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Popkultur

Wipers-Debüt „Is This Real?“: Wie der Seattle-Sound vor 40 Jahren in Portland entstand

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Wipers
Foto: Frans Schellekens/Redferns/Getty Images

Vor 40 Jahren, irgendwann zwischen Ende 1979 und Januar 1980, erschien ein Album, über das immer wieder geredet wird und das doch viel zu wenige kennen. In all den Listen mit den besten Punk-Alben aller Zeiten taucht Is This Real? von den Wipers so gut wie nie auf, obwohl ihm dort ein Spitzenplatz zustehen sollte. Hier wurde unüberhörbar das Fundament von Grunge gelegt.

 von Michael Döringer

Andererseits wollte diese Band von Anfang an nichts mit dieser Bewegung zu tun haben. Deshalb scheint das Album seinen Status als bewusst übersehene Platte ganz zurecht zu haben, nicht mal Edelfan Kurt Cobain konnte daran etwas ändern. Die gute Nachricht in dieser verzwickten Situation: Die Musik ist so gut und singulär, dass sie einen noch heute immer wieder völlig unvermittelt umhaut.

Hört hier das komplette Wipers-Debüt Is This Real?:

Gegründet wurden die Wipers im Jahr 1977 in Portland, Oregon. Der Ort liegt direkt an der Grenze zum Bundesstaat Washington, nicht unweit von Seattle und noch näher an dem Städtchen Aberdeen, in dem Kurt Cobain aufwuchs. Das ist nicht unwichtig, denn die Wipers galten von Beginn an als lokales Phänomen und die Punk-Szene in Portland zog nicht viel landesweite Aufmerksamkeit auf sich.

Mysteriöses Ein-Mann-Projekt

Die Wipers wurden von Sänger, Gitarrist und Studio-Mastermind Greg Sage eher als „Aufnahmeprojekt“ erdacht statt als klassische Band. Sage hatte keinen Bock auf den üblichen Zirkus – Konzerten, Tourneen, Promo- und Presse-Aktionen wollte er keine Zeit und Energie opfern. Es ging ihm damit sicher auch darum, ein kleines Mysterium um ihn herum zu erzeugen, aber auch darum, die Leute anders an die Musik heranzuführen: Sie sollten genauer hinhören, tiefer eindringen und ihre Vorstellungskraft wirken lassen. Das Line-Up der Wipers sollte sich immer wieder ändern, nur eine Personalie blieb konstant. Es ist ein bisschen so wie bei den britischen Post-Punk-Legenden The Fall und Mark E. Smith. Der sagte: „Und wenn es nur ich und deine Oma an den Bongos sind, ist es immer noch The Fall.“

Greg Sage wollte alles anders machen, aber als es um Veröffentlichtung des ersten Albums ging, musste er seine Ideale schon zurückfahren und Kompromisse eingehen. Eigentlich wollte man Is This Real? in Eigenregie veröffentlichen, nahm dann aber doch die Hilfe eines Labels in Anspruch. Park Avenue Records verlangte, das mit einem Vierspurgerät aufgenommene Album nochmal in einem professionellen Studio neu einzuspielen. Bessere Sound-Qualität hätte schließlich für mehr Radio-Airplay sorgen können. Von einem daraus resultierenden überpolierten Sound kann man thank god nicht sprechen: Eine Rest-Roheit und Unmittelbarkeit durchzieht das Album, die man sich nicht besser hätte ausdenken können.

Aus der Distanz

Das Label erfüllte seinen Teil der Abmachung allerdings nicht und betrieb kaum Promotion für Is This Real?, das im Januar 1980 erschien und nur eine kleine lokale Fangemeinde erreichte. Weil man sich von Punk distanzierte, konnte man die internationale Welle auch nicht mitnehmen. Man schien Galaxien entfernt von Zentren wie London, New York oder Los Angeles. „Es war reiner Zufall, dass Punk mit meinen eigenen musikalischen Ambitionen zusammenfiel“,  sagte Sage anno 2000 in einem Interview mit dem deutschen Punk-Fanzine Ox. Der Ruf dieses Albums sollte sich also erst über Jahre und Jahrzehnte entwickeln. Man erspielte sich eine Fangemeinde. Auch wenn Greg Sage angeblich keinen Wert darauf legte, auf der Bühne zu stehen, sondern nur Platten machen wollte, waren die Wipers live eine Naturgewalt.

Man behauptet immer gern, ein Album sei seiner Zeit voraus gewesen. Das kann man beim Debüt der Wipers kaum verstehen, denn aus heutiger Sicht passt es perfekt in diese frühe Post-Punk-Zeit. Hüsker Dü machten ein paar Jahre später eigentlich nicht viel anders, gingen aber in der Chance der Popularität auf. Die Wipers hatten Pech, konnten sich auf keine Szene oder Industrie verlassen, wählten die Isolation allerdings auch selbst. Greg Sage war in jeder Zelle seines Daseins anti-alles. Später sagte er dazu:

„Wir waren keine wirkliche Punk-Band. Wir waren noch weiter draußen, noch extremer als die Punk-Bewegung, weil wir uns gar nicht klassifizieren lassen wollten. Wir wollten in neues Gebiet vorstoßen. Als wir ‘Is This Real?’ veröffentlichten, passte es definitiv nirgends dazu, so wie jede unserer folgenden Platten. Und dann zehn Jahre später begannen die Leute plötzlich zu sagen: ‚Oh ja, das ist ein Punk-Klassiker der 80er!‘“

Zu gut für Punk

Textlich streifte Sage ebenfalls Punk-Territorium, aber vielleicht war er eine Spur zu düster und ernst. Auch auf den nächsten beiden klassischen Alben Youth Of America (1981) und Over The Edge (1983) geht es um Einsamkeit, Paranoia, Schicksal und Verdammung, Identität und Außenseitertum. Die große Frage ist: Wenn die Wipers so viele Bands beeinflussten, darunter so berühmte wie Nirvana, wie können sie dann nur als vergessen oder übersehen gelten?

Ein Grund ist, dass die Wipers nicht in die stromlinienförmige, lineare Erzählung der Musikgeschichte passen: Erstens waren sie im Jahr 1980 schon viel weiter als andere Punk-Bands, die das mit den zwei Akkorden und der Talentfreiheit immer noch viel zu wörtlich nahmen. Die Wipers waren zu gut, um der Amateur-Ästhetik von Punk zu entsprechen. Zweitens: Während Bands wie Minor Threat, die Bad Brains oder Black Flag – die ihre Debütalben übrigens alle deutlich nach den Wipers veröffentlichten – allesamt im Sinn hatten, Punk immer schneller und schroffer zu machen, drängte es Sage in andere Ecken: Er entwickelte ausufernde Gitarren-Epen mit deutlichen Einflüssen aus Blues-, Psych- und Krautrock und einem technisch meisterhaft verzerrten Sound, der den Songs der Wipers ihren unverwechselbaren Charakter verlieh.

Die Songs auf dem Wipers-Debüt sind vielleicht recht simpel mit ihren Power Chords und den vielen Melodien. Aber es ist ihre klangliche Qualität, die das meiste transportiert: die Gefühle, ein Verhältnis zur Welt. Ist das nicht schon die klarste Verbindung zu Nirvana? Zwei Songs von Is This Real? gibt es in Versionen von Nirvana:

Ohne die Wipers würde es Grunge nicht geben – so schrieb es Kurt Cobain auf Seite 217 in sein Tagebuch: „Wenn es so etwas wie einen ‘Seattle-Sound’ gibt, dann stammt er aus dem Portland, Oregon der frühen 80er von einem Trio namens Wipers.“

Berühmte Fans, aber kein Geld

Auf den selben Seiten notierte Kurt Cobain auch eine Liste seiner 50 Lieblingsalben. Raw Power von den Stooges auf Platz eins, danach kommen Surfer Rosa von den Pixies und Pod von The Breeders. Es folgen diverse Bands und Epochen – Black Flag, R.E.M., The Slits, Public Enemy. Doch von Platz 46 bis 48 folgt sie, die Trilogie der ersten drei Wipers-Alben, angeführt von Is This Real? (1980). Damit stehen die Wipers zwar relativ weit unten in den Top 50, sind aber die einzige Band mit drei Alben in dieser Liste. Auch der legendäre BBC-Radiomoderator John Peele zählte Is This Real? wiederholt zu seinen Lieblingsalben.

Mudhoney, Pearl Jam, Nirvana – viele Protagonisten von damals und heute sehen diesen Bezug als völlig offensichtlich an. 1993 veranlasste Sub Pop eine Wiederveröffentlichung von Is This Real?. Eine glasklare Verneigung vor der Leistung dieser Band und dem Impact dieser Platte. Greg Sage war nicht involviert. Er sagte immer, man hätte ihm die Platte gestohlen, immer wieder gab es neue Lizenzverträge, bei denen die eigentlichen Urheber außen vor blieben. Frustriert sagte Sage einst: „Verdammt, diese Platte ist nun seit 20 Jahren fast ständig verfügbar und wir haben noch nie einen Cent dafür gesehen.“

Wahrscheinlich ist es dabei geblieben. Zumindest hätte Greg Sage es verdient, in der ersten Reihe der Gitarristen des Independent Rock der 80er und 90er zu stehen, aber letztlich hat er das stets selbst verhindert. Nirvana luden die Wipers immer wieder als Support zu großen Tourneen ein, Sage lehnte immer dankend ab. Er wollte entweder nie opportunistisch wirken und behauptete, das Timing sei gerade schlecht. Aber vielleicht war ihm das auch alles eine Nummer zu groß. Vielleicht spielte Angst dabei eine große Rolle. Wie in so vielen seiner Texte. Andere singen immer vom Glück, er von Angst, Angst, Angst.

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