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Popkultur

Review: Metallica verneigen sich auf „72 Seasons“ vor sich selbst

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Metallica
Titelfoto: Timothy Saccenti/Universal Music

Metallica haben mit 72 Seasons ihr loderndes Mantra für Erlösung vorgelegt. Musikalisch treiben sie ihre Dämonen bei einem knallharten Ritt durch ihre 40 gemeinsamen Jahre aus. Das sorgt für viele intensive Höhepunkte. Und kleinere Durststrecken.

von Björn Springorum

Hier könnt ihr euch 72 Seasons anhören:

Machen wir uns nichts vor: Metallica werden nie wieder ein Master Of Puppets veröffentlichen. Und warum auch? Haben sie ja schon. Anstatt also immer wieder nur der guten alten Zeit hinterherzutrauen, in denen Hetfield mit Schnauzer, langen Haaren und extrem tighter Hose für einen Vulkanausbruch nach dem anderen gesorgt hat, sollten wir einfach mal wieder das Privileg genießen, in derselben Zeit zu leben wie die größte Metal-Band der Welt. Die wenigsten von uns werden die Beatles live erlebt haben; Metallica aber, die gibt es noch. Und wie.

Fast 240 Jahre geballte Erfahrung

Die Band hat immer das gemacht, was sie für richtig hielt. Diese Konsequenz legen wenige Bands dieser Größenordnung vor – und doch werden Metallica genau dafür immer wieder kritisiert. Als bei Load die Haare fielen und das Make-Up kam, als sie mit Lou Reed der schwer verdaulichen Avantgarde frönten, als sie auf St. Anger irgendwie halbgar und mit unverständlichen Schepper-Sound versuchten, sich ihren Dämonen zu stellen… all das waren wichtige Eckpunkte, ohne die es die Band heute wahrscheinlich nicht mehr geben würde. Und eine Welt ohne Metallica wäre ja wohl immer noch das blödeste Szenario, wie wir uns hoffentlich alle einigen können.

Doch Metallica gibt es eben immer noch. Aller Häme sind sie ungebrochen relevant und erfolgreich, sind immer noch verdammt hungrig auf die Musik, die sie seit über 40 Jahren mitprägen und am Leben halten. Kirk Hammett ist 60, James Hetfield und Lars Ulrich ziehen beide dieses Jahr nach, Rob Trujillo ist 58. Dafür ist das Energielevel auf ihrem elften Album 72 Seasons geradezu beängstigend hoch. Fast 240 Jahre haben die vier Mitglieder auf dem Tacho, spielen aber, als wären sie halb so alt. Das macht ihnen in diesem Alter keiner nach, ganz einfach.


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Härter klang die Band seit 1988 nicht

72 Seasons ist ein Album von beeindruckender Wucht und Intensität. Ein Manifest für Erlösung und Self-Care, eine intime Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche und den Schatten, die wir durchs Leben tragen – laut und scharfkantig herausgebrüllt als ginge es ums nackte Überleben Stakkato-Riffs fürs Seelenheil. Und vielleicht geht es das ja auch. Man darf ja tatsächlich nicht vergessen, dass das hier eine Band ist, die Stadien füllt. Dafür klingt das Album fast schon frech hart, brachial, düster und druckvoll. Schon witzig, dass hier manche immer noch von Sell-Out reden: Härter klang die Band seit 1988 nicht.

Es ist wie immer ein wenig zu lang, das Album. Seit Load sprengen alle Platten die 70-Minuten-Marke, da hätten es auch diesmal wieder zwei, drei Songs und das eine oder andere allzu ausgedehnte Intro weniger getan. Aber natürlich ist es dasselbe, sich über ein zu langes Album zu beschweren wie über einen zu langen Kneipenabend mit der Gang. Was zählt, ist schließlich die Qualität. Und die ist auf 72 Seasons so hoch wie zuletzt auf der Schwarzen. Ein wenig riecht das Album allerdings auch nach einem finalen Monument, einem gewaltigen letzten Aufbäumen. Nach einer letzten großen Geste, bevor der Vorhang fällt. Und wer weiß: Sieben Jahre haben Metallica für den Nachfolger zu Hardwired… To Self-Destruct gebracht. Noch mal so lang und die vier gehen auf die 70 zu. Egal, erst mal nicht daran denken.

Am Ende lauert ein Monster

Viele Songs blicken aber vielleicht deswegen bewusst zurück auf ihre beispiellose Karriere und klingen ein bisschen so, als wären sie nach einer zünftigen Garagensession entstanden, bei der man man wieder die ganz alten Songs runtergeholzt hat. Das bereits bekannte Lux Æterna ist eine Verbeugung vor ihren NWOBHM-Helden, Room Of Mirrors hat eindeutige Ride The Lightning-Vibes, Chasing Light zündet dafür mit Master Of Puppets im Geiste, You Must Burn! könnte im Grunde auf der Schwarzen stehen. Too Far Gone verbreitet Hard-Rock-Vibes wie zuletzt bei Load, während das klare Albumhighlight ganz am Schluss wartet: Inamorata, ein elfminütiges Monster als dynamische Vexierspiel und alles überstrahlendes Epos.

Fast ist der Song zu gut, weil er am Ende etwas offenbart, das man durchaus als Kritikpunkt sehen kann: Die meisten Songs auf 72 Seasons sind relativ straight gestaltete, knallharte Nummern ohne große Tempowechsel oder Ruhemomente. Architektonisch aber nur auf den ersten Blick simpel: Es steckt mehr in den Arrangements als man beim ersten Hören erahnt. Dennoch: Zwischendrin fehlen Songs wie Wherever I May Roam oder One. Selbst eine Ballade wäre willkommen. Doch Metallica sind gnadenlos. Sie lassen nicht locker, verbeißen sich in ihre existentiellen Themen. Danach fühlt man sich geläutert. Katharsis eben, und zwar eine ganz laute.

Fatalistisches Sperrfeuer

Als bestes Metallica-Album wird 72 Seasons nicht in die Geschichte eingehen. Als bestes Metallica-Album, das die Band im 21. Jahrhundert machen konnte, aber eben schon. Als fast schon fatalistisches Metal-Sperrfeuer von regelrecht trotziger Ruppigkeit wird es einen besonderen Platz in der Metallica-Diskografie bekommen. Das liegt auch am Inhalt: James Hetfield arbeitet sein Leben auf und stellt frühkindliche Prägung in den Mittelpunkt. Wann und wo bekommen wir die Dämonen mit auf den Weg, die wir alle mit uns herumtragen? Sind wir von Grund auf gut oder schlecht? Was machen wir mit der Dunkelheit in uns Da passt auch das Cover: Das Kinderbett als Knast, aus dem man ausbrechen muss. Fakt ist: Persönlicher, verletzlicher und offener ist uns Hetfield noch nie begegnet. Da passt auch, dass er höher singt als zuletzt, mehr Melodie in der Stimme zulässt und auch in dieser Abteilung nach den frühen Achtzigern klingt.

72 Seasons ist ein Riff-Fest, bei aller Kompaktheit dennoch nicht sofort zu durchdringen und für Metallica-Gelehrte ein Freudenfest an Easter Eggs und Referenzen an die eigene Karriere. Die Band hatte Bock auf Metal alter Schule, das spürt man. Für Balladen ist da einfach kein Platz gewesen. Wohl aber für Lars Ulrichs einzigartigen Drum-Stil. Akzentuierter und verbindender kann man ein Metal-Schlagzeug einfach nicht spielen. Sorry, Hater. Ist so. Ein Wort eben noch zum ewigen Metallica-Reizthema Produktion: Greg Fidelman lässt die Band röhren, jaulen und kreischen, passt die rifflastigen Brecher in ein dichtes, aber nicht überproduziertes Gewand. Alles richtig gemacht also? Das nicht. Aber verdammt wenig falsch gemacht eben schon.

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