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Popkultur

Interview mit Dee Snider: „Ich dachte, für mich gibt es in der Szene keinen Platz mehr“

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Dee Snider
Foto: Paul McGuire

Sein knackig-hartes neues Soloalbum Leave A Scar zeigt: Dee Snider hat sich auch mit 66 Jahren noch nicht ins Heavy-Metal-Seniorenheim verabschiedet. Mit Produzent Jamey Jasta (Hatebreed) im Hintergrund greift der Twisted-Sister-Frontmann noch mal an – und zeigt im Zoom-Call ähnlich viel Energie wie auf seiner neuen Platte.

von Björn Springorum

Hier könnt ihr Leave A Scar hören:

Vor 45 Jahren steigt Dee Snider bei Twisted Sister ein. Mit großen Songs, jeder Menge Make-Up und Humor drückt er der Metal-Szene seinen Glam-Stempel auf, wird aber wie viele andere Metal-Heroen in Leder und Spandex von den Neunzigern verschlungen und mittellos ausgespuckt. Snider kämpft weiter, erobert sich andere Felder, ist als Schauspieler, Synchronsprecher und Radiomoderator in Erscheinung.

Mit Leave A Scar legt er jetzt ein hungriges, modern produziertes, Laune machendes Metal-Album vor, auf dem er sogar Cannibal-Corpse-Sänger George „Corpsegrinder“ Fisher singen lässt. Dee, so kann man sagen, ist im 21. Jahrhundert angekommen.

Dee, wie geht’s dir?

Mir geht’s gut. Mir geht’s eigentlich immer gut, Mann. Selbst in den Neunzigern, als ich ohne Band, ohne Job, ohne Kohle war. Ich hatte ja immer noch meine tolle Frau und meine wunderbaren Kinder. Sie waren gesund, ich war gesund, das ließ mich immer das Positive sehen. Das galt auch für die letzten Monate – umso mehr, weil ich jetzt dieses Album veröffentlichen kann.

Du bist ja schon ein paar Wochen dabei…

(muss lachen) Das klingt doch mal gut. Kürzlich nannte man mich im Fernsehen eine „lebende Legende“ und für mich klang das so wie „lebendes Fossil“. Brr.

So oder so: Woher kommt diese ganze unglaubliche Energie, die durch Leave A Scar pumpt?

Dafür gibt es viele Gründe. Aber ganz oben steht Jamey Jasta, der schon mein letztes Album produziert und mir meinen Platz in der heutigen Metal-Welt gezeigt hat. Ich dachte damals, für mich war’s das, für Dee Snider gibt es in der Szene keinen Platz mehr. Als ich mit Leave A Scar ins Studio ging, wusste ich also schon, dass ich noch meine Daseinsberechtigung habe, dass ich noch was reißen kann. Ich habe noch nie zweimal mit demselben Team gearbeitet, doch diesmal kam gar nichts anderes in Frage. Natürlich hatte ich auch einen ziemlichen Energieüberschuss wegen dieser ganzen Corona-Sache. Der erste Song bringt das ja schon mit dem Titel auf den Punkt: I Gotta Rock Again. Irgendwann sprach ich diesen Satz einfach mal laut aus und jemand sagte: Das ist ein starker Albumtitel! Und es stimmt, denn es gilt doch für uns alle. Ich habe einfach zu lange still gesessen.

Du hast uns also einfach allen eine Post-Corona-Hymne geschrieben?

Das war zumindest der Plan, ja. Ich wollte das Album mit einem Schlachtruf eröffnen, mit einem starken Statement. Den Schrei, den man zu Beginn hört, wollte ich eigentlich gar nicht für den Song verwenden. Ich hatte nur vor, meine Stimmbänder zu lockern. Doch als Jamey hörte, dass ich ihn rausschmeißen wollte, ging er sofort auf die Barrikaden. Für ihn war es das perfekte Symbol für das, was wir derzeit alle fühlen.

„Verzweiflung ist ein guter Motivator.“

Du bist ja längst nicht nur als Rockstar, sondern mittlerweile auch als Popkulturikone verehrt, wie es ja auch bei Ozzy der Fall ist. Wie gefällt dir diese Rolle?

Ich hab natürlich mitbekommen, dass man mich hin und wieder so bezeichnet hat, aber wirklich gesehen habe ich das nicht. Ich meine, es freut mich, wenn man mich offenbar so wahrnimmt, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. Toll finde ich daran, dass man mich offensichtlich nicht mehr nur als diesen Typen von Twisted Sister sieht. Man nimmt mich als Persönlichkeit wahr und gesteht mir zu, mich auch in anderen Bereichen auszutoben – Reality-TV, Theater, Fernsehen, Radio.

Kann man so etwas planen?

Nein, ganz und gar nicht! Kürzlich bekam ich ein Business-Magazin in die Hände, in dem es um Markenpflege ging. Sie führten ausgerechnet mich als gutes Beispiel an, wie man sich eine Marke aufbaut: Damals dieses Achtziger-Ding, heute alles mögliche. Dee Snider eben. Sie faselten in dem Artikel ständig etwas von irgendeinem großen Plan, aber es gab keinen Plan. Ich hatte irgendwann einfach keine Kohle mehr und musste sehen, wo ich bleibe. Ich tat also alles, um meine Familie durchzubringen. Ich saß am Schreibtisch, ich leitete ein Studio und irgendwann kam ich in diese Filmschiene – schauspielern, schreiben, synchronisieren und all das. Verzweiflung ist ein guter Motivator, lass dir das gesagt sein. Außerdem scheute ich mich noch nie davor, meine Meinung zu sagen. Deswegen habe ich dieses Album gemacht.

Wie meinst du das?

Viele lassen sich heute doch von ein paar lauten Stimmen einschüchtern. Ein paar tausend Far-Right-Typen brüllen etwas und fühlen sich, als wären sie die Könige der Welt. Man darf sie aber damit nicht davonkommen lassen und muss einfach lauter sein als sie. Das ist mein Job.

„Heute denke ich, dass wir noch mit 80 im Altenheim Heavy Metal hören und headbangen werden.“

Hättest du vor 40 Jahren gedacht, dass Rock’n’Roll nicht nur was für junge Leute, sondern für jedermann ist?

Nein! Ich dachte, wir überwinden das irgendwann. (lacht) Ich war sicher, dass ich mit 40 bestimmt keine Lust mehr auf diese Musik haben würde. 40 war steinalt, vielleicht wäre ich ja sogar längst nicht mehr am Leben. Dass Rock’n’Roll alles überdauern würde, hätte wahrscheinlich niemand gedacht. Oder niemand außer Keith Richards, der schon 1965 sagte, er würde das solange machen, bis er stirbt.

Er hätte aber wahrscheinlich auch nicht damit gerechnet, mit diesem Lebensstil so alt zu werden.

Ganz bestimmt nicht. Aber er hatte Recht: Die Jazzer hören nicht auf, die Blues-Typen hören nicht auf, warum sollten wir aufhören? Heute denke ich, dass wir noch mit 80 im Altenheim Heavy Metal hören und headbangen werden. Es hört niemals auf.

Ist so auch der Titel Leave A Scar zu verstehen? Geht es darum, etwas zu hinterlassen?

Als Junge habe ich mal meinen Namen an die Wand gesprüht. Am nächsten Tag war er verschwunden, man hatte ihn einfach übermalt. Also ritzte ich den Namen mit einem Taschenmesser in einen Baum an meiner alten Schule. 55 Jahre sind vergangen – und der Name ist immer noch da. Das ist der Unterschied zwischen einer Markierung und einem Namen: Es geht darum, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. So bin ich an das neue Album herangegangen. Am Ende des Lebens geht es nicht darum, wie viele Autos oder Häuser du hast. Sondern was für ein Mensch du zu deinen Mitmenschen warst. Was du ihnen geben konntest.

„Wenn Gene Simmons sagt, dass Rock tot ist, dann hat er einfach etwas nicht verstanden.“

Du scheinst immer noch eine Menge Musik in dir zu haben, die du sozusagen der Welt geben möchtest…

Für mich war es sehr frustrierend, die Musik, die ich so sehr liebe, nur noch von der Tribüne aus zu beobachten. Meine Kids, die alle Metal-Heads sind, zeigten mir immer wieder diese wahnsinnig aufregenden neuen Bands, die so voller Energie und Leidenschaft sind. Wenn Gene Simmons sagt, dass Rock tot ist, dann hat er einfach etwas nicht verstanden. Ich wollte um jeden Preis mitmachen bei diesen großartigen Entwicklungen, aber ich fühlte mich nicht zugehörig. Fehl am Platz. Jamey zeigte mir den Weg zurück.

Wie geht es dem Heavy Metal deiner Meinung nach im Vergleich zu den Achtzigern?

Es geht ihm sehr gut. Ich finde es nur schade, dass heute niemand mehr diese großen Träume hat. Als ich anfing, wollte ich reich und berühmt werden. Da, ich gebe es zu! Heute gibt es so viele gute Bands, aber die meisten hoffen einfach, bis zum nächsten Gig durchzuhalten.

Bist du stolz auf deine Vergangenheit?

Natürlich bin ich stolz auf das, was wir mit Twisted Sister erreicht haben. Ich muss nur nicht mehr darüber reden. Das war einmal, ist längst vorbei. Ich will stolz auf das sein, was ich heute mache. Ich glaube, das habe ich von meiner Mutter. Sie schaut immer nur nach vorn.

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Zeitsprung: Am 15.3.1955 wird Dee Snider von den Twisted Sister geboren.

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