
Ich habe irgendwie schon immer ein rebellisches Herz gehabt. Immer wenn mir jemand sagt „Du kannst das nicht“ oder „Du darfst das nicht“, dann will ich das unbedingt. Das hat immer bei mir im Herzen geschlummert. Ich hatte eigentlich gar keine richtige Wahl – ich hatte aus irgendeinem Grund, frag mich nicht warum, diesen Drive. Ich wollte das unbedingt machen und hab mich da auch nicht beirren lassen. Für mich war das das einzige, was mich interessiert hat und ich habe das auch überhaupt nicht infrage gestellt. Ich habe mir nie gedacht: Bist du vielleicht gar nicht so gut wie die anderen? Obwohl ich weiß, als ich dann zu dem Casting ging und die anderen hab singen hören, da habe ich dann auch ein bisschen gedacht: „Oh wow, so gut bin ich dann doch nicht.“ Aber ich habe mich da nicht von abbringen lassen. Ich dachte immer, wenn ich einmal die Chance habe, dann pack ich das irgendwie.
Komischerweise hatte ich so ein Selbstbewusstsein. Ich weiß nicht so richtig, woher. Ich glaube, das war aber auch eine Naivität. Wenn man so jung ist, dann traut man sich Sachen auch ganz anders. Ich gucke heute auf alte Auftritte und Sachen zurück, die man mit 15 gemacht hat, und man hatte einfach so eine innocence, sowas Unbefangenes. Wir waren noch in der Schule, wir hatten überhaupt nichts zu verlieren, für uns gab’s nur Geradeaus. Ich glaube, wenn man älter wird, fängt man eher an, Sachen infrage zu stellen und sich Sachen zu viel zu überlegen. Eigentlich ist es ganz schön, wenn man schafft, sich diese Naivität vom Anfang irgendwie zu bewahren. Aber das ist natürlich auch schwieriger, wenn das irgendwann dein Beruf wird, denn damit verändert sich ganz viel. Aber damals war das für mich einfach nur meine absolute Leidenschaft.
Du bist von Anfang an optisch sehr aufgefallen. War es dir bewusst oder gar wichtig, dass du anders warst als andere in deinem Alter?
Das hat sich auch so ein bisschen durch meine Kindheit gezogen. Ich habe immer das gemocht, was die anderen Jungs nicht mochten und hatte immer eher Freundinnen. Nena hat keiner gehört, das war überhaupt nicht angesagt. Irgendwie war ich schon immer der Außenseiter – wir beide, Tom und ich. Bis wir sechs Jahre alt waren, hat uns unsere Mama komplett gleich angezogen und dann hatten wir irgendwann auch das Bedürfnis, nicht nur die Zwillinge zu sein. Wir waren da schon so verschieden in unseren Interessen, aber trotzdem so verbunden, und beide auf ihr Extrem schon so anders, dass wir uns auch so extrem anders angezogen haben. Wir haben uns in so krass verschiedene Richtungen bewegt und auch musikalisch überhaupt nichts miteinander zu tun gehabt.
Tom hat HipHop geliebt und ich Deutschrock, aber auch viel Pop-Musik gehört. Dann kam irgendwann Britney Spears dazu, dann war ich riesen Britney-Spears-Fan. Auch so Sachen, die überhaupt keinen Sinn ergeben, wo andere sagen: „Das geht doch nicht, du kannst doch nicht Nena gut finden und dann Britney Spears hören!“ Ich habe mir immer meine Inspiration von überall genommen. Ich war ein riesen David-Bowie-Fan. Ich habe irgendwann Das Labyrinth entdeckt und dann wollte ich die Haare und Kostüme so haben. Ich fand Vampire ganz toll, hab dann angefangen, mich zu schminken und so. Ich habe mir das immer von überall zusammengesucht und ich glaube, daraus wurde dann so ein total weirder Look. Ich war mir darüber gar nicht so bewusst.
Was hast du in deinen Idolen wie Bowie oder auch Annie Lennox gesehen, das dich inspiriert hat?
Die hatten so eine Freiheit. Da, wo ich herkam, gab es keine Künstler, es gab keine Musikszene und es gab keine Kultur. Wir haben in einem 800-Seelen-Dorf gewohnt, außerhalb gab es die Kali-Berge und ansonsten gab es gar nichts. Die Träume reichten nur bis zur Kasse beim nächsten Supermarkt, das war halt die Aussicht. Das war schon trist und grau und ich wollte da unbedingt weg. Schon als kleiner Junge dachte ich: Ich bin hier irgendwo falsch abgebogen, ich gehör hier eigentlich nicht her. Ich wollte was anderes machen. Die haben für mich Freiheit symbolisiert. Die haben Musik gemacht, die gute Laune gemacht hat, die haben sich angezogen, wie sie wollten. Das war für mich die freie weite Welt.
Mit welchen Ambitionen habt ihr Tokio Hotel gestartet? Waren die Charts und Ruhm schon euer Ziel?
Wir haben natürlich geträumt als Kinder: Wie cool wäre das, wenn uns jemand nach einem Autogramm fragt? Oder wie cool wäre das, wenn wir mal irgendwo in der Zeitung sind? Wir haben unsere ersten Artikel ausgeschnitten und waren wahnsinnig stolz. Als wir dann Produzenten hatten und einen Plattendeal bekommen haben, war das für uns krass. Aber man kann sich das gar nicht vorstellen, das sind so Kinderträumereien. Ich weiß noch, vor den Sommerferien haben uns die Lehrer gefragt, was wir in den Ferien machen und wir meinten: „Wir gehen ins Studio und nehmen eine Platte auf!“ Und die so; „Ja genau, ist klar.“ Und wir: „Ja und wir drehen dann auch ein Musikvideo“, und dann meinten die: „Ja und das läuft dann auch auf MTV?“, und ich so: „Hoffentlich!“ Da haben sich alle drüber lustig gemacht, und so war es auch bei uns. Wir haben uns das erträumt und gewünscht, aber Erfolg kann man sowieso nicht planen. Das ist was, was einfach passiert. Dieses Ausmaß und was das dann auch wirklich bedeutet, das haben wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Das hat uns alle überrollt.
Als die Single einmal draußen war, ging alles unglaublich schnell für euch. Kriegt man das in dem Moment überhaupt verarbeitet?
Das passiert irgendwie einfach. Es kamen die Charts, die gab’s damals noch auf so großen Postern zum Auffalten. Vorher waren schon die Trendcharts gekommen, aber ich wusste auch gar nicht, was das alles heißt und bedeutet. Alle meinten schon „Wow, das sieht schon sehr gut aus“, aber keiner hat uns richtig Infos gegeben. Dann kamen die Charts raus und wir waren ganz aufgeregt und sind die von unten durchgegangen, und waren nirgendwo. Auf 1 wollte ich gar nicht gucken – und dann stand da dieser Song auf 1. Das war für uns so absurd, das war überhaupt nicht zu begreifen. Und von dem Moment lief das Video nonstop. Wir haben dann nur noch reagiert. Wir hatten ja keinen Manager im Hintergrund, der sich das ausgedacht hat oder irgendwelche Strategen, die das durchgeplant haben. Das haben ja viele gesagt: Die sind zusammengestellt und da war jemand ganz clever und hat den Nerv der Zeit getroffen. Klar haben wir den Nerv der Zeit getroffen, aber ich glaube, das war eben, weil wir das selber gemacht haben. Das war unser Song und unsere Musik, zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber das hat sich keiner ewig überlegt. Und wir haben alle nicht damit gerechnet. Weder die Leute, mit denen wir Musik gemacht haben, noch unsere Freunde oder Familien. Das war für uns alle so „Krass, was machen wir denn jetzt?“
War der Ruhm letztendlich so, wie ihr euch das vorgestellt habt?
Es ist sehr viel mehr Arbeit, als man sich das vorstellt. Wir haben auch nie angefangen mit dem Wunsch, berühmt zu werden. Berühmt werden ist eine coole Sache, die da dazu kommt, aber für uns ging es schon um die Leidenschaft an der Musik. Tom und ich haben einfach gerne in unserem Kinderzimmer gesessen und Musik gemacht. Wir haben unsere Songs selbst geschrieben, fanden das total geil und wollten damit auftreten. Mit einem Nummer-eins-Song anzufangen war natürlich ein Trip und hat am Anfang auch mega viel Spaß gemacht. Bis die Schattenseiten kommen und du realisierst, was mit deinem Leben passiert, ist das erstmal nur geil. Klar, wir waren vier Teenager, durften aus der Schule raus, mussten nicht mehr auf unsere Lehrer hören und durften mit einem Team durch ganz Deutschland touren und überall auftreten. Geiler kann’s nicht sein. Die ersten Jahre hatten wir den Spaß unseres Lebens.
Vor etwa zehn Jahren sind Tom und du dann nach L.A. geflüchtet, wo ihr noch immer lebt. Wie hat diese Stadt eure persönliche und künstlerische Entwicklung beeinflusst?
Ich glaube, L.A. hat uns gerettet in vielerlei Hinsicht. Privat auf jeden Fall, denn wir wussten überhaupt nicht mehr, wie es weitergeht. Tom und ich waren an dem Punkt, an dem wir bereit waren, alles hinzuschmeißen und zu sagen „Wir machen gar keine Musik mehr, wir wollen raus aus der Öffentlichkeit, wir wollen nichts mehr mit dem Musikbusiness zu tun haben“. Wir waren echt ausgebrannt und hatten keinen Bock mehr. Wir konnten den Bandnamen nicht mehr hören und uns selber nicht mehr sehen.
Wir sind dann erstmal ohne Überlegung da hingegangen und als es uns privat wieder besser ging und wir eine Welt entdeckt haben, in der wir wieder frei sein und das Leben für uns entdecken konnten als Erwachsene, da kam wieder dieser Instinkt und die Lust am Musikmachen – der Punkt, wo man merkt, wir können gar nicht nicht Musik machen. Ich könnte mir mein Leben einfach nicht vorstellen, ohne zu singen und auf der Bühne zu stehen. Es hat ja vier Jahre gedauert, bis wir wieder ein Album gemacht haben, aber dieser Urinstinkt kam dann wieder zurück. Unsere ganze Karriere und auch der Weg, wie wir damit umgehen und das verarbeiten, das hat alles eine ganz neue Balance gefunden und ich glaube, das haben wir alles L.A. zu verdanken. Und das hat uns natürlich auch musikalisch beeinflusst. Ich bin dann zum ersten Mal auf Festivals gegangen, hab mir andere Bands angehört, bin in Nachtclubs gewesen und hab getanzt – also am Leben teilgenommen. Das habe ich vorher nicht. Wir waren in so einer Bubble und so isoliert von der Welt, dass wir auch überhaupt keine Inspiration mehr hatten.
War es für euch schwierig, eure eigene künstlerische Stimme zu finden?
Total. Ich glaube, das ist etwas, was man im Laufe der Karriere auch erst entwickeln muss. Ganz schnell wollen natürlich tausend Leute mitreden. Du hast Produzenten, Songschreiber und so weiter, die dir auch oft das Gefühl geben, dein eigenes Material ist nicht gut genug, weil die sich alle in deine Projekte reinhieven wollen. Man entwickelt da eine Unsicherheit. Das meinte ich auch vorhin: Als wir jünger waren, dachte ich, das ist alles mega. Wenn dann eine Karriere da ist und man hat Sachen zu verlieren, entwickelt man Ängste und wird unsicher. Man muss an Erfolge anknüpfen, da ist ja auch ein Druck dahinter. Dann lässt man andere Leute rein und natürlich hier und da auch die falschen Leute. Da muss man ein Selbstbewusstsein wieder entwickeln irgendwann. Für uns war das auch der Prozess des Älterwerdens, dass wir gesagt haben, wir gehen ganz alleine ins Studio und machen mal wieder nur zu viert, oder auch Tom und ich, zusammen Musik, ohne dass da irgendjemand anders reinkommt. Das muss man dann aber auch durchziehen. Es ist natürlich nicht so gerne gesehen, dass Bands einfach alles alleine machen. Das war so ein Befreiungsschlag für uns.
Neben der Musik ist Mode für dich ein sehr wichtiges Thema. Was bedeutet Fashion als Ausdrucksform für dich?
Für mich war Tokio Hotel auch immer wahnsinnig visuell. Wir haben damit angefangen, Ideen für Videos und Looks zu haben. Ich habe in dem Monsun-Video meine Hose und meine Lederjacke selber zusammengenäht. Ich hatte halt damals keine Kohle, um mir geile Klamotten zu kaufen. Ich habe dann Vintage-Teile genommen und neue Sachen draus gemacht und hab auch selber entworfen. Mit Bowie und Prince, den ich auch super fand, kamen Mode und Performance immer zusammen. Wir waren nie Singer/Songwriter, die mal die Gitarre rausholen und die Jungs von nebenan sind. Unsere Live-Shows waren immer Shows. Ich wollte, dass die Leute rausgehen und sagen „Wow, sowas habe ich noch nie gesehen!“ Es war immer auch so ein bisschen Cirque du Soleil mit Musik.
Für mich gehörten das Visuelle, die Fotos, ein Album-Booklet, ein Cover und die Idee dahinter immer zusammen. Das war immer meine andere große Leidenschaft. Auch mit Fotografen zusammenzuarbeiten, die ich toll fand und in Magazinen zu sein, die ich toll fand. Ich habe als kleiner Junge die Vogue aufgefressen und dann irgendwann selbst in der Vogue zu sein, war ein anderer Traum, den ich mir erfüllen konnte. Darum bin ich froh, dass ich all diese Seiten als Sänger auch ausleben kann. Ich glaube, für Deutschland war das oft zu amerikanisch, die haben das nicht so verstanden. Aber ich habe das total geliebt, dass ich diese Narrenfreiheit habe als Sänger, das alles auszuprobieren. Da sind natürlich auch 10.000 Fehltritte dabei, aber das gehört eben dazu.
Wie schaust du denn auf euer altes Material zurück? Kannst du dich damit noch identifizieren?
Ich würde natürlich jetzt den Song niemals nochmal so schreiben. Ich würde mich nicht mehr so anziehen und so weiter. Aber das war zu der Zeit genau das, was ich machen wollte. Das war immer authentisch und das war immer echt. Darum verstehe ich, wo mein Geist damals war und warum ich das toll fand. Ich weiß, wo das herkam. Heute finde ich eben andere Sachen toll und die Musik hat sich natürlich verändert. Wir machen das so lange, wir stecken alle in ganz anderen Leben mittlerweile. Natürlich verändert sich das, aber wir spielen auch auf jeder Show noch Monsun. Wir haben jetzt so viele Alben gemacht und so viele verschiedene Songs – es ist auch schön, auf so eine lange Geschichte zurückzublicken. Ich liebe Veränderung und finde, das gehört dazu. Aus Angst machen viele Künstler ganz oft das Gleiche, weil sie denken, das funktioniert, das wollen die Leute hören. Es gehört ja auch Mut dazu, sich zu verändern. Für mich ist Stillstand der Tod und deswegen liebe ich diese Weiterentwicklung und auch zurückzuschauen und Dinge in einem neuen Gewand zu machen.
Wie sieht die Zukunft von Tokio Hotel aus?
Bei uns kommt jetzt ganz viel zusammen. Es sind tausende Geheimpläne, die ich noch gar nicht verraten darf, aber ab Oktober geht es bei uns wieder richtig los mit ganz vielen Projekten. Es kommen ganz viele Sachen mit Tokio Hotel, ganz viele Sachen, die ich auch alleine mache. Wir haben jetzt in der Corona-Zeit an so viel gleichzeitig gebastelt, dass das jetzt alles zusammenkommt. Wir sind auch wieder im Studio und es gibt neue Musik. Eine Tour ist auch geplant, aber natürlich nicht in diesem Jahr. Wir nehmen diese 15 Jahre also als Anlass zurückzuschauen und auch einen Neustart hinzulegen.

Popkultur
Zeitsprung: Am 1.4.2008 feuern Velvet Revolver ihren Sänger Scott Weiland.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 1.4.2008.
von Christof Leim
Das sah schon nach „Supergroup“ aus, was sich da 2002 zusammenbraute: Drei Musiker von Guns N’ Roses und der Sänger von den Stone Temple Pilots gründen Velvet Revolver. Doch sechs Jahre später ist der Ofen aus und Scott Weiland raus. Vorher gab es noch eine lahme Platte, Streit im Internet und die ganz kalte Schulter.
Hört euch hier das Velvet-Revolver-Debüt Contraband an:
Natürlich hat die ganze Welt mit Spannung zugehört, als Slash, Duff McKagan und Matt Sorum zusammen mit dem Gitarristen Dave Kushner und dem Frontmann der Stone Temple Pilots, Scott Weiland, eine Band gründen. Beim Debüt Contraband von 2004 kommen nicht ganz unerwartet zwei musikalisch benachbarte Welten zusammen: Classic Rock und alternative-lastiger Grunge-Sound. Die Scheibe wird zum Erfolg, doch der Nachfolger Libertad bleibt 2007 weit hinter den Erwartungen zurück.
Ein Bild aus besseren Zeiten: Velvet Revolver live 2007. Foto: Kreepin Deth/Wiki Commons.
Den weltweiten Touren der Band tut das keinen Abbruch, diverse Aufenthalte in Entzugskliniken, Visa-Probleme und kurzzeitige Verhaftungen durchkreuzen einige Pläne allerdings schon. Als Velvet Revolver im Januar 2008 ihre Rock’n’Roll As It Should Be-Tour durch Europa starten, hängt der Haussegen bereits schief. Am 20. März 2008 verkündet Weiland sogar auf offener Bühne in Glasgow: „Ihr seht hier etwas Besonderes: Die letzte Tour von Velvet Revolver.“
Längt beschlossene Sache
Was er nicht weiß: Seine Kollegen haben da längst beschlossen, ohne ihn weiterzumachen, wie Slash später in einem Interview eröffnet. Das liegt unter anderem daran, dass Weiland ständig die Fans ewig lang warten lässt, und das können die Guns N’ Roses-Jungs nach dem Dauerdrama mit dem notorisch verspäteten Axl Rose nicht mehr akzeptieren. Slash, der zottelhaarige Gitarrengott, berichtet auch, dass die Bandmitglieder während der UK-Shows so gut wie kein Wort mit ihrem Sänger wechseln. „Wir haben ihm die kalte Schulter gezeigt, dass es nur so eine Art hatte.“
Kein einfacher Zeitgenosse: Scott Weiland. Credit: CRL.
Nach dem Debakel von Glasgow, das in einer halbherzigen Performance gipfelte, tragen die Musiker zudem ihren Zank in die Öffentlichkeit: Drummer Matt Sorum veröffentlicht ein Statement, das ohne Namen zu nennen deutlich mit dem Finger auf Weiland zeigt. Der wird in seiner Antwort ein gutes Stück bissiger und ziemlich persönlich. Dass das alles nicht weitergehen kann, liegt auf der Hand. Am 1. April 2008 schließlich verkünden Velvet Revolver offiziell, dass Scott Weiland nicht mehr zur Band gehört.
Wie sich rausstellt, endet damit auch die Geschichte dieser Supergroup, sieht man von einer einmaligen Live-Reunion am 12. Januar 2012 bei einem Benefizkonzert ab. Denn leider können die Herren jahrelang keinen geeigneten Nachfolger finden, obwohl Könner wie Myles Kennedy von Slashs Soloband und Alter Bridge, Sebastian Bach (ehemals Skid Row), Lenny Kravitz und Chester Bennington (Linkin Park) als Kandidaten gehandelt werden. Slash und McKagan kehren schließlich zu Guns N’ Roses zurück, während Weiland bis 2013 bei den Stone Temple Pilots singt und anschließend mit seiner eigenen Band The Wildabouts unterwegs ist. Am 3. Dezember 2015 wird er tot in deren Tourbus gefunden. Rest in peace.
Du willst nichts mehr in der Rockwelt verpassen? Melde dich hier für unseren Newsletter an und werde regelmäßig von uns über die wichtigsten Neuigkeiten, die spannendsten Geschichten sowie die besten Veröffentlichungen und Aktionen informiert!
Zeitsprung: Am 15.5.1995 klicken bei Scott Weiland zum ersten Mal die Handschellen.
Popkultur
„The Record“: Was kann das Debüt der Supergroup Boygenius?
Supergroups kennt man ja eher von Männern. Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus, die drei prominenten Damen hinter Boygenius, ändern das. Ihr Debüt The Record klingt zumeist sanft, verträumt, melancholisch, bricht aber manchmal wie entfesselt los. Indie-Album des Jahres? Gut möglich.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr euch The Record anhören:
Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus sind jede für sich Ikonen, einflussreiche Künstlerinnen, die es mit unter 30 zu prominenten Figuren gebracht haben. Bei Boygenius bündeln die drei ihr kreatives Genie in einem Trio, das es in der Indie-Welt so noch nicht gegeben hat – und das ist angenehmerweise mal keine hohle PR-Übertreibung. Jede von ihnen kann als Stimme ihrer Generation gewertet werden, jede von ihnen gehört zu einer neuen Ära von selbstbestimmten Künstlerinnen, die auf ihre Weise den Boys-Club der Rockmusik unterwandern, aushöhlen, obsolet machen wollen.
Wie einst Nirvana
Das tun Boygenius auf ihrem Debüt The Record nicht etwa laut, schrill, wütend. Sondern mit Sanftmut, melancholischer Ruhe und bockstarken Songs. Ist doch eh cleverer und nachhaltiger, das geballte Talent sprechen zu lassen, das die drei Künstlerinnen auch im Verbund auf wundersame Weise zu kanalisieren wissen. Und dann sind da eben noch die subtilen kleinen Spitzen, die Hinweise: Auf dem Cover ihrer ersten EP, die bereits 2018 erschien und ein langes Schweigen einläutete, sitzen sie genau so da wie Crosby, Stills & Nash auf ihrem Debüt. Und auf dem Rolling-Stones-Cover Anfang des Jahres stellen sie die Pose des Nirvana-Covershoots von 1994 nach. Kurt Cobain hätte das gefallen.
Warum wir eine reine Girl-Supergroup gebracht haben, wird schnell klar: Wo männliche Supergroups dann eben doch irgendwann an den exorbitanten Alpha-Male-Egos zerschellen wie Hagelkörner auf Asphalt, gehen Bridgers, Baker und Dacus die Sache beeindruckend egalitär und basisdemokratisch an. Niemand drängt sich in den Vordergrund, weil alle gleichberechtigt sind. Keine Frontfrau, keine Divaallüren. „Wir ziehen uns gegenseitig hoch“, so sagte Bridgers damals dem Rolling Stone. „Wir sind alle Leadsängerinnen und feiern uns gegenseitig dafür.“ Männer bekommen das eben irgendwie deutlich schlechter hin, ist einfach so.
Die Avengers der Indie-Welt
Das alles wäre natürlich nicht viel wert, wenn The Record nicht alle hohen Erwartungen spielend überflügeln würde. Es ist ein Album, um es kurz zu machen, das einem den Glauben an die Zukunft der Gitarrenmusik zurückbringt. Es ist mal laut, mal ahnungsvoll, mal zart, mal ruppig. Vor allem aber ist es ein homogenes, reifes Werk, das in seiner Lässigkeit die Jahrzehnte transzendiert. Offenkundig sind die Einflüsse der „Avegners der Indie-Welt“, wie eine enge Freundin der Band das mal auf den Punkt brachte: Classic Rock, die Laurel-Canyon-Szene, Grunge, der Folk von Crosby, Stills & Nash, von denen sie gleich auch die verschiedenen Gesangsharmonien haben.
Eins der ganz großen Highlights ist $20, ein furioser Rocker mit schroffer Lo-Fi-Gitarre, der sich plötzlich öffnet und von allen drei Stimmen ins Ziel getragen wird. Die Mehrheit des Materials ist ruhig, verträumt, am ehesten trifft es wohl lakonisch. Emily I’m Sorry etwa oder das kurze Leonard Cohen, inspiriert von einer unfreiwilligen Geisterfahrt der Drei auf einer kalifornischen Interstate. Die Ausbrüche wie Anti-Curse, in denen Baker von einer Nahtoderffahrung im Pazifik singt, läuten deswegen umso lauter, dringlicher. Dynamik ist König, das wissen die drei. Oder besser Königin.
Musste Rick Rubin draußen bleiben?
Sie wissen eh sehr viel. Wie schwer sie es haben würden, zum Beispiel. So kamen sie überhaupt erst auf ihren Namen Boygenius: Nach zahlreichen schlechten Erfahrungen mit vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden männlichen Kollaborateuren, die von der ganzen Welt gefeiert werden, nannten sie sich selbst so, um sich Mut zuzusprechen. Ob das auch für Rick Rubin gilt? Aufgenommen haben sie zumindest in dessen Shangri-La Studio in Malibu. Aber er hat keinen Recording Credit und durfte vielleicht nur kiffend im Garten sitzen. Vorstellbar.
The Record ist ein geniales Debüt. Es ist aber mehr, ein Instant-Klassiker, ein Album, das sich einreiht in die großen Singer/Songwriter-Momente der letzten 50 Jahre. Es ist radikal ehrlich, direkt, ungefiltert, unaufgesetzt und das Testament großen Willens. Alle Songs hätten auch auf den jeweiligen nächsten Alben der drei Solitärinnen auftauchen können. Aber dann würde ihnen etwas fehlen. The Record ist ein Album voller Risse, durch die das Licht hineingelangt, um bei Leonard Cohen zu bleiben. Ein heilsames Stück Musik, durchwirkt von Insider-Jokes, kleinen Hieben geben das Patriarchat und jeder Menge Beweise für diese besondere Freundschaft. Das wird Grammys hageln.
Du willst nichts mehr in der Rockwelt verpassen? Melde dich hier für unseren Newsletter an und werde regelmäßig von uns über die wichtigsten Neuigkeiten, die spannendsten Geschichten sowie die besten Veröffentlichungen und Aktionen informiert!
Popkultur
Zeitsprung: Am 31.3.1958 veröffentlicht Chuck Berry „Johnny B. Goode“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 31.3.1958.
von Christof Leim
Das sind die Grundlagen des Rock’n’Roll, liebe Brüder und Schwestern. Hier kommt viel der großartigen Krachmusik her, die wir im Zeitsprung feiern: Am 31. März 1958 veröffentlicht Chuck Berry den Klassiker Johnny B. Goode. Keine drei Minuten lang ist das Ding, Bluesschema in A, dazu ein flotter Backbeat und eine heiße Leadgitarre, und ab geht die Revolution. Bei Songs wie diesem haben sie alle zugehört, die Beatles, die Stones und AC/DC.
Geschrieben hatte Chuck Berry die Nummer bereits 1955 über einen „country boy“, einen Jungen vom Lande, der nicht richtig lesen und schreiben kann, aber so mühelos Gitarre spielt, als müsse er nur eine Glocke läuten. Und eines Tages wird sein Name auf allen Plakaten stehen… Wie sich später herausstellt, singt Berry hier über sich selbst. Darauf weist alleine schon der Titel hin, denn der Musiker wurde in der Goode Avenue in St. Louis geboren. Nur anfangs diente sein Pianist Johnnie Johnson als Namenspate für den Song. Der spielt jedoch nicht mal mit; bei den Aufnahmen am 6. Januar 1958 in den Chess Studios in Chicago haut Lafayette Leake in die Tasten. Den Bass bedient der nicht ganz unbekannte Blueser Willie Dixon. Das markante Eingangslick leiht sich Chuck Berry vermutlich bei Ain’t That Just Like A Woman, einer Nummer von Louis Jordan aus dem Jahr 1946, und zwar Note für Note, wie man hier hören kann. Die Originalversion der Single samt Text findet ihr hier.
Urvater des Rock’n’Roll: Chuck Berry
Aus dem Stand ein Hit
Johnny B. Goode wird zum Hit beim Publikum, und zwar unabhängig von der Hautfarbe, was Ende der Fünfziger keinesfalls als selbstverständlich gesehen werden kann. Der Track erreicht Platz zwei in den Billboard Hot R&B Sides Charts und Platz acht in den Hot 100 Charts. Wo der Unterschied zwischen diesen Hitparaden liegt, wissen wir nicht, aber fest steht: Mit der Nummer ging was. Um das zu erreichen, muss Berry eine kleine Änderung im Text vornehmen: Ursprünglich singt er von einem „little coloured boy“, ändert das aber in „little country boy“, um auch im Radio gespielt zu werden. Keine einfachen Zeiten für einen Schwarzen als Rockstar.
Die Goldene Schallplatte an Bord der Raumsonde Voyager. Johnny fliegt mit.
Heute gilt Johnny B. Goode als der wichtigste Chuck-Berry-Song. Er wird mit Preisen geehrt und in Bestenlisten aufgenommen, nicht zuletzt wird er 1977 mit der Voyager in den Weltraum geschossen. An Bord dieser Raumsonde befindet sich nämlich eine goldene Schallplatte mit Audioaufnahmen von der Erde, etwa der Stimme eines Kindes, Klassik von Johann Sebastian Bach – und eben Rock’n’Roll von Chuck Berry.
Da kommt noch mehr
Vier weitere Stück schreibt der Sänger und Gitarrist im Laufe der Jahre über den Charakter Johnny B. Goode: Bye Bye Johnny, Go Go Go, Johnny B. Blues und Lady B. Goode. Außerdem nennt er ein Album und dessen 19-minütiges instrumentales Titelstück danach: Concerto In B. Goode. Einen weiteren Popularitätsschub erhält das Lied 1985 durch Film Zurück in die Zukunft mit Michael J. Fox.
Die Liste der Coverversionen ist endlos und streift alle möglichen Genres, sie reicht von Jimi Hendrix, AC/DC und Judas Priest über NOFX und LL Cool J bis zu Motörhead und Peter Tosh. Und vermutlich fetzt noch heute irgendwo eine halbstarke Nachwuchskapelle bei ihrer dritten Probe durch das Bluesschema in A.
Du willst nichts mehr in der Rockwelt verpassen? Melde dich hier für unseren Newsletter an und werde regelmäßig von uns über die wichtigsten Neuigkeiten, die spannendsten Geschichten sowie die besten Veröffentlichungen und Aktionen informiert!
Zeitsprung: Am 7.9.1955 macht Chuck Berry den „Duck Walk“. Später freut sich Angus.
-
6 Anekdoten, die nur aus dem Leben von Keith Moon stammen können
-
Zeitsprung: Am 21.4.1959 kommt Robert Smith von The Cure zur Welt.
-
Herzschmerz, Todesfälle und der Wunsch nach Frieden: 20 Rockballaden für die Ewigkeit
-
„Bohemian Rhapsody“: Die Geschichte des Klassikers, für den Queen alle Regeln brachen