------------

Popkultur

RIO REISER – EIN LEBEN ZWISCHEN POESIE UND AKTIVISMUS

Published on

Heute jährt sich der Todestag von Rio Reiser zum 20. Mal. Rios Ableben lässt Freunde zeitgenössischer Kunst nicht nur an sein popkulturelles Vermächtnis mit Ton Steine Scherben oder solo denken, sondern an einen Feingeist, der sich aufmachte, allzugerne Salz in die Wunden der deutschen Tristesse zu streuen, 1970 einen gewagten Tabubruch mit seinem öffentlichen Coming Out zu begehen, die rechtsextreme Störkraft in einer Talkshow komplett zu demontieren oder seine Fans schlichtweg mit wunderschönen Balladen wie Für immer und Dich zu verzaubern.


Am 9. Januar erblickte Ralph Christian Möbius – so Reisers bürgerlicher Name – im damaligen West-Berlin das Licht der Welt. Im Laufe seiner Kindheit und Jugend zog er mit seiner Familie aufgrund des Ingenieurberufs seines Vaters mehrfach um, was zur Folge hatte, dass sich der junge Ralph nirgends richtig zuhause fühlte. Eine Art Ersatzheimat fand er in der Musik. Erst standen auf dem Ortsschild die Fab Four, später wurden diese von den in der damaligen Zeit als äußerst reaktionär angesehen Rolling Stones abgelöst. Den Einfluss von Keith Richards hörte man bis zuletzt auf seinen Platten, denn in Sachen Gitarren und Verstärker standen bei Rio bevorzugt Fender Stratocaster und Telecaster Modelle respektive Fender Twin und Champ Amps in ähnlichen Ausführungen seines Idols im Studio.

Als Möbius die Schulbank drückte merkte er schnell, dass der „normale“ Weg nicht seiner sein würde. Ralph beendet daraufhin aus eigenen Stücken seine Pennälerlaufbahn und startete eine Fotografenlehre. In dieser Zeit vertiefte der „Heimatlose“ seine Wurzeln in Sachen Musik. Autodidaktisch erlernte der Teen das Gitarren- und Klavierspiel sowie weitere Instrumente.


Rio Reiser


Anfang 1966 traf der Auszubildende R.P.S. Lanrue, mit dem er nach ersten Gehversuchen in einer Coverband 1970 die legendären Ton Steine Scherben gründete. Da Ralph mit seinem bürgerlichen Namen alles andere als zufrieden war, musste ein Künstlerpseudonym her. Angelehnt an die Hauptfigur des gleichnamigen Romans „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz in Kombination mit dem chic klingenden Vornamen Rio kreierte Möbius eine der markantesten Trademarks der deutschen Popkultur.

Im Jahr Null von Ton Steine Scherben erlaubte sich Reiser seinen ersten extrem mutigen Fauxpas: Er outete sich öffentlich als homosexuell. In der damaligen Bundesrepublik standen „sexuelle Handlungen zwischen zwei Personen männlichen Geschlechts“ gestützt durch §175 (außer Kraft seit 11.06.1994 – Anm.d.A.) unter Strafe. Nicht nur der Staatsgewalt zum Trotz, sondern auch mit erhobener Flagge gegen die Doppelmoral des Spießbürgertums zog Rio seine Mission ohne Rücksicht auf etwaige Folgen durch.


In dieser Zeit des Umbruchs gab es in Deutschland allerdings noch ein „paar“ mehr Baustellen, gegen die man sich als aufstrebender „Revoluzzer“ (So der gängige „Fachbegriff“ des Establishments für Personen Reisers Couleur in den 70ern – Anm.d.A.) vehement aufbegehren musste. Macht kaputt, was euch kaputt macht oder Keine Macht für Niemand sind dafür die bekanntesten lyrischen Beispiele aus der Diskographie von Ton Steine Scherben. Unterlegt mit rauen, fast schon die Punk Rock Bewegung vorwegnehmenden simplen, auf den Punkt gebrachten Rock‘n’Roll entwickelten Rios Texte ihre volle Wirkung. Unbequem, frisch und über alle Maßen intelligent. Reiser sah in der Retrospektive seinen Aktivismus in der linken Szene als „reisende Propaganda Musikbox“ zum schnöden „antörnen der Zielgruppe“ instrumentalisiert.

Trotz großen Erfolgs waren Ton Steine Scherben Anfang der 80er pleite. Um sich als „Selbstvermarkter“ und linke Ikonen der Republik nicht an die Industrie verkaufen zu müssen legten Reiser, Lanrue und Co. die Band auf Eis. 1985 folgte die Auflösung.


 Schaut euch hier ein Live-Video von Alles Lüge an:


Mit der Unterstützung von Annette Humpe, die ebenfalls ihre Combo Ideal ad acta packte startete der inzwischen Vierunddreißigjährige 1984 mit der Single „Dr. Sommer“ seine Solokarriere. Bis zum Debüt Rio I. (1986) sollten mehr als zwei Jahre seit dieser ersten Duftmarke ins Land ziehen. Dafür wartete das Erstwerk mit gleich vier der größten Evergreens deutschsprachiger Musikgeschichte auf: Alles Lüge, König von Deutschland und den wunderschönen, gefühlvollen Balladen Junimond und Für immer und dich. Reiser schuf sich mit viel Stil quasi über Nacht ein neues, breitgefächertes Publikum und empfahl sich darüber hinaus als Texter für Künstler wie Klaus Lage, Marianne Rosenberg oder dem singenden Schauspieler Uwe Ochsenknecht.


Schau dir hier eine Live-Version von Für immer und dich an:


Rio vergaß allerdings nie seine politischen Wurzeln. Zu Beginn der 90er war er aktives Mitglied der PDS und lies es sich auch nicht nehmen in der plakativen Sat.1 Talkshow „Einspruch!“ mit dem „Aushängeschild“ der damals im Untergrund gefährlich aufkeimenden Rechtsrockszene Störkraft vor laufender Kamera zu diskutieren. Dabei zeigte sich Reisers Gespür die plumpen „Argumente“ der Neofaschisten im Keim zu ersticken. Später stiegen einige Mitglieder der Gruppe öffentlich – deren Manager sogar unter der Ägide des inzwischen ebenfalls verstorbenen Christoph Schlingensief – aus der rechten Szene aus. Eventuell gab Rio Reiser dazu einen ersten und vehementen Denkanstoß.


Schaut euch hier ein Interview mit Rio Reiser über Tod und Todessehnsucht an:


In den Sommermonaten 1996 zog es Rio trotz seines schlechten Gesundheitszustands auf eine ausgedehnte Tour quer durch Deutschland. Zu einem Konzert sollte es allerdings nicht mehr kommen, denn seine Verfassung verschlechterte sich zusehends. Am 20. August desselben Jahres verstarb er an einem durch innere Blutungen hervorgerufenen Kreislaufversagen. Sein Sarg wurde mit Sondergenehmigung auf Fresenhagen 11 in Nordfriesland beigesetzt. 2011 trat Reiser dann seine unwiderruflich letzte Reise an. Nach dem Verkauf seines Hofs betteten seine Angehörigen den Leichnam auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin Schöneberg um.


Schau dir hier dir eine Live-Version von Junimond auf einem Konzert in Stuttgart an:


Don't Miss