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Popkultur

Die musikalische DNA von Placebo

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Auf den ersten Blick haben die siebziger Jahre mit den Neunzigern wenig gemein. Dort regierte der ausschweifende Rock’n’Roll-Lifestyle, hier der Techno-Optimismus des frühen Internetzeitalters. Aber in den neunziger Jahren feierte Rock-Musik ein Comeback. Grunge zog sich Flanellhemden statt Spandexanzüge über, Britpop dominierte Großbritannien. Placebo vereinten beides und brachten den Glam von damals mit der Kaputtheit zusammen, die vor Ende des zweiten Jahrtausends die Pop-Welt zu ergreifen drohte.


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Placebo-Frontmann Brian Molko wurde nicht müde, seine Band als Außenseiter zu beschreiben. So phrasenhaft das klingt, so wahr ist es doch: Die Nancy Boys von Placebo lehnten sich gegen die Breitbeinigkeit der Rock-Welt auf, sprachen über Bisexualität und Depressionen. „Wir reagierten stark auf den Machismus, die Fankurvengesänge und den Revisionismus von Britpop“, unterstrich Molko in einem Interview. „Wir wollten mit den Kleidern, die wir uns anzogen und mit dem Make-Up, das wir trugen, ein politisches Statement abliefern.“ Es ist ihnen gelungen: Die Rock-Welt wurde mit dem Erfolg der Band etwas queerer.

Placebo, so nennt sich ein Scheinmedikament – eine Pille, die nicht wirkt. Placebo ist aber auch Lateinisch für „Ich werde gefallen“ und genau das taten Molko, Stefan Osdal und ihre Schlagzeuger – Robert Schultzberg, Steve Hewitt und zuletzt Steve Forrest – mit einem Sound, der gleichermaßen Punk wie Pop bediente, der wunderbar still und ohrenbetäubend laut sein konnte. Es ist ein Sound, der nahe geht und nicht nur Außenseiter für sich gewinnt. Wer die Inspiration dafür lieferte, erfahren wir mit Blick auf die musikalische DNA von Placebo.


1. Captain Beefheart & His Magic Band – Ashtray Heart

Mit Hinblick auf Placebos Entstehungsgeschichte ist es wohl kein Wunder, dass Placebo in der Rock-Welt eine Außenseiterposition einnehmen sollten. Brian Molko und Stefan Olsdal besuchten als Teenager eine amerikanische Schule in Luxemburg, weitab vom musikalischen Geschehen. Beide trieben sich in verschiedenen Cliquen rum und sprachen nie miteinander, bis sie sich Jahre später in der Londoner U-Bahn begegneten. Molko sah, dass der hagere Olsdal eine Gitarre auf den Rücken geschnallt hatte und lud ihn prompt zu einem Solo-Gig von sich ein.

Es war eine schicksalsträchtige Begegnung. Völlig begeistert von Molkos Können drängte der gebürtige Schwede darauf, mit dem Briten gemeinsame Sache zu machen. Den Namen für das Projekt liehen sie sich von einem der kauzigsten Außenseiter der Rock-Geschichte. „Er kam von einer Captain Beefheart-Zeile“, erinnerte sich Olsdal an den ersten Bandnamen. „She used me like an ashtray heart.“ Mit Placebo fanden die beiden einen noch eingängigeren Namen. „Du kannst dir vorstellen, wie ihn 40 000 Menschen schreien…“, so der Bassist. Ashtray Heart allerding ist auch der Titel eines Songs vom Album Battle for the Sun. Die Lyrics spielen eindeutig auf Captain Beefheart und seine Magic Band an.


2. Depeche Mode – I Feel You

Außenseiter hin oder her: Mit ihrem ersten Album Placebo konnte sich das Trio – neben Molko und Olsdal war noch Schultzberg dabei – echte Achtungserfolge erspielen. Ganz glücklich sind die beiden Frontmänner der Band heute mit ihrem Frühwerk aber nicht. Zu poppig, zu punkig, zu pubertär finden sie vieles von dem, was ihnen damals erste Medienaufmerksamkeit verschaffte. Verglichen wurden sie mit der ersten Post-Punk-Generation, dabei war die Inspiration eine ganz andere gewesen.

„Wir haben versucht, Sonic Youth und Depeche Mode zu nehmen, gegen die Wand zu schmeißen und zu gucken, was wohl kleben bleibt“, erinnerte sich Molko in einem Interview. US-amerikanischer No Wave hier, britischer New Wave da: Klarer Fall, Placebo hatten mit dem grassierenden Britpop-Trend rein gar nichts zu tun und wollten das auch nicht. Depeche Mode sind sie im Laufe ihrer Karriere aber treu geblieben. 2003 coverten sie das damals zehn Jahre alte Stück I Feel You vom Depeche Mode-Überalbum Songs of Faith and Devotion.


3. The Smiths – Bigmouth Strikes Again

Anders als die Britpop-Zeitgenossen, die ihre Inspiration vornehmlich in den sechziger und siebziger Jahren fanden, orientierten sich Placebo entweder direkt am Puls der Gegenwart oder den aufregenden ersten Tagen des britischen Indie-Sounds. Kein Wunder, dass auf der B-Seite ihrer Durchbruchssingle Nancy Boy aus dem Jahr 1997 ein Cover der Indie-Helden The Smiths zu finden war, Bigmouth Strikes Again. Die nasale, ausgesprochen androgyne Stimme Molkos schien wie ein perfektes Update für Morrisseys jodeligen Gesangsstil.

Ähnlich wie Britpop nach ihnen standen die Smiths für ein bestimmtes Bild britischer Kultur, mit der sich Placebo eigentlich kaum anfreunden konnten und wollten. Doch in den romantischen Gesten der Band um Morrissey und den genialen Gitarristen Johnny Marr fanden Molko und seine Mitstreiter noch etwas anderes: Stil. Kaum eine Band verkörperte musikalische und lyrische Eleganz mit einer dermaßen großen Selbstsicherheit wie die Smiths.


4. Suede – The Beautiful Ones

À propos „Bigmouth“, also Großmaul: Manchmal wünscht sich Molko, er hätte – wie auch Morrissey – lieber die Klappe gehalten. Worüber? Na, über seine Bisexualität, die auch in Nancy Boy zur Kampfansage wurde. „Ich war bezüglich meiner Sexualität immer offen, weil ich in den Anfangstagen von Placebo ziemlich draufgängerisch gewesen bin“, gab er kleinlaut zu Protokoll. „Mein Coming-Out schien da wichtig, um Position zu beziehen.“ Mit rund einem Vierteljahrhundert Abstand aber lässt sich sagen, dass Molko genau richtig gehandelt hat: Placebo lösten eine kleine Revolution aus.

Damit waren sie allerdings keineswegs allein. Suede etablierten sich Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre mit einem Sound, der als wegweisend für die Britpop-Bewegung betrachtet wird. Doch Suede kokettierten auch gerne mit der Ästhetik des Glam-Rock und spielten mit ihrer Sexualität. „Ich bin ein bisexueller Mann, der nie eine homosexuelle Erfahrung gemacht hat“, orakelte Frontmann Brett Anderson beispielsweise. Dieser Ausspruch war es angeblich, der die Inspiration für Nancy Boy lieferte.


5. David Bowie – Where Are We Now?

Suede und Placebo waren aber keineswegs die einzigen, die offen mit ihrer fließenden Interpretation von männlicher Sexualität umgingen. Ihr Vordenker war David Bowie. Viel wurde gesagt und geschrieben über Bowies Sexualität, nicht alles davon war positiv: Mit Minderjährigen soll er Sex gehabt haben und manche munkeln, dass seine Zugeständnisse an Bisexualität lediglich ein Werbe-Gag waren. So oder so: Indem er ein neues Männlichkeitsbild auf die Bühne brachte und sich von Mal zu Mal wandelte, wurde er zum Vorbild ganzer Generationen.

1996 lud Bowie Placebo für eine gemeinsame Tour ein und erschien sogar in einer alternativen Version des Titelsongs ihres Albums Without You I’m Nothing. „Das verdanken wir alles Morrissey“, verriet Molko gegenüber der Presse. Moz spielte dem Kollegen noch vor Veröffentlichung von Placebo ein Demo der Band vor. Der war begeistert. „Ich muss so 24, 25 Jahre alt gewesen sein – das hat meinem Ego sehr gut getan!“, so Molko. Aus dem Helden wurde ein Freund, sein Einfluss blieb beständig. „Wenn Bowie ein Album komplett anonym aufnehmen würde […] und dann mit einem Track wie Where Are We Now? Zurück kommt, dann gibt es Hoffnung für uns. […] Touché. Gut gemacht, David!“, sagte er noch 2013 über den Kollegen, als Placebo sich selbst neu erfinden mussten.


6. T-Rex – 20th Century Boy

Es ist kein Wunder, dass sich die Band und insbesondere Molko nur drei Jahre später beim Tod Bowie schwer erschüttert zeigten. „Wo auch immer du jetzt bist, ich vermisse dich“, schrieb Molko auf der Facebook-Seite der Band. „Ich vermisse dich nicht nur, mein Herz ist gebrochen. Du warst mein Idol, dann wurdest du mein Mentor und mein Freund.“ Wie sehr sie Bowie beeinflusst hatte, zeigte die Band immer wieder. So auch mit ihrer Teilnahme am Film Velvet Goldmine, der lose auf dem Leben Bowies basierte.

In dem Kultstreifen hat die Band mehrere Gastauftritte, auf dem Soundtrack sind sie ebenfalls zu hören. Für Velvet Goldmine spielten sie eine Coverversion von T-Rex’ 20th Century Boy ein, Marc Bolans großem Glam Rock-Klassiker. Obwohl die schrille Ästhetik des Glam Rock zweifelsohne einer der Haupteinflüsse von Placebos campem Auftreten gezählt werden kann, begnügte sich die Band nie allein mit einem Wiederbelebungsversuch des kurzlebigen Genres. Placebo wollten mehr als nur Glam sein, so glamourös sie auch immer schienen.


7. Bob Dylan – Maggie’s Farm

Mit ihrem Album Black Market Music spielten Placebo erstmals ihr volles Potenzial aus. Obwohl Molko wegen des schlechten Produktionssounds zerknirscht auf die bahnbrechende Platte zurückschaut, so kann er dennoch nicht leugnen, dass seine Band selten kohärenter klang. Auch inhaltlich konnten Placebo erstmals das umsetzen, was ihrem Mastermind vorschwebte und sponnen dichte, lyrische Texte, die ohne pubertären Ballast auskamen.

Im Song Slave to the Wage zum Beispiel schildert Molko über einem fiebrigen Bassriffs Olsdals die triste Alltagsrealität einer 9-to-5-Realität. Keine Frage, als Rockstars bedeutete ein geregeltes Arbeitsleben für das Trio – hinter der Schießbude saß zu dieser Zeit noch Steve Hewitt – die pure Hölle. Neben dem markanten Gitarrenlick aus Pavements Texas Never Whispers, das Placebo für das Stück sampelten, spielt der Text auch auf Bob Dylans Maggie’s Farm an: „Sick and tired of Maggie’s farm / She’s a bitch, with broken arms to wave / Your worries, and cares, goodbye“. Der große Dylan hatte schließlich vorgemacht, wie ein Leben für und durch die Musik aussehen konnte. Brotjob adé!


8. PJ Harvey – Hardly Wait

Ganz klar, Placebo standen und stehen immer auch für eine gewisse Haltung zum Leben. Außenseiter einerseits, kreativ und vor Energie sprühend andererseits. Kein Wunder, dass Placebo auch PJ Harvey vergöttern. Als die Band 2009 auf der B-Seite ihrer Single The Never-Ending Why mit einem Cover von Hardly Wait – erstmals 1993 auf Harveys legendärem 4-Track Demos-LP veröffentlicht – aufwarteten, war das ein längst überfälliger Tribut an die fantastische Polly Jean.

Molko entdeckte Harvey schon früh: Als 1992 ihr Debütalbum Dry erschien, war er sofort Feuer und Flamme. „Es kam raus, als ich gerade die Universität verließ“, erinnerte er sich in einem Interview mit dem New Musical Express. „Es fühlte sich roh und aus dem Bauch heraus an. Die Platte selbst klingt so unproduziert und echt. Ich habe mich Hals über Kopf in Polly Harvey verliebt und wurde verrückt nach ihrer Musik.“ Verletzliche und dennoch starke Musik – das hatten Placebo im Sinn, als sie ihr Debütalbum aufnahmen. Harvey konnten sie aber nicht das Wasser reichen. Aber wer kann das schon?


9. Kate Bush – Running Up That Hill (A Deal With God)

Na, vielleicht Kate Bush. Auch deren Überhit Running Up That Hill (A Deal With God) gehört fest ins Repertoire von Placebo. Ihr Cover wurde zuerst als Bonus-Track der US-Version vom Album Meds veröffentlicht und avancierte schnell zu einem Fanliebling. „Wir covern Songs, die wir mögen“, gab Olsdal zu Protokoll. „Wir machen das zum Spaß in B-Seiten-Sessions. Wir haben eine ganze Menge Bands gecovert, vor allem aus den Achtzigern. Depeche Mode und sogar Robert Palmer.“ Ihre Version von Running Up That Hill sollte aber eine ganz besondere werden.

„Wir sind riesige Fans von Kate Bush und, wenn es um diesen Song geht, denken wir, dass die Lyrics eine echte Tiefe haben, die im Original so nicht auszumachen ist, weil sie so schnell singt“, erklärte Olsdal den Ansatz seiner Band. „Wir haben ihn verlangsamt und es fühlte sich sehr gut an. Wir waren sehr stolz drauf.“ Doch was dachte Bush selbst darüber? „Wir trafen sie und waren total erleichtert, als sie uns erzählte, dass sie ihn mag.“ Na, dann ist doch alles gut gegangen!


10. Blackmail – Moonpigs

Placebo sind immer offen mit ihren Einflüssen umgegangen, haben ihren Helden und Heldinnen feierliche Cover-Versionen gewidmet und ihnen auch hinter der Bühne jederzeit Respekt erwiesen. Ganz anders die Bands, die ihrerseits Placebo einiges zu verdanken haben. „You lose hair!“, soll Blackmail-Sänger Aydo Abay der Legende nach gegenüber Brian Molko gescherzt haben, als er dem Briten eines Tages beim Melt! Festival im Backstage-Bereich über den Weg liefen. Ob’s stimmt? Wir wissen es nicht.

So viel aber ist sicher: Die Koblenzer Band, die ein Jahr nach Placebo debütierten, reagierte stets genervt auf die ständigen Vergleiche mit Placebo. „Ach, nicht das schon wieder“, stöhnte Carlos Ebelhäuser, Bassist der Band, als in einem Interview das Gespräch auf Abays Gesang kam. „Sie sind stimmverwandt, aber Aydo singt viel besser und hat nicht dieses eklige Timbre“, hieß es. „Und musikalisch sind wir auch ganz anders. Die sind zu poppig, wir haben die besseren Gitarren.“ Bei Songs wie Moonpigs ist deutlich zu hören, was Ebelhäuser meint. Aber mit Zeilen wie „Everyone get in / Even all you misfits“ zeigte seine Gruppe immer deutlich, dass sie sich ebenso wie die britischen Kollegen den Außenseitern widmen. Das ist doch eine Gemeinsamkeit, mit der sich leben lässt – oder?


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