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Popkultur

The Libertines: Chronik einer angekündigten Eskalation

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Foto: Simone Joyner/Getty Images

Drogen, Bushaltestellen und ein Supermodel: Zum Live-Comeback der Libertines in Europa rollen wir die Geschichte der wohl britischsten und wildesten aller Garage-Rock-Bands auf.

von Björn Springorum

Noel und Liam Gallagher, Axl Rose und Slash, Mick Jagger und Keith Richards: Es sind besonders die Hasslieben, die die Geschichte der Rockmusik geschrieben haben. Auch Pete Doherty und Carl Barât gehören in diese Liste. Sie bilden ab Mitte der Neunziger den Kern einer neuen Bewegung in England, die nach Hochglanz-Pop und Stadionrock Schmutz, Wildheit und Unabhängigkeit in den Rock‘n‘Roll zurückbringt. Sie nennen sich The Libertines, und nehmen diesen Namen ernst. Dies ist die Geschichte einer Band, die so englisch ist wie ein Charles-Dickens-Roman – und dabei die Eskapaden der Gallagher-Brüder wie Schulhofstreiche kleiner Jungs wirken lässt.

Los geht es ganz offiziell 1997 in London. Doherty und Barât gründen The Libertines, mit ihnen spielen auch John Hassall und Gary Powell in der jungen Band. Tragisch, aber wahr: Diese beiden Namen muss man sich im Grunde nicht merken, sie werden eh keine Rolle in einer Galaxie spielen, deren Planeten sich ausnahmslos um die Sonnen Doherty und Barât drehen und manchmal munter miteinander kollidieren.

Englische Mythologie und Alkohol

Sie lernen sich über Dohertys Schwester kennen, können sich anfangs nicht mal leiden, sind aber dennoch irgendwie seltsam fasziniert voneinander. „Seine Ideen über sich und das Land fesselten mich“, so würde es Pete Doherty mal beschreiben. „Einen wie ihn habe ich noch nie getroffen.“ Was die beiden eint, ist ihr radikaler Ansatz an die Kunst, ihre Schwäche für Drogen und Alkohol, ihre Liebe zu The Clash und ihre durchaus patriotische Nostalgie, die das alte England in aller Pracht und Hässlichkeit heraufbeschwört. Hier sind zwei Artful Dodger, um es noch mal mit Charles Dickens zu sagen, die die Mythologie und Geschichte des einst ruhmreichen Empires für wüste, zynische, poetische Songs nutzen.

Fatalismus und Weltschmerz, aber mit Stil

Beide schmeißen die Uni, ziehen nach Camden im Norden Londons. Dort entsteht gerade eine florierende junge Szene, die auch Amy Winehouse hervorbringen und verschlingen wird. Doherty und Barât wollen aber keine Popstars werden. Sie sehen sich als die Rock‘n‘Roll-Version des viktorianischen Poeten, dauerbesoffen, gezeichnet von Fatalismus, Weltschmerz und eleganter Nonchalance. So gehen sie auch ihre Musik an: Jahrelang spielen sie abseits der ausgetretenen Wege des Business, veranstalten für Eingeweihte Guerilla-Gigs in ihren eigenen Wohnungen, den Buden von Fans oder in Bushaltestellen. Damit treten die Libertines einen Trend los, der unzählige andere Londoner Bands ihre eigenen Underground-Gigs und geheimen Soirées veranstalten lässt.

Die Strokes ändern alles

Das wäre wahrscheinlich noch einige Jahre so weitergegangen. Doch dann, im Juli 2001, kommen die Strokes mit ihrem Debüt Is This It um die Ecke. Sie pflügen durch die Musikwelt, drehen alles auf links – und erschaffen durch ihren Erfolg ein Vakuum, das zu beiden Seiten des Atlantiks dringend mit neuen künstlerisch ambitionierten Rock-Bands gefüllt werden will. Der große Moment der Libertines ist gekommen.

2002 veröffentlichen sie ihr Debüt Up The Bracket. Produziert wird es von The-Clash-Gitarrist Mick Jones, bekannt gemacht mit über 100 Gigs allein im Jahr 2002. Während man in den USA kaum Notiz von diesen fatalistischen Anti-Posterboys nimmt, feiert England sie längst als größte neue Rockband aller Zeiten. Ihr Sound ist roh und englisch, ihre Texte auch, pure Straßenpoesie unter dem starken Eindruck britischer Mythologie. Im Grunde ist es klar, dass so etwas nur in England wirklich gut ankommt. Der Rest der Welt versteht einfach nicht, worum es Pete Doherty und Carl Barât eigentlich geht.

Zwei Monate Knast für Doherty

Die beiden tun es ja selbst nicht so richtig: Passgenau zu Erfolg, großer medialer Aufmerksamkeit und kräftezehrenden Tourneen fangen die Probleme zwischen den beiden so richtig an. Doherty versinkt in Crack und Heroin, Barât zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus, die beiden treten immer öfter ohne den jeweils anderen auf. Als Doherty aus der Band geschmissen wird und die Libertines ohne ihn auf Europatournee fahren, bricht er wütend bei Barât ein und kommt zwei Monate ins Kittchen. Soweit kam es selbst bei den Gallaghers nicht.

Wie sie es danach schaffen, weiterzumachen – als Freunde wie als Kollegen – ist ein Mysterium. Aber sie tun es. Erst drei legendäre Konzerte im London Forum im Dezember 2003, dann der gewaltige Erfolg mit ihrem zweiten Album The Libertines. Als das im August 2004 erscheint, ist Doherty mal wieder nicht in der Band und drauf und dran, mit Supermodel Kate Moss anzubandeln, was ihn in den USA berühmter machen wird als er mit der Musik jemals werden kann. Aber man hat sich inzwischen an seine Eskapaden gewöhnt.

„Die Libertines sind immer dann am besten, wenn sie über die Libertines singen.“

Am 17. Dezember 2004 zieht Carl Barât dann aber doch den Stecker bei den Libertines. Erstmal. 2010 kommt es zum großen Comeback, bei dem die Band unter anderem bei Englands Festival-Blaublütern Leeds und Reading auftritt. 2015 – stolze elf Jahre nach ihrem zweiten Album – erscheint mit Anthems For The Damned Youth dann endlich neues Material. Schon die Leadsingle Gunga Din, benannt nach einem Gedicht von Rudyard Kipling, zeigt die urtümliche DNA der Band: Schrammeliger Gitarrenrock, archetypisch britisch und hemmungslos selbstreflektiert. Oder wie sagte ein Journalist vom New Yorker mal so treffend: „Die Libertines sind immer dann am besten, wenn sie über die Libertines singen.“

25 Jahre nach ihrer Gründung gibt es sie immer noch. Und was noch viel erstaunlicher ist: 25 Jahre später ist Pete Doherty immer noch am Leben! Derzeit entsteht im bandeigenen Hotel und Studio The Albion Rooms (Zimmer ab 70 Euro!) an Englands Ostküste anscheinend wohl tatsächlich eine neue Platte. Bei den drei Deutschlandkonzerten ab Ende Oktober gibt es vielleicht schon was davon zu hören. Aber so ganz genau weiß man das bei diesen ruhelosen Freigeistern natürlich nie.

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