Popkultur
Zeitsprung: Am 21.10.2003 stirbt Elliott Smith unter mysteriösen Umständen.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 21.10.2003.
von Victoria Schaffrath und Christof Leim
In den Neunzigerjahren bildet Singer-Songwriter Elliott Smith ein folkiges Pendant zum Grunge. Dass er sich nicht nur musikalisch mit Drogen und mentalen Problemen auseinandersetzt, verleiht seinen Texten eine düstere Authentizität. Am 21. Oktober 2003 findet seine Geschichte ein jähes – und bisher ungeklärtes – Ende.
Hört euch hier From A Basement On The Hill an, Smiths posthum veröffentlichtes letztes Album:
Im späten Oktober 2004 ertönen in Echo Park, einem Stadtteil von Los Angeles, die Alarmsirenen. Man weiß, dass in der Gegend viele Kunstschaffende und bekannte Gesichter wohnen; unter anderem steht die Nachbarschaft in den Lebensläufen von Charlie Chaplin, Frank Zappa, Alice Cooper und Lana Del Rey. Auch Singer-Songwriter Elliott Smith und seine Lebensgefährtin Jennifer Chiba nennen das Viertel ihr Zuhause.
„Ich bin der Falsche, um groß und berühmt zu sein.“
Dieser stolpert in den Neunzigern beinahe unabsichtlich ins musikalische Rampenlicht. Smiths Rockband Heatmiser dümpelt trotz Plattendeal ein wenig vor sich hin, und der Schreibprozess läuft nicht ganz so, wie sich der eigensinnige junge Mann das vorstellt. Also klaubt er sein eigenes Material zusammen, spielt es mit nur einem Vierband-Rekorder und einer Gitarre rudimentär ein und bekommt prompt einen eigenen Vertrag. Dass die akustischen, folkigen Lieder erste Erfolge bringen, versteht er nicht: „Ich dachte, sie würden mir angesichts der Grunge-Bewegung den Kopf abreißen… Das Album kam aber wirklich gut an, was ein Schock war, und stellte leider auch den Erfolg von Heatmiser in den Schatten.“
Doch wie es das ungeschriebene Gesetz der Musikgeschichte so oft will, lauern dort, wo es tiefe Texte gibt, auch häufig innere Dämonen. Smith durchlebt eine Kindheit, die von vielen Umzügen und möglichem Missbrauch geprägt wird; greift bereits mit fünfzehn Jahren zu Alkohol und Drogen. In der Musikszene der Neunziger gehört derartiges Konsumverhalten natürlich zum guten Ton, und da der Mann mit den schwarz-gefärbten Haaren auf Alben wie Elliott Smith und Either/Or wahrlich abliefert, lässt man den leidenden Künstler eben machen.
Lieder über den Zerfall einer Seele
Dass sein Sound mit zunehmenden psychischen Problemen experimenteller klingt, gleicht einer Ironie des Schicksals: Mehr und mehr mutiert Smith zum Liebling der Indiepop- und Folk-Szene, schafft es schließlich auf den Soundtrack zu Good Will Hunting. Ein Auftritt bei den Oscars sowie die Alben XO und Figure 8 verhelfen zu beachtlicher Bekanntheit. Zwischen den schweren Folk-Balladen finden sich träumerische, beinahe realitätsfremde Töne. Sie spiegeln Smiths Entfremdung von sich selbst.
Seine Depressionen kontrollieren sein Leben bereits so sehr, dass er mehrfach mit dem Gedanken an den Freitod spielt. Musiker Pete Krebs erinnert sich: „In Portland bekamen wir die volle Breitseite von Elliotts Depressionen mit. Eine Menge Leute erzählen noch immer davon, wie sie mit ihm bis fünf in der Frühe wach geblieben sind, seine Hand gehalten und ihm gesagt haben, er solle sich nicht umbringen.“
Mister Misery
Währenddessen ernennt man Stücke wie Waltz No. 2 (XO), Miss Misery und Needle In The Hay zu melancholischen Meisterwerken. Immer noch steht Smith seinem wachsenden Erfolg kritisch gegenüber: „Ich bin der Falsche, um groß und berühmt zu sein.“ Ob es dieser Hochstapler-Komplex ist, der den in Nebraska geborenen Autodidakten schließlich zum Heroin greifen lässt?
Es folgt, was sich schon lange ankündigt. Der Konsum treibt Smith ab 2001 in paranoide Zustände, Aufnahmen für ein nächstes Album vernichtet er nach einem Zerwürfnis mit einem Kollegen. Liveauftritte wirken konfus, der Musiker zeigt so deutlich die Symptome eines Heroin-Problems, dass das Publikum teils einspringt, als er Texte vergisst. Seine Freundin Jennifer Chiba hält zu ihm, selbst, als man beide für eine Rangelei bei einem Flaming-Lips-Konzert über Nacht einbuchtet. Sänger Wayne Coyne erinnert sich an Smiths Zustand: „Das hatte nichts mit einem zugedröhnten Keith Richards zu tun, der zufrieden in der Ecke liegt.“
Elliott Smith: Unwahrscheinliche Kehrtwende
Womöglich trägt dieser Tiefpunkt zum Sinneswandel bei. Nach mehreren gescheiterten Entzugsversuchen gelingt Smith 2002 endlich der Absprung, und ab Anfang 2003 versucht er, seine Glaubwürdigkeit als Livemusiker mit Clubkonzerten in L.A. wiederherzustellen. Er nimmt erneut die Arbeit an seinem nächsten Album auf, dass er From A Basement On A Hill tauft. Nach seinem Geburtstag am 6. August schwört er gar dem Alkohol ab, im September entsagt er zusätzlich rotem Fleisch und Zucker. Chiba erinnert sich: „Okay, du verlangst gerade ziemlich viel von dir. Du gibst sehr viel auf einmal auf.“
Weiter sagt sie später über diese Zeit: „Man benutzt Drogen, um vor seiner Vergangenheit zu flüchten oder starke Gefühle zu unterdrücken. Wenn man also gerade frisch abstinent ist und all diese Stoffe noch abbaut, die die Gefühle versteckt haben, ist man am verwundbarsten.“ Am Abend des 20. Oktober kommt es zum Streit zwischen dem Paar.
„Es tut mir so leid – in Liebe, Elliott.“
In der Wohnung in Echo Park schließt sich Chiba laut eigenen Angaben im Badezimmer ein, um sich unter der Dusche zu beruhigen. Als sie Schreie hört, stürzt sie aus der Tür – und findet Smith mit einem Messer in der Brust. Sie entfernt die Klinge, ruft einen Krankenwagen. Begleitet von Sirenen bringt man den 34-jährigen ins Krankenhaus, wo er in den frühen Stunden des 21. Oktober seinen Verletzungen erliegt. Es bleibt ein Post-It, auf dem steht: „Es tut mir so leid – in Liebe, Elliott. Möge Gott mir vergeben.“
Ganz so eindeutig, wie Chiba den Hergang schildert, liegen die Indizien jedoch nicht: Zum einen stuft die Gerichtsmedizin die Wunden des Verstorbenen so ein, dass eine Fremdeinwirkung durchaus möglich ist; in seinem Blut lassen sich ausschließlich Psychopharmaka, nicht aber Drogen oder Alkohol nachweisen. Zum anderen hatte Smith erst in der Woche zuvor den Produzenten Larry Crane kontaktiert, um sein Album fertigzustellen: „Es scheint surreal, dass er mich dafür anruft, nur, um sich eine Woche später das Leben zu nehmen.“
„I’m never gonna know you now, but I’m gonna love you anyhow“
Der Totenschein lässt offen, ob es sich um Mord oder Freitod handelt; beim Los Angeles Police Department bleibt der Fall bis heute ungeklärt. Ganze Websites verschreiben sich möglichen Theorien um die Rolle Chibas und der Aufklärung des Falles. Eigentlich sollte man sich beim Erbe Smiths aber auf seine wunderbare Pop-Musik konzentrieren, und die Lücke, die er hinterlässt. Viele Kreative zollen dem Wunderkind seit dessen Ableben mit eigener Kunst Tribut.
Pearl Jam widmen ihm auf ihrem Konzertmitschnitt Live At Benaroya Hall zum Beispiel den Titel Can’t Keep. Ben Folds schreibt Late, und Third Eye Blind veröffentlichen den Song There’s No Hurry To Eternity, der eigentlich sogar Elliott Smith heißen soll. Moderne Folk-Pop-Koryphäen wie Conor Oberst und Phoebe Bridgers nennen den sensiblen Künstler als großen Einfluss. Die Verwendung in Filmen wie Die Royal Tenenbaums, Stuck In Love, Up In The Air und American Beauty beweist immer wieder, wie zeitlos Smiths Musik ist.
Die Dokumentation Heaven Adores You legt schließlich nahe, dass man den Musiker nicht auf seinen Kampf mit Depressionen und Drogen reduzieren darf. In seiner Musik habe Smith gerade genug Persönliches eingebaut, damit sie berührt, aber genug Raum gelassen, dass sie für die Zuhörenden genau das sein kann, was sie gerade brauchen. Das verlangt Größe. Rest in peace, Elliott.
The Elliott Smith plaque at Portland Oregon’s Lincoln High School, with a sweet line from his “Waltz #2” pic.twitter.com/fIjS6Tytuy
— @eneldesiertoh (@eneldesiertoh) April 9, 2015
Depressiv? Hier bekommst du Hilfe: Wenn du selbst depressiv bist oder Selbstmordgedanken hast, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du Hilfe von Beratern, die dir Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
Tanz am Abgrund: Zum Jubiläum von Elliott Smiths selbstbetiteltem Album

Popkultur
Zeitsprung: Am 30.9.1978 veröffentlicht Gary Moore „Back On The Streets“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 30.9.1978.
von Christof Leim und Tom Küppers
Als Gary Moore am 30. September 1978 Back On The Streets veröffentlicht, hat er schon einige Bands hinter sich. Die Platte erscheint unter eigenen Namen, doch er kann auf helfende Freunde zählen. Insbesondere die Herren Lynott und Downey, zwei alte Bekannte aus Dublin, mischen mit.
Hört hier in Back On The Streets rein:
Klickt auf „Listen“ für das ganze Album.
Dass bei Gary Moore etwas mit Musik gehen würde, zeichnet sich schon früh ab: Mit zehn bekommt er seine erste Gitarre in die Finger, schon im Alter von 16 Jahren wird er 1968 von der Dubliner Band Skid Row rekrutiert (nicht verwandt oder verschwägert mit den gleichnamigen Hardrockern aus New Jersey). Nach dem Ende dieser Truppe gründet er die kurzlebige Gary Moore Band und veröffentlicht 1973 das Quasi-Soloalbum Grinding Stone. 1974 hilft er kurzfristig auf der Bühne und im Studio bei Thin Lizzy aus und betätigt sich parallel bei den Jazzrockern Colosseum II. Als Lizzy Anfang 1977 vor einer gemeinsamen US-Tour mit Queen ohne Gitarrist dastehen, springt Gary wieder ein.
Insbesondere mit Lizzy-Frontmann Phil Lynott versteht sich Moore auf künstlerischer und persönlicher Ebene hervorragend. Doch das Angebot fest bei der seinerzeit populärsten irischen Band einzusteigen, lehnt der Gitarrist noch ab. Zum einen will er seine Colosseum II-Kollegen trotz kommerziellen Misserfolgs nicht im Regen stehen lassen, zum anderen steckt er zu diesem Zeitpunkt schon in den Vorbereitungen für sein erstes „richtiges“ Soloalbum.
Back On The Streets wird im Frühjahr 1978 unter der Aufsicht des legendären Hardrock-Produzenten Chris Tsangarides eingespielt. Neben Studiogrößen wie dem späteren Toto-Schlagzeuger Simon Phillips gastiert mit Phil Lynott und Trommler Brian Downey die Rhythmussektion von Thin Lizzy gleich auf mehreren Stücken. Und auch kompositorisch hinterlässt Lynott deutliche Spuren: Abgesehen von einer gelungenen Neueinspielung des Lizzy-Hits Don’t Believe A Word in balladesker Form profitiert Moore zwei weitere Male von den schöpferischen Fähigkeiten seines Freundes.
Fanatical Fascists zeigt sich von der wuchtigen Simplizität des aufkeimenden UK-Punk inspiriert, für den Lynott große Sympathien hegt. Für die größere Überraschung sorgt Parisienne Walkways: Der gemeinsam von Lynott und Moore geschriebene Schmachtfetzen entpuppt sich als Hit, der im vereinigten Königreich bis auf Position acht der Single-Charts vordringt. Bis heute fesselt die Nummer durch ihre wunderbaren Gitarrenlinien, 2014 trägt sie den japanischen Eiskunstläufer Yuzuru Hanyu gar zum Punkte-Weltrekord im Kurzprogramm. Und selbstverständlich profitiert auch das am 30. September 1978 veröffentlichte Back On The Streets-Album in Sachen Verkaufszahlen von diesem kommerziellen Überraschungserfolg.
Eine weitere denkwürdige (weil einzigartige) Performance gibt es im Januar 1979 im Rahmen der BBC-Sendung The Old Grey Whistle Test zu bestaunen. Für diesen Anlass rekrutiert Moore mit Lynott, Lizzy-Klampfer Scott Gorham, Keyboarder Don Airey und Trommel-Gott Cozy Powell eine All-Star-Truppe ersten Kalibers. Die Interpretationen des Titelsongs von Back On The Street und Don’t Believe A Word sind absolut mitreißend, bei letzterem lässt sich Gary selbst von einer gerissenen Saite nicht aufhalten.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Gitarrist allerdings bereits wieder mit Thin Lizzy im Studio, um als festes Bandmitglied deren Album Black Rose: A Rock Legend (1979) einzuspielen. Jedoch verlässt er die von Drogenproblemen geplagte Band im Sommer während einer laufenden US-Tournee wieder. Von dem Moment an widmet er sich fast ausschließlich seinen musikalischen Alleingängen, mit denen er in den kommenden Jahrzehnten so wohl im Hard Rock als auch im Blues epochale Gitarrengeschichte schreiben wird.
Zeitsprung: Am 30.5.1980 landet Gary Moores G-Force auf dem Rockplaneten.
Popkultur
„Monsters Of California“: Alles über den UFO-Film von Blink-182-Sänger Tom DeLonge
Blink-182-Fans wissen: Frontmann Tom DeLonge hat nicht nur ein Faible für Rock, sondern auch für Roswell. Schon seit vielen Jahren interessiert er sich für UFOs, außerirdische Lebensformen und alles, was damit zu tun hat. Mit Monsters Of California bringt er bald seinen ersten Film raus. Und darin geht es natürlich um …
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Nine von Blink-182 anhören:
… genau. In Monsters Of California hängt der Teenager Dallas Edwards am liebsten mit seinen verpeilten Freund*innen herum. Eines Tages findet die südkalifornische Clique zufällig einige Unterlagen von Dallas’ Vater, die darauf schließen lassen, dass er beruflich mit mysteriösen und paranormalen Ereignissen zu tun hat. Die Jugendlichen verknüpfen ihre Erkenntnisse miteinander, stellen Theorien auf — und werden auf einmal von uniformierten Männern mit Maschinengewehren umstellt. Spätestens jetzt wissen sie, dass etwas Großem auf der Spur sind. Doch sie haben natürlich noch keine Ahnung, wie groß ihre Entdeckung wirklich ist …
Tom DeLonge: Pop-Punk-Ikone und UFO-Fan
Die meisten kennen Tom DeLonge als Sänger und Gitarrist der erfolgreichen Pop-Punks Blink-182. Doch der Kalifornier ist auch ein ausgewiesener Alien-Fan, der sich in seiner Freizeit ausgiebig mit UFO-Sichtungen, Area-51-Theorien, außerirdischen Lebensformen und paranormalen Aktivitäten beschäftigt. (Mit dem Song Aliens Exist vom Blink-182-Album Enema Of The State brachte er DeLonge beiden Leidenschaften 1999 unter einen Hut — und genau diese Nummer ist natürlich auch im Trailer von Monsters Of California zu hören.) Immer wieder hinterfragt und forscht er im Namen der Wissenschaft nach Aliens und sucht Erklärungen für diverse Verschwörungstheorien. Schräg, oder?
DeLonges Engagement geht so weit, dass er am 18. Februar 2017 zum Beispiel den „UFO Researcher of the Year Award“ von OpenMindTV verliehen bekam. 2015 erzählte er in einem Interview von einer mutmaßlichen Begegnung mit Außerirdischen — während eines Camping-Trips nahe der sagenumwobenen Area 51. „Mein ganzer Körper hat sich angefühlt, als sei er statisch aufgeladen gewesen“, versicherte der Sänger. Auch Freunde von ihm könnten über Begegnungen mit Aliens berichten. Außerdem verfüge er über Regierungsquellen und auch sein Telefon sei aufgrund seiner Forschungen schon abgehört worden. Wenn er meint …
Monsters Of California: Wann startet der erste Film von Tom DeLonge?
In den USA läuft Monsters Of California am 6. Oktober 2023 an, doch wann der Streifen in Deutschland erscheinen soll, ist bisher nicht klar. So oder so: Der Trailer verspricht mindestens einen unterhaltsamen Kinobesuch — nicht nur für Blink-182-Fans.
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Popkultur
Zeitsprung: Am 29.9.1986 trumpfen Iron Maiden erneut auf mit „Somewhere In Time“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 29.9.1986.
von Christof Leim
In den Achtzigern stürmen Iron Maiden von einem Triumph zum nächsten. Dabei reiben sie sich fast bis zur Überlastung auf, halten aber konsequent Kurs und Niveau und entdecken neue Sounds. Am 29. September 1986 erscheint Somewhere In Time – und Eddie wird zum Cyborg.
Hier könnt ihr das Album hören:
Die Geschichte von Somewhere In Time beginnt mit völliger Erschöpfung. Kann nach einer Welteroberung schon mal passieren: 1984 hatten die fünf Briten auf der World Slavery Tour elf Monate lang in 28 Ländern auf vier Kontinenten gespielt – und zwar satte 193 Shows vor geschätzten 3,5 Millionen Fans. Der Preis: Bruce Dickinson (Gesang), Steve Harris (Bass), Dave Murray (Gitarre), Adrian Smith (Gitarre) und Nicko McBrain (Schlagzeug) sind fix und fertig. Deshalb fordern die Musiker sechs Monate Pause. Daraus werden zwar nur vier, doch zum allerersten Mal seit Jahren steht die Maiden-Maschine ein Weilchen still.
Neues Spielzeug
Die Konsequenzen hört man: Harris, Smith und Murray experimentieren mit Gitarrensynthesizern, mit denen sich Keyboardsounds über die Gitarre und den Bass erzeugen lassen. Dickinson indes zweifelt an seiner Motivation und will musikalisch in eine andere Richtung. Er komponiert vor allem akustisches (also stromloses, ruhiges) Material, das von den Kollegen und dem Produzenten aber abgelehnt wird. Der Sänger zeigt sich verletzt, freut sich aber darüber, für eine Weile „nur“ singen zu müssen. Für ihn springt Adrian Smith in die Bresche und liefert im Alleingang mehrere fertige Tracks, die auf einhellige Begeisterung stoßen und Somewhere In Time maßgeblich prägen sollten.
Futuristische Fahrzeuge, klassische Patronengurte: Iron Maiden auf dem Pressefoto für „Somewhere In Time“ – Foto: Aaron Rapoport/Promo
Erst im Januar 1986 geht es zurück ins Studio, genauer: in mehrere Studios. Drums und Bass nehmen Iron Maiden in den Compass Point Studios auf den Bahamas auf, in dem auch AC/DC Back In Black eingespielt hatten. Gitarren und Gesänge bringen die Musiker in den Wisseloord Studios im niederländischen Hilversum auf Band, abgemischt wird schließlich in den Electric Lady Studios in New York. Damit wird Somewhere In Time nicht nur zum teuersten Album der bisherigen Bandkarriere, sondern auch zum technisch ambitioniertesten. Wie für die Beständigkeit in der Maiden-Welt der Achtziger typisch, ändert sich an der sonstigen Formel wenig. Die Produktion übernimmt ein weiteres Mal Stammproduzent Martin Birch.
Fünf Minuten mindestens
Somewhere In Time erscheint am 29. September 1986 und steigt in Großbritannien auf Platz drei ein. In den USA schafft die Band mit Platz elf ihre bis dato beste Platzierung. Auf dem Cover prangt natürlich das unvergleichliche Iron Maiden-Monster Eddie in einem aufwändigen Science-Fiction-Gemälde. Schon im Intro der ersten Nummer, dem vom Film Blade Runner inspirierten Quasi-Titelstück Caught Somewhere In Time aus der Feder von Steve Harris, hören die Fans die besagten Gitarren-Synthesizer. Doch am grundsätzlichen Stil von Iron Maiden hat sich nichts geändert. Es galoppiert der Bass, wie es sich gehört, die Gitarren riffen, und Dickinson lässt seine Sirenenstimme aufheulen. Wo Iron Maiden drauf steht, ist Heavy Metal drin, vermutlich bis ans Ende aller Tage. Allerdings klingt Somewhere In Time insgesamt weniger rau, sondern bei gleichem Energieniveau erwachsener, vielschichtiger und, wenn mal so will, futuristischer.
Von den acht Songs fällt keiner kürzer aus als fünf Minuten aus, das Gros stammt von Steve Harris, drei Beiträge kommen von Adrian Smith. Dazu gehört die erste Single Wasted Years, in der Maiden so eingängig klingen wie es nur geht, ohne ihren eigenen Sound zu verlieren. Der Text erzählt von Heimatlosigkeit und Entfremdung – ein klarer Kommentar zur endlosen World Slavery Tour. Als Wasted Years drei Wochen vor dem Album als Single ausgekoppelt wird, sieht man auf dem Cover das Cockpit einer Zeitmaschine, in deren Armaturenbrett sich der Kopf von Eddie spiegelt. Der Grund: Sein neues Aussehen sollte nicht vor Erscheinen des Albums verraten werden, schließlich hat das Maskottchen mittlerweile Kultstatus erreicht.
Auf der Vorabsingle durfte Eddie sich noch nicht ganz zeigen…
Filme und Bücher als Inspiration
Das folgende Sea Of Madness, ein dramatischer Uptempo-Banger, stammt ebenfalls von Smith, setzt aber keine besonderen Akzente. Für Heaven Can Wait, einen Harris-Song über eine Nahtoderfahrung, rekrutieren Maiden die Gäste einer Kneipe, um die „Oh-Oh“ -Fußballchöre im Mittelteil einsingen zu lassen.
Das ebenso harte wie vertrackte The Loneliness Of The Long Distance Runner basiert nicht nur im Titel auf einer Kurzgeschichte des britischen Autoren Alan Sillitoe. Stranger In A Strange Land hingegen geht direkt ins Ohr und wird deshalb als zweite Single ausgekoppelt. Inspiriert wurde Adrian Smith hierfür durch ein Gespräch mit einem Arktisforscher, der einen gefrorenen Körper im Eis gefunden hatte. Vom gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Robert A. Heinlein hingegen leiht sich Smith lediglich den Titel.
Egal, wo und wann: Eddie ist immer cool
Die Credits für Deja-Vu teilt sich Harris mit Dave Murray, der im Schnitt für jedes zweite Album einen Song beisteuert. Alexander The Great stammt vom Bassisten alleine und reiht sich mit einer Spielzeit von achteinhalb Minuten in den Reigen der großen Maiden-Epen ein, diesmal mit explizit historischem Bezug.
Ein Cover wie ein Bildband
Ein sicherer Hit ist zweifelsfrei das Artwork der Platte: Hier steht Eddie als Weltraum-Terminator mit Cyborg-Auge und Laserpistolen in einer futuristischen Stadt, die vor Details nur so überquillt. Der Künstler Derek Riggs, der Künstler hinter diesem Werk, erinnert sich an den Arbeitsauftrag: „Wir haben uns eigens in Amsterdam getroffen und drei Tage lang über das Cover gesprochen. Sie wollten eine Kulisse wie in Blade Runner, eine Science-Fiction-Stadt.“ Um das zu erreichen, erschafft Riggs eine Skyline mit Werbeslogans und Firmennamen, die er größtenteils erfindet, um Copyright-Probleme zu vermeiden. Dabei dreht er richtig auf und auch ein wenig durch.
Immense Detailfülle und jede Menge versteckte Späßchen: Das Artwork aus der Feder von Derek Riggs
Wer genau hinguckt, kann unter anderem erkennen: den Sensenmann und die Katze mit Heiligenschein von Live After Death, den abstürzenden Himmelsstürmer aus Flight Of Icarus, ein Flugzeug über der „Aces High Bar“ , das „Ancient Mariner Seafood Restaurant“, ein Straßenschild zur „Acacia Avenue“ , ein Konzertposter mit dem Ur-Eddie, die Dame aus Charlotte The Harlot, die Tardis aus Doctor Who, Batman, eine Uhr, die zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt, das „Phantom Opera House“ , den Ruskin Arms Pub (eine der ersten Spielstätten der Band) sowie die exakt gleiche Straßenlaterne wie auf dem Cover des Debüts. Irgendwo steht sogar auf Japanisch „Pickelcreme“ , auf Russisch „Joghurt“ und in Spiegelschrift „Dies ist ein sehr langweiliges Gemälde“. Drei Monate sitzt Derek Riggs an dem Werk, mitgezählt eine mehrwöchige Zwangspause, weil er irgendwann Halluzinationen bekommt und aussetzen muss. Kurzum: Das Cover ist Wahnsinn. Und absolut großartig.
…und die Rückseite ist genauso bombastisch.
Auf die Straße. Natürlich.
Natürlich geht es für die fünf Musiker umgehend auf Konzertreise: Der Somewhere On Tour getaufte Trek zieht von September 1986 bis Mai 1987 um die Welt, mit dabei ein überdimensionaler Cyborg-Eddie, der über die Bühne spaziert, zwei riesige Podeste rechts und links in Form von Monsterkrallen, eine aufwändige, sehr helle Lightshow sowie ein pulsierendes Leuchtherz als Teil von Bruces Bühnenoutfit.
Somewhere On Tour: Dave Murray schreddert, Eddie guckt kritisch – Foto: Ebet Roberts/Redferns/Getty Images
So stressig und geradezu selbstmörderisch wie zwei Jahre zuvor auf der World Slavery Tour sollte es jedoch nicht mehr werden, auch die Zeiten, in denen Iron Maiden jedes Jahr ein Album und eine Welttour hinlegen, sind mit Somewhere In Time vorbei. Doch die Metal-Weltherrschaft der Achtziger haben Iron Maiden da längst inne.
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