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Popkultur

Rudeboys, Rastas, Raggamuffins – in fünf Minuten durch die Geschichte des Reggae

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Jamaika! Kein Musik-Fan kommt an dieser karibischen Insel vorbei, die weniger Einwohner hat als Berlin. Den Einfluss jamaikanischer Musiker und Produzenten hört man heute überall. Der Hip Hop verdankt den Sound-Systems und seinen Deejays viel, ebenso die elektronische Dancefloor-Musik, und kein Singer-Songwriter kann den Einfluss Bob Marleys ignorieren. Pünktlich zum Winter: die große Story des Sonnenschein-Sounds – von Ska über Reggae bis zum Dancehall.

 


Höre hier in frühe & wegweisende Reggae-Hymnen, während Du den Artikel liest:




 

Die Anfänge der jamaikanischen Popmusik liegen am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Welle jamaikanischer Gastarbeiter wirkte beim Bau des Panama-Kanals mit und geriet dort in einen musikalischen Schmelztiegel aus Tango, Calypso, Samba und der kubanischen Rumba, woraus sich ein eigener Stil namens Mento entwickelte. Seine Wurzeln sind die afrikanischen Nyabinghi-Trommelrhythmen, die mit der Sklaverei auf die Insel gelangten.

Spürbar entwickelte sich der jamaikanische Sound dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in den 1950ern, in den Armenvierteln von Kingston. Die ersten DJs waren Schnapsverkäufer. Sie spielten Musik vor ihren Läden, um Kunden anzulocken, packten bald darauf einen Stromgenerator, Plattenspieler und riesige Lautsprecher in ihre Lastwagen, fuhren auf irgendeinen günstig gelegenen Platz, und die Party konnte beginnen.

 

Wake the town and tell the poeple – Die Ära der Soundsystems

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Zur Mitte der 1950er gibt es zwei führende dieser Sound-Systems: das von Clement “Coxsone” Dodd, und das von Duke Reid. Coxsone trägt den Beinamen Downbeat Ruler. Duke Reid kennt man als den Trojaner. Auf die Seiten seines 7-Tonners, in dem der ehemalige Polizist sein Equipment transportiert, hat er den heute berühmten Trojanerkopf seines späteren Labels gemalt. Ihre Anhänger gleichen heutigen Fußballfans. Die Sound-Systems treten direkt gegeneinander an. Wer hat die stärkere Anlage? Das Wettrüsten bringt speziell angefertigte, Wandschrank-große Lautsprecher hervor. Noch wichtiger: Wer hat die bessere Musik, die aktuelleren Singles? Zu Beginn triumphiert der mit den neusten Platten aus den USA. Das Beschaffen solcher Platten wird zu aufwändig, also hilft man sich selbst. Dodd und Reid gründen eigene Plattenfirmen: Studio-1 und Trojan. Neben diesen beiden wird das Island-Label des weißen Jamaikaners Chris Blackwell zum Paten der jamaikanischen Popmusik. 1958 nimmt der 21-Jährige 1000 Pfund in die Hand, um fortan “Platten zu machen, die in der Zeit bestehen können”.

Zuerst klingen diese Singles dem US-amerikanischen R&B sehr ähnlich, driften dann immer mehr davon ab. Dodd und Reid besinnen sich auf ein Element traditioneller jamaikanischer Mento-Musik: den Off-Beat-Schlag von Gitarre und Snare-Drum auf der 2 und 4. Das erste typisch jamaikanische Pop-Genre tauft man Ska. Es kommt 1962 im Zuge der Unabhängigkeit Jamaikas von der britischen Krone auf, untermalt den neuen Nationalstolz auf der Insel.

Die Unabhängigkeit bringt nicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung, im Gegenteil: die soziale Schere geht auf Jamaika noch weiter auseinander. Slums wie Trenchtown breiten sich um Kingston herum immer weiter aus. Zu Beginn der 1960er ist ein Drittel der erwachsenen jamaikanischen Bevölkerung arbeitslos, und 70% der Bevölkerung unter 21. Auch im Machtkampf zwischen den Sound-Systems werden die Bandagen härter. Ab Mitte der Dekade stellen manche Betreiber jugendliche Rabaukengangs in ihre Dienste: die notorischen Rude Boys, damit sie die Tanzveranstaltung eines Mitbewerbers aufmischen. In scharfen Anzügen, mit Sonnenbrillen und Porkpie-Hüten, beziehen sich diese 14- bis 24-Jährigen auf damalige US-Gangsterfilme und Westerns. Songs wie “Don´t Be A Rudeboy” von The Ruler und “Simmer Down” von den Wailers wollen sie in die Schranken weisen.


Der Sommer 1966 markiert das Ende von Ska auf Jamaika. Zeitzeugen behaupten, er wäre selbst für Jamaika unglaublich heiß gewesen, so dass keiner mehr die schnellen Tanzschritte des Ska ausführen konnte. Sein Nachfolger heißt Rocksteady. Vom Tempo langsamer als Ska, wird hier der Bass zum virtuosen Hauptinstrument der Musik, was sich später im Reggae fortsetzen wird.

Über jamaikanische Emigranten finden Ska und Rocksteady in England ein ganz eigenes Publikum: die Mods und die Skinheads. Den Namen bekommen letztere durch ihre auf 2-3 Millimeter rasierte Kopfbehaarung. Getragen werden karierte Button-Down-Hemden zu Hosenträgern, gerade geschnittene Jeans, oft hochgekrempelt, und die säurefesten Gesundheitsschuhe von Doc Martens. Der unbekümmerte jamaikanische Sound, insbesondere des Trojan-Labels, passt perfekt ins Weltbild der Skinheads, die weder etwas mit der psychedelischen Hippiebewegung anfangen konnten, noch mit der Studentenbewegung der späten 60er und erst Recht nichts mit dem Bubblegum-Pop jener Ära.

1969 kommt der kommerzielle Durchbruch mit Tony Tribes Version des Neil Diamond-Songs “Red Red Wine”, gefolgt von Desmond Dekkers “The Israelites”, der Platz 1 in England erobert und auch in Deutschland zum Sommerhit wird. Im Herbst des Jahres zieht Jimmy Cliff mit “Wonderful World, Beautiful People” nach. Neue Talente streben nach oben, darunter Dennis Brown und der Lovers-Rocker Gregory Isaacs, ebenso der Toaster (Sprechsänger) U-Roy und nicht zuletzt ein Trio namens The Wailers, aus dem später Bob Marley & The Wailers hervorgehen.

Parallel hierzu entsteht Ende der 1960er in Jamaika ein ganz eigenes Sub-Genre namens Dub, als ein Produzent beim Pressen eines Muster-Vinyls (genannt Dubplate) die Gesangsspur des Songs vergaß. Schnell entwickelt sich hieraus eine eigene Form. Schwere Bässe, Echos und Sound-Effekte werden zur Plattform für neue Versionen alter Songs. Produzenten wie King Tubby, Lee “Scratch” Perry oder Lloyd “Prince Jammy” James entwickeln den Dub immer weiter. Die heutige DJ-, Dance- und Remix-Kultur fußt auf diesem Genre!

The harder they come – Popularisierung


The Harder They Come from Dustin Lynn on Vimeo.

Den Weg zum internationalen Durchbruch des Reggaes ebnet 1972 der Kinofilm “The Harder They Come”: ein wütendes Gangster-Epos, eine raue Robin Hood-Saga, Jamaikas Antwort auf US-amerikanische Blaxpolitation-Filme wie “Shaft” oder “Superfly”. Produzent des Films ist der Island-Labelchef Chris Blackwell. Eine essentielle Band auf dem Soundtrack sind die Maytals. Das ehemalige Ska-Trio liefert hier einen paradigmatischen jamaikanischen Song ab: “Pressure Drop”, gecovert von The Clash und Robert Palmer. Die Hauptrolle in “The Harder They Come” spielt der Sänger Jimmy Cliff. Über den Film hinaus hat Blackwell die Vision, aus ihm einen sexy Rebellentypen für den Rockmarkt zu machen. Der Film wird zum popkulturellen Meilenstein, irgendwo zwischen “The Wild One” und “City Of God”, doch Cliff nimmt den Hut. Blackwell findet den rebellischen Protagonisten seiner Träume, als kurz darauf Bob Marley in seinem Büro erscheint. Gemeinsam stellen sie die Weiche für den weltweiten Siegeszug des Roots-Reggaes.

Bob Marley Live

Bob Marley Live

Jetzt hier lesen: Bob Marley – Botschafter des Reggae und friedlicher Revolutionär

Brüder, zur Sonne, zum Reggae! Die Roots-Bewegung spiegelt in den 1970ern den Zeitgeist. Burning Spear, Black Uhuru, Third World und viele andere begeistern in der Alternativ- und in der Punk-Szene. Über allen thront der Reggae-Messias Bob Marley. Immer noch ist er der einzige globale Superstar aus der Dritten Welt und quasi im Alleingang hat er die Reggae-Kultur Jamaikas bis in den letzten Winkel unseres Planeten gebracht. Marleys Musikerkarriere begann 1963 in der Ska-Band The Teenagers, aus der The Wailers hervorgingen. 1973 wird er mit seinem “Catch A Fire”-Album zum Botschafter der Rasta-Kultur. Zu Hause vereint er die Menschen auf der von bürgerkriegsähnlichen Zuständen zerrütteten Insel. Nur John Lennon wurde bei seinem Tod ebenso betrauert. Das New Yorker Time-Magazine brachte Bob Marley 1981, als er mit nur 36 Jahren starb, auf dem Titel und erklärte Marleys “Exodus”-Album zum “größten Album des 20. Jahrhunderts”. Mit “Legend” erschien 1984 posthum das meisterverkaufte Reggae-Album aller Zeiten. 2012 hat der Dokumentarfilm “Marley” des britischen Oscar-Preisträgers Kevin MacDonald Schlagzeilen gemacht. Das gleichnamige Soundtrack-Album zog international in die Top-20 der Reggaecharts ein.

Der Tod Bob Marleys tritt zum Beginn der 1980er einen Erdrutsch in der Reggae-Kultur los. Der Roots-Reggae verschwindet, ein neues Genre namens Dancehall taucht auf und überrollt Jamaika flächendeckend. Wichtigste Produzenten des Genres werden Henry “Junjo” Lawes, dessen Platten für den Albino-Sänger Yellowman, Eek-A-Mouse und Barrington Levy den Dancehall definieren, und Lloyd “King Jammy” James, ehemals “Prince Jammy”, oben erwähnter Dub-Spezialist. Mit digital produzierten Beats und Texten über Sex und Gewalt steht dieser Sound in totalem Gegensatz zu den Rastaman Vibrations der Roots-Ära und wird zum jamaikanischen Pendant des US-amerikanischen Gangsta-Raps. Ins Bild passt, dass Lawes später bei einem Attentat in London stirbt.

Zeitgleich feiert der frühe Reggae, insbesondere des Trojan-Labels, ein Revival mit der Wiedergeburt der Mods in England und wird danach zur festen Konstante im Pop: The Specials, Fishbone, Maldita Vecindad, No Doubt…zig Bands haben diesen Stil wiederbelebt.

In den frühen 1990ern wird der Dancehall-Sound immer skandalöser, gipfelnd im homophoben Track “Boom Bye Bye” des Kingstoner Deejays und Sängers Buju Banton – neben Shabba Ranks der Top-Raggamuffin auf der Insel – der die junge jamaikanische Szene in Verruf bringt. Mit seinem 1995 beim Island-Label erschienen Album “Til Shiloh” zeigt Banton sich geläutert. Im Rückenwind gibt es eine ganze Welle von Dancehall-Stars, die zur Rasta-Religion konvertieren, darunter Sizzla und Capleton, während der Dancehall-Rapper Sean Paul in Richtung Hip Hop und R&B ausschwärmt.


Im 21. Jahrhundert hat sich der Kreis zum Roots-Reggae mit verschiedenen großartigen Alben von zwei Söhnen Bob Marleys weiter geschlossen: Damian Marley mit “Welcome to Jamrock” (2005) und Stephen Marley, der 2012 einen Grammy für “Revelation Part 1: The Root of Life” gewann.

Jamaika, mitten in einem Ozean aus Musik, strahlt weiter in die Popwelt. Hier gibt es für jeden Musikfan zwischen Ska, Reggae, Punk, Jazz, R&B und Hip Hop viel zu entdecken!

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Popkultur

„Monsters Of California“: Alles über den UFO-Film von Blink-182-Sänger Tom DeLonge

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Tom DeLonge HEADER
Foto: Christopher Polk/Getty Images

Blink-182-Fans wissen: Frontmann Tom DeLonge hat nicht nur ein Faible für Rock, sondern auch für Roswell. Schon seit vielen Jahren interessiert er sich für UFOs, außerirdische Lebensformen und alles, was damit zu tun hat. Mit Monsters Of California bringt er bald seinen ersten Film raus. Und darin geht es natürlich um …

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch Nine von Blink-182 anhören:

… genau. In Monsters Of California hängt der Teenager Dallas Edwards am liebsten mit seinen verpeilten Freund*innen herum. Eines Tages findet die südkalifornische Clique zufällig einige Unterlagen von Dallas’ Vater, die darauf schließen lassen, dass er beruflich mit mysteriösen und paranormalen Ereignissen zu tun hat. Die Jugendlichen verknüpfen ihre Erkenntnisse miteinander, stellen Theorien auf — und werden auf einmal von uniformierten Männern mit Maschinengewehren umstellt. Spätestens jetzt wissen sie, dass etwas Großem auf der Spur sind. Doch sie haben natürlich noch keine Ahnung, wie groß ihre Entdeckung wirklich ist …

Tom DeLonge: Pop-Punk-Ikone und UFO-Fan

Die meisten kennen Tom DeLonge als Sänger und Gitarrist der erfolgreichen Pop-Punks Blink-182. Doch der Kalifornier ist auch ein ausgewiesener Alien-Fan, der sich in seiner Freizeit ausgiebig mit UFO-Sichtungen, Area-51-Theorien, außerirdischen Lebensformen und paranormalen Aktivitäten beschäftigt. (Mit dem Song Aliens Exist vom Blink-182-Album Enema Of The State brachte er DeLonge beiden Leidenschaften 1999 unter einen Hut — und genau diese Nummer ist natürlich auch im Trailer von Monsters Of California zu hören.) Immer wieder hinterfragt und forscht er im Namen der Wissenschaft nach Aliens und sucht Erklärungen für diverse Verschwörungstheorien. Schräg, oder?

DeLonges Engagement geht so weit, dass er am 18. Februar 2017 zum Beispiel den „UFO Researcher of the Year Award“ von OpenMindTV verliehen bekam. 2015 erzählte er in einem Interview von einer mutmaßlichen Begegnung mit Außerirdischen — während eines Camping-Trips nahe der sagenumwobenen Area 51. „Mein ganzer Körper hat sich angefühlt, als sei er statisch aufgeladen gewesen“, versicherte der Sänger. Auch Freunde von ihm könnten über Begegnungen mit Aliens berichten. Außerdem verfüge er über Regierungsquellen und auch sein Telefon sei aufgrund seiner Forschungen schon abgehört worden. Wenn er meint …

Monsters Of California: Wann startet der erste Film von Tom DeLonge?

In den USA läuft Monsters Of California am 6. Oktober 2023 an, doch wann der Streifen in Deutschland erscheinen soll, ist bisher nicht klar. So oder so: Der Trailer verspricht mindestens einen unterhaltsamen Kinobesuch — nicht nur für Blink-182-Fans.

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blink-182: Alle Studioalben im Ranking

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Popkultur

Zeitsprung: Am 29.9.1986 trumpfen Iron Maiden erneut auf mit „Somewhere In Time“.

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Foto: Cover

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 29.9.1986.

von Christof Leim

In den Achtzigern stürmen Iron Maiden von einem Triumph zum nächsten. Dabei reiben sie sich fast bis zur Überlastung auf, halten aber konsequent Kurs und Niveau und entdecken neue Sounds. Am 29. September 1986 erscheint Somewhere In Time – und Eddie wird zum Cyborg.

Hier könnt ihr das Album hören:

Die Geschichte von Somewhere In Time beginnt mit völliger Erschöpfung. Kann nach einer Welteroberung schon mal passieren: 1984 hatten die fünf Briten auf der World Slavery Tour elf Monate lang in 28 Ländern auf vier Kontinenten gespielt – und zwar satte 193 Shows vor geschätzten 3,5 Millionen Fans. Der Preis: Bruce Dickinson (Gesang), Steve Harris (Bass), Dave Murray (Gitarre), Adrian Smith (Gitarre) und Nicko McBrain (Schlagzeug) sind fix und fertig. Deshalb fordern die Musiker sechs Monate Pause. Daraus werden zwar nur vier, doch zum allerersten Mal seit Jahren steht die Maiden-Maschine ein Weilchen still. 

Neues Spielzeug

Die Konsequenzen hört man: Harris, Smith und Murray experimentieren mit Gitarrensynthesizern, mit denen sich Keyboardsounds über die Gitarre und den Bass erzeugen lassen. Dickinson indes zweifelt an seiner Motivation und will musikalisch in eine andere Richtung. Er komponiert vor allem akustisches (also stromloses, ruhiges) Material, das von den Kollegen und dem Produzenten aber abgelehnt wird. Der Sänger zeigt sich verletzt, freut sich aber darüber, für eine Weile „nur“  singen zu müssen. Für ihn springt Adrian Smith in die Bresche und liefert im Alleingang mehrere fertige Tracks, die auf einhellige Begeisterung stoßen und Somewhere In Time maßgeblich prägen sollten.

Futuristische Fahrzeuge, klassische Patronengurte: Iron Maiden auf dem Pressefoto für „Somewhere In Time“ – Foto: Aaron Rapoport/Promo

Erst im Januar 1986 geht es zurück ins Studio, genauer: in mehrere Studios. Drums und Bass nehmen Iron Maiden in den Compass Point Studios auf den Bahamas auf, in dem auch AC/DC Back In Black eingespielt hatten. Gitarren und Gesänge bringen die Musiker in den Wisseloord Studios im niederländischen Hilversum auf Band, abgemischt wird schließlich in den Electric Lady Studios in New York. Damit wird Somewhere In Time nicht nur zum teuersten Album der bisherigen Bandkarriere, sondern auch zum technisch ambitioniertesten. Wie für die Beständigkeit in der Maiden-Welt der Achtziger typisch, ändert sich an der sonstigen Formel wenig. Die Produktion übernimmt ein weiteres Mal Stammproduzent Martin Birch.

Fünf Minuten mindestens

Somewhere In Time erscheint am 29. September 1986 und steigt in Großbritannien auf Platz drei ein. In den USA schafft die Band mit Platz elf ihre bis dato beste Platzierung. Auf dem Cover prangt natürlich das unvergleichliche Iron Maiden-Monster Eddie in einem aufwändigen Science-Fiction-Gemälde. Schon im Intro der ersten Nummer, dem vom Film Blade Runner inspirierten Quasi-Titelstück Caught Somewhere In Time aus der Feder von Steve Harris, hören die Fans die besagten Gitarren-Synthesizer. Doch am grundsätzlichen Stil von Iron Maiden hat sich nichts geändert. Es galoppiert der Bass, wie es sich gehört, die Gitarren riffen, und Dickinson lässt seine Sirenenstimme aufheulen. Wo Iron Maiden drauf steht, ist Heavy Metal drin, vermutlich bis ans Ende aller Tage. Allerdings klingt Somewhere In Time insgesamt weniger rau, sondern bei gleichem Energieniveau erwachsener, vielschichtiger und, wenn mal so will, futuristischer.

Von den acht Songs fällt keiner kürzer aus als fünf Minuten aus, das Gros stammt von Steve Harris, drei Beiträge kommen von Adrian Smith. Dazu gehört die erste Single Wasted Years, in der Maiden so eingängig klingen wie es nur geht, ohne ihren eigenen Sound zu verlieren. Der Text erzählt von Heimatlosigkeit und Entfremdung – ein klarer Kommentar zur endlosen World Slavery Tour. Als Wasted Years drei Wochen vor dem Album als Single ausgekoppelt wird, sieht man auf dem Cover das Cockpit einer Zeitmaschine, in deren Armaturenbrett sich der Kopf von Eddie spiegelt. Der Grund: Sein neues Aussehen sollte nicht vor Erscheinen des Albums verraten werden, schließlich hat das Maskottchen mittlerweile Kultstatus erreicht.

Auf der Vorabsingle durfte Eddie sich noch nicht ganz zeigen…

Filme und Bücher als Inspiration

Das folgende Sea Of Madness, ein dramatischer Uptempo-Banger, stammt ebenfalls von Smith, setzt aber keine besonderen Akzente. Für Heaven Can Wait, einen Harris-Song über eine Nahtoderfahrung, rekrutieren Maiden die Gäste einer Kneipe, um die „Oh-Oh“ -Fußballchöre im Mittelteil einsingen zu lassen.

Das ebenso harte wie vertrackte The Loneliness Of The Long Distance Runner basiert nicht nur im Titel auf einer Kurzgeschichte des britischen Autoren Alan Sillitoe. Stranger In A Strange Land hingegen geht direkt ins Ohr und wird deshalb als zweite Single ausgekoppelt. Inspiriert wurde Adrian Smith hierfür durch ein Gespräch mit einem Arktisforscher, der einen gefrorenen Körper im Eis gefunden hatte. Vom gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Robert A. Heinlein hingegen leiht sich Smith lediglich den Titel. 

Egal, wo und wann: Eddie ist immer cool

Die Credits für Deja-Vu teilt sich Harris mit Dave Murray, der im Schnitt für jedes zweite Album einen Song beisteuert. Alexander The Great stammt vom Bassisten alleine und reiht sich mit einer Spielzeit von achteinhalb Minuten in den Reigen der großen Maiden-Epen ein, diesmal mit explizit historischem Bezug.

Ein Cover wie ein Bildband

Ein sicherer Hit ist zweifelsfrei das Artwork der Platte: Hier steht Eddie als Weltraum-Terminator mit Cyborg-Auge und Laserpistolen in einer futuristischen Stadt, die vor Details nur so überquillt. Der Künstler Derek Riggs, der Künstler hinter diesem Werk, erinnert sich an den Arbeitsauftrag: „Wir haben uns eigens in Amsterdam getroffen und drei Tage lang über das Cover gesprochen. Sie wollten eine Kulisse wie in Blade Runner, eine Science-Fiction-Stadt.“ Um das zu erreichen, erschafft Riggs eine Skyline mit Werbeslogans und Firmennamen, die er größtenteils erfindet, um Copyright-Probleme zu vermeiden. Dabei dreht er richtig auf und auch ein wenig durch. 

Immense Detailfülle und jede Menge versteckte Späßchen: Das Artwork aus der Feder von Derek Riggs

Wer genau hinguckt, kann unter anderem erkennen: den Sensenmann und die Katze mit Heiligenschein von Live After Death, den abstürzenden Himmelsstürmer aus Flight Of Icarus, ein Flugzeug über der „Aces High Bar“ , das „Ancient Mariner Seafood Restaurant“, ein Straßenschild zur „Acacia Avenue“ , ein Konzertposter mit dem Ur-Eddie, die Dame aus Charlotte The Harlot, die Tardis aus Doctor Who, Batman, eine Uhr, die zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt, das „Phantom Opera House“ , den Ruskin Arms Pub (eine der ersten Spielstätten der Band) sowie die exakt gleiche Straßenlaterne wie auf dem Cover des Debüts. Irgendwo steht sogar auf Japanisch „Pickelcreme“ , auf Russisch „Joghurt“  und in Spiegelschrift „Dies ist ein sehr langweiliges Gemälde“. Drei Monate sitzt Derek Riggs an dem Werk, mitgezählt eine mehrwöchige Zwangspause, weil er irgendwann Halluzinationen bekommt und aussetzen muss. Kurzum: Das Cover ist Wahnsinn. Und absolut großartig.

…und die Rückseite ist genauso bombastisch.

Auf die Straße. Natürlich.

Natürlich geht es für die fünf Musiker umgehend auf Konzertreise: Der Somewhere On Tour getaufte Trek zieht von September 1986 bis Mai 1987 um die Welt, mit dabei ein überdimensionaler Cyborg-Eddie, der über die Bühne spaziert, zwei riesige Podeste rechts und links in Form von Monsterkrallen, eine aufwändige, sehr helle Lightshow sowie ein pulsierendes Leuchtherz als Teil von Bruces Bühnenoutfit. 

Somewhere On Tour: Dave Murray schreddert, Eddie guckt kritisch – Foto: Ebet Roberts/Redferns/Getty Images

So stressig und geradezu selbstmörderisch wie zwei Jahre zuvor auf der World Slavery Tour sollte es jedoch nicht mehr werden, auch die Zeiten, in denen Iron Maiden jedes Jahr ein Album und eine Welttour hinlegen, sind mit Somewhere In Time vorbei. Doch die Metal-Weltherrschaft der Achtziger haben Iron Maiden da längst inne.

Zeitsprung: Am 28.4.1988 starten Iron Maiden ihre Welttournee in einem Kölner Club.

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Popkultur

„Wicked Game“ von HIM: Wie eine Coverversion den Finnen alle Türen öffnete

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„Wicked Game“ von HIM HEADER

Mit ihrer Coverversion des Chris-Isaak-Hits Wicked Game legten HIM so ziemlich alle Grundsteine für ihre einzigartige Erfolgsgeschichte. Im Folgenden lest ihr, welchen Stellenwert der Song in der HIM-Historie einnimmt und warum die Finnen das Stück mindestens viermal in unterschiedlichen Versionen aufgenommen haben.

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch Greatest Lovesongs Vol. 666 von HIM anhören:

Es ist der Song, der HIM ins Rampenlicht befördert. Schon für ihre Demo This Is Only The Beginning nehmen Ville Valo und seine Bandkollegen eine Coverversion des Chris-Isaak-Klassikers Wicked Game auf und schinden damit jede Menge Eindruck — zum Beispiel bei BMG-Mitarbeiter Asko Kallonen, der die Newcomer sofort unter Vertrag nimmt. Am 19. Oktober 1996 veröffentlichen HIM ihre erste EP und geben der Welt damit einen Vorgeschmack auf eine der letzten großen Karrieren der Rock’n’Roll-Geschichte. 666 Ways To Love: Prologue heißt das gute Stück und die junge Band arbeitet für die Veröffentlichung mit Produzent Hiili Hiilesmaa zusammen, der laut Ville Valo maßgeblich an der Entwicklung des typischen HIM-Sounds beteiligt ist. Auch Wicked Game ist auf der EP zu hören — doch es handelt sich noch lange nicht um die letzte Version des Songs.

Wicked Game: ein melancholischer Love-Song mit großer Bedeutung für HIM

Im Sommer 1997 starten HIM mit der Produktion ihres Debütalbums Greatest Lovesongs Vol. 666. Einmal mehr spielen sie dafür Wicked Game ein, und zwar in der Version, die am 28. September 1998 als Single erscheint und die für viele Rock-Fans der erste Berührungspunkt mit HIM sein dürfte. Wüsste man nicht, dass es sich um eine Komposition von Chris Isaak handelt: Das Stück könnte auch ein Ville-Valo-Eigengewächs sein. Melancholie, Fatalismus, Liebe: Wicked Game enthält alle Trademarks des Finnen, weshalb HIM die Nummer auch bloß nachspielen müssen, um sie sich zu eigen zu machen. Damit heben sie sich von vielen anderen Bands und Musiker*innen ab, denn nur wenige Stücke werden so oft gecovert wie Wicked Game. Das britische Lifestyle-Magazin Dazed bezeichnet den Hit sogar mal als „möglicherweise einflussreichsten Love-Song in der modernen Musik“.

Auf die Idee für das Stück kommt Chris Isaak laut eigener Aussage nach einem Telefonat. So möchte eine Frau damals ein spontanes Treffen mit dem Musiker arrangieren, doch der hat gemischte Gefühle. In einem Interview verrät er: „Ich habe den Song zwischen dem Telefonat und dem Besuch geschrieben. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn man sich stark zu einer Person hingezogen fühlt, die nicht unbedingt gut für einen ist. Ich glaube, dass ich damit einen Nerv getroffen habe, denn viele von uns fühlen sich stark zu anderen Menschen hingezogen, die uns nicht unbedingt gut tun.“ Genau jene Hin- und Hergerissenheit zwischen Liebe und Düsternis ist es, die den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Song aus der Feder von HIM-Frontmann Ville Valo. Manchmal passt es einfach.

Wicked Game: Der Song, mit dem HIM ihren Sound fanden

Noch heute hat Wicked Game seinen festen Platz in der HIM-Geschichte. „Das war einer der ersten Songs, die wir als Band zusammen gespielt haben, und er hat uns sehr dabei geholfen, unseren Sound zu finden“, erklärt HIM-Sänger Ville Valo Jahrzehnte später in einem Interview. „Das fällt in der Regel leichter, wenn man die Songs von jemand anderem spielt. Man muss nicht über den Text nachdenken oder so. Man kennt das Lied sowieso auswendig und das macht es einfacher.“ Ihr typischer Sound ist es auch, der HIM ab Ende der Neunziger in die Rock-Champions-League katapultiert. Schon mit ihrem zweiten Langspieler Razorblade Romance (1999) gelingt ihnen der große Durchbruch. Und wieder ist auf dem Album eine neue HIM-Aufnahme von Wicked Game zu finden. Die Jungs mögen den Song echt.

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