Popkultur
Die mit „Mad World“: Vor 40 Jahren erscheint das düstere Debüt von Tears For Fears
Erstes Album und schön den größten Hit der Karriere rausballern – keine üble Leistung! Das Debüt von Tears For Fears kann aber noch mehr. Viel mehr. Hier kommt die Geschichte von The Hurting, inhaltlich einem der düstersten Popalben der Achtziger.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr The Hurting hören:
Popmusik traut man gemeinhin zu wenig zu. Leicht verdaulich muss sie sein, schwer angesagt und durchsetzt von ungefährlichen Themen wie Sex, Konsum, Freundschaft, Autofahren oder Surfen. Tears For Fears reicht das nicht. 1981 setzen sich im schönen Bath in Südengland Roland Orzabal und Curt Smith an einen Tisch, um die Popmusik zur revolutionieren. Tiefer, ernster, kunstfertiger zu machen. Die beiden 20-Jährigen haben schon reichlich Erfahrung in New-Wave-Bands gesammelt und verfolgen das Erblühen der elektronischen Musik mit Gusto und Faszination. Oberflächlichkeit ist aber eben nichts für sie.
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Reise zu den Traumata der Kindheit
OMD oder Depeche Mode stehen Vorbild für das, was die beiden zunächst unter dem Namen History Of Headaches aushecken: Ein eleganter, kühler Sound, selbstvergessen und ahnungsvoll, melodramatisch auch, wie ihre Frisuren. Wie wenig man mit dem üblichen Top Of The Pops-Einheitsbrei der damaligen Zeit zu tun hat, zeigt letztlich schon die Wahl des Bandnamens: Tears For Fears geht auf die umstrittene Primärtherapie von Arthur Janov zurück, dessen berühmtester Patient John Lennon war. Ziel der Therapie ist ein gezieltes Nacherleben von Kindheitstraumata, was die beiden gleich auch als roten Faden ihres ersten Albums nehmen. Amüsante Anekdote am Rande: Als das Duo Mitte der Achtziger auf Janov trifft, zeigt es sich desillusioniert von dem berühmten Psychologen. Er wollte allen Ernstes, dass Tears For Fears ein Musical für ihn schreiben.
Die beiden komponieren Songs, in denen sie sich mit ihren eigenen Kindheitstraumata auseinandersetzen und ihre Seele offenlegen. Gleichzeitig experimentieren sie mit Drum-Maschinen und Sequenzern, verlustieren sich in einer schönen neuen Welt der technischen Gadgets. Es entstehen Songs über Angststörungen, über Missbrauch, über Depression. Nicht unbedingt der Stoff, aus dem Pop-Märchen sind. Entsprechend verhalten reagiert die Welt auf die ersten Gehversuche von Tears For Fears: Die erste Single Suffer The Children (und zugleich der erste Song des Duos überhaupt) handelt von einem vernachlässigten Einzelkind sowie der Nachfolger Pale Shelter bringen die Band nicht voran.
Der Durchbruch kommt mit Mad World
Roland Orzabal und Curt Smith geben nicht auf. Vorübergehend verstärkt durch Keyboarder Ian Stanley und Drummer Manny Elias arbeiten sie weiter an ihrem ersten Album und landen mit Mad World endlich einen ersten Erfolg. Und das gleich weltweit. Geschrieben von Ozarbal auf der Akustikgitarre, als er gerade mal 19 war, drückt der Song tiefsitzende Kindheitsängste aus, vermischt mit einem Blick auf die regennassen Straßen von Bath. „Ich schrieb den Song, als ich über eine Pizzeria in Bath wohnte und auf die Innenstadt blickte. Eigentlich hätte ich den Song Bourgeois World nennen sollen; so mad ist Bath dann auch wieder nicht“, so sagte Orzabal mal. Unzählige Coverversionen folgen, am berühmtesten ist natürlich die von Michael Andrews und Gary Jules für den Film Donnie Darko.
Seelenstriptease
Der Song gibt auch ihrem Debüt The Hurting die nötige Starthilfe, um trotz seiner düsteren, ernsten und existentiellen Inhalte zum riesigen Erfolg zu werden: Das Synthpop-Juwel erklimmt in Woche zwei die Spitze der britischen Charts und kann sich dort über ein Jahr halten. Zahlreiche andere Länder vermelden den Einstieg in die Top 20. Nicht übel für ein Album über Depressionen, Missbrauch, Ängste und Todessehnsucht. Tears For Fears werden schon nach diesem Album anders klingen und anders texten. Doch dieses eine Mal musste der Seelenstriptease sein.
Die englische Presse zeigt sich von der Nabelschau teilweise wenig begeistert: Der NME etwa konstatiert wenig schmeichelhaft: „Dieses Album […] ist eine fürchterliche nutzlose Form von Kunst, die aus Selbstmitleid und Sinnlosigkeit ein kommerzielles Versprechen webt.“ Wow, gründlich daneben. Viel eher ist The Hurting ein erstaunlich reifes Debütalbum, das Tabuthemen anpackt und sich nicht zu schade ist, über eigene Ängste und psychische Knackse zu singen. Und das 1983! Bis heute ist das Album ein einfühlsam komponiertes, anspruchsvoll umgesetztes Testament für die Vielseitigkeit der Popmusik. Und damals doch nur der Vorgeschmack auf den endgültigen Abflug mit Songs From The Big Chair.
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Tears For Fears – Songs from the big chair: Wer hat Angst vor großem Pop?

Popkultur
Ein unterschätztes Energiebündel: „St. Anger“ von Metallica wird 20!
Kaum ein Metallica-Album spaltet die Gemüter stärker. Für die einen ist St. Anger unhörbar, die anderen lieben die Platte inbrünstig. Dazwischen gibt es meist nicht viel. Wir haben für euch unter die Lupe genommen, unter welchen Umständen das Album entstand und wie es Metallica zusammenschweißte.
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch St. Anger von Metallica anhören:
Über drei Dinge scheint man sich in der Metal-Welt einig zu sein: Nickelback sind scheiße, Lars Ulrich kann nicht Schlagzeug spielen und St. Anger ist das schlechteste Metallica-Album aller Zeiten. Erstes kann man so sehen, Zweites auf keinen Fall, Drittes ist eine Frage der Herangehensweise. Vergleicht man St. Anger mit der musikalischen Genialität von Ride The Lightning (1984), Master Of Puppets (1986) und … And Justice For All (1988), kann die Achte von Metallica nur verlieren. Nimmt man die lupenreine Produktion und die Knackigkeit der „Schwarzen“ als Maßstab, hat St. Anger ebenfalls keine Chance. Doch in der abwechslungsreichen Diskografie von Metallica hinken solche Gegenüberstellungen. Die ersten Alben sind und bleiben ja da — und St. Anger zum Glück auch.
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St. Anger: Ein Metallica-Album unter besonderen Umständen
Die holprige Geschichte von St. Anger beginnt im Januar 2001. Es ist damals ruhiger um Metallica geworden; intern kriselt es. Trotzdem setzen die Kalifornier mehrere Besprechungen an, um ihr erstes Album seit vier Jahren zu planen. Dann kommt alles anders: Genau eine Woche nach einem schwer missglückten Meeting am 10. Januar gibt Bassist Jason Newsted bekannt, dass er nach 15 Jahren seinen Hut nimmt und Metallica verlässt. Ein wahnsinniger Schritt, den wohl nicht viele gewagt hätten. Als Erklärung nennt Newsted „private und persönliche Gründe sowie die körperlichen Schäden“. Heute wissen wir genauer, worum es bei seiner Entscheidung geht. Metallica stürzen noch tiefer in die Krise. Die Arbeit an ihrem achten Album nehmen sie dennoch auf.
Um neu starten zu können, mieten Metallica eine alte Kaserne auf dem sogenannten Presidio in San Francisco, einem ehemaligen Militärstützpunkt, der unmittelbar an einem der Enden der Golden Gate Bridge liegt. Der Hintergrund: Die erfolgsverwöhnten Superstars möchten ihre Komfortzone verlassen und das Gefühl erzeugen, das entsteht, wenn eine junge Band zum ersten Mal in einer Garage zusammenspielt. „Nur, dass die Band Metallica heißt“, ergänzt Produzent Bob Rock in der Dokumentation Some Kind Of Monster (2004) mit einem Augenzwinkern. Innerhalb von zwei Wochen lassen James Hetfield und Co. ein provisorisches Studio in die Räumlichkeiten bauen und verladen ihr Equipment. Im April 2001 starten die Sessions.
„Zum ersten Mal hatte ich keine Ahnung, wohin uns diese Reise führen würde“, erzählt Lars Ulrich später in einem Interview mit MTV. „Für mich war wichtig, dass alles so ehrlich wird, wie es nur geht.“ Um ihre internen und externen Schwierigkeiten zu verdauen, engagieren Metallica den „Performance Enhancement Coach“ Phil Towle, der zuvor vor allem mit Sportmannschaften zusammengearbeitet hatte. Er soll dafür sorgen, dass Metallica wieder zum Team werden. So ist es seine Aufgabe, bei der Verarbeitung von Newsteds Abgang zu helfen, die internen Konflikte in der Band zu moderieren und Metallica den Rücken zu stärken. Ein Kamera-Team fängt den therapeutischen Prozess für die mehr als zweistündige Doku Some Kind Of Monster ein. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass St. Anger unter aufreibenden Umständen entsteht. Dann folgt auch noch ein weiterer großer Rückschlag.
James Hetfield unterbricht und begibt sich in einen Entzug
Im Juli 2001 muss Metallica-Sänger James Hetfield die Arbeit unterbrechen. Seine Sucht hat ihn eingeholt und er begibt sich in eine Entzugsklinik. Der Ausfall kommt überraschend. Schlagzeuger Lars Ulrich und Gitarrist Kirk Hammett machen erstmal Urlaub, ohne zu wissen, ob und wann es weitergeht. Wird James überhaupt wiederkommen? Und falls ja, wird er für Metallica zur Verfügung stehen? Fragen, auf die im Sommer 2001 niemand eine Antwort weiß. Nach sechs Monaten ohne ihren Frontmann geben Metallica ihr Studio im Presidio auf und beziehen das brandneue Metallica HQ in San Rafael (Kalifornien). Im Dezember gibt Hetfield endlich ein Lebenszeichen von sich und im April 2002 können Metallica weiter an St. Anger arbeiten — wenn auch eingeschränkt.
Im Rahmen seiner Genesung soll Hetfield nur von zwölf Uhr mittags bis 16 Uhr nachmittags arbeiten. Das bringt einige Probleme mit sich: Zum einen kommt es zu Konflikten, weil Lars Ulrich und Kirk Hammett vor und nach den vereinbarten Zeiten weiterarbeiten. Hetfield hat das Gefühl, die Kontrolle über seine eigene Band zu verlieren, was für ihn auch in der Vergangenheit schon ein Thema war. Zum anderen sorgen die begrenzten Zeiträume für produktionstechnische Schwierigkeiten. Hetfield steht wenig Zeit zur Verfügung, um Gesangs- und Gitarrenspuren einzuspielen. Bisweilen müssen sich Metallica mit mittelguten Takes zufrieden geben. „Wir hatten keine Gelegenheit dazu, erstaunliche Leistungen aus James herauszuholen“, erklärt Produzent Rock. „Wir mochten das Rohe.“ Genau diese Rohheit wird St. Anger später auszeichnen.
St. Anger: Ein Schutzheiliger für Wut und Zorn
Inhaltlich beschäftigen sich Metallica auf St. Anger titelgemäß mit dem Thema Wut. „Ich weiß noch, wie jemand mir zur Zeit von Ride The Lightning einen Sankt Christopherus geschenkt hat“, erinnert sich Hetfield 2003 in einem Interview. „Nach einigen Jahren fand ich heraus, dass er der Schutzheilige der Reisenden ist. Als ich aus dem Entzug kam, wurde mir klar, dass wir keinen Schutzheiligen für Wut und Zorn haben. Und wenn es noch keinen gab, dann würde Metallica verdammt nochmal einen erfinden!“ (Passend zu diesem roten Faden entsteht der Clip zum Titeltrack St. Anger in einem Gefängnis.) Ob sein Kampf gegen den Alkoholismus, seine Kontrollsucht oder seine schwierige Kindheit: Auf St. Anger brüllt James Hetfield heraus, was ihn wütend macht — unterlegt mit einem musikalischen Donnerwetter, das Metallica vorher und nachher nie wieder abgeliefert haben. Gitarrist Kirk Hammett witzelt 2003 in einem Interview: „Bei Kill ‘Em All waren wir zornige junge Männer, und jetzt sind wir zornig ältere Männer.“
Es sind vor allem drei Dinge, die den Sound von St. Anger definieren. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass Metallica über die gesamte Albumlänge von 75 Minuten das Gaspedal durchtreten. Kurze Verschnaufpausen gibt es nur dann, wenn anschließend ein umso härteres Gitarrenbrett folgt. Theatralische Arrangements? Fehlanzeige. St. Anger ist ein Boxkampf ohne Handschuhe, darauf muss man sich einlassen. Gitarrensoli gibt es auf dem achten Metallica-Album nicht. Das ergibt im Gesamtkontext durchaus Sinn, denn hört man genau hin, sind passende Stellen für ein Solo tatsächlich Mangelware. „Wir wollten, dass die gesamte Aggression von der Band kommt, nicht von einem einzigen Musiker“, erklärt Bob Rock den Schritt. Das äußert sich sogar in den Texten, die auf St. Anger ein Gemeinschaftswerk sind. „Es war fast wie in der Schule mit einem Block und einem Stift“, erinnert sich Lars Ulrich. „Wir saßen alle zusammen und hatten Ideen. Dann gingen wir durch den Raum und jeder las dem anderen vor, was ihm eingefallen war. Am Anfang war das etwas einschüchternd, aber es war auch eine große Herausforderung und eine wunderbare Sache, um uns näher zusammen zu bringen.“ Dann wäre da noch die Sache mit der Snare-Drum …
Die Sache mit der Snare-Drum
Seit 20 Jahren gibt es unter Metallica-Fans ein Thekengespräch, das selten so endet, dass eine von beiden Seiten ihre Meinung ändert: den Snare-Sound auf St. Anger. Was für die einen perfekt zur animalischen Atmosphäre der Platte passt, tut den allermeisten in den Ohren weh. Der Legende nach beginnt der charakteristische Mülltonnenklang damit, dass Lars Ulrich bei einer Session vergisst, den Snare-Teppich festzustellen. Dadurch klingt ein Schlag auf die Trommel nicht wie der übliche Peitschenhieb, sondern eher wie ein „Klonk“. Der Sound gefällt ihm und Metallica verwenden ihn für das ganze Album. Diskussionen darüber, ob das eine gute oder eine schlechte Entscheidung ist, gibt es im Internet zuhauf. Vor allem gibt es dort aber einige interessante Klangexperimente.
So lädt der Musiker Daryl Gardner am 14. Januar 2015 eine eigene Aufnahme von St. Anger bei YouTube hoch, für die er die Snare richtig einstellt. Dadurch klingen die Songs natürlich anders — aber nicht unbedingt besser. Auch von Metallica selbst gibt es inzwischen zahlreiche Aufnahmen mit regulären Drum-Sound. Schon während der Tour 2003/2004 geht Lars Ulrich dazu über, den Snare-Teppich festzuziehen. Dennoch: Die Albumaufnahme passt. Besonders deutlich wird die Songdienlichkeit von Ulrichs Entscheidung, wenn man sich das Video „If Other Metallica Songs Had The St. Anger Snare Sound“ des kanadischen YouTubers Fountane anschaut. Durchkomponierte Stücke wie Master Of Puppets klingen mit gelöstem Snare-Teppich furchtbar. Dem aggressiven Fuel hingegen steht der Effekt ziemlich gut zu Gesicht.
Der neue Mann am Bass: Robert Trujillo
Die Bass-Spuren auf St. Anger spielt Produzent Bob Rock ein, denn als Metallica ihr achtes Album aufnehmen, haben sie noch keinen neuen Mann für die tiefen Töne gefunden. Das ändert sich Anfang 2003: Metallica lassen mehrere Bassisten für den freien Posten vorspielen, darunter Twiggy Ramirez (Marilyn Manson, A Perfect Circle), Scott Reeder (Kyuss, Unida), Pepper Keenan (Corrosion Of Conformity, Down), Chris Wyse (The Cult) und Eric Avery (Jane’s Addiction, Alanis Morisette). Den Zuschlag erhält am Ende Robert Trujillo, der damals noch in den Diensten von Metal-Papst Ozzy Osbourne steht. Am 24. Februar 2003 verkünden Metallica ihren Neuzugang. (Ex-Bassist Jason Newsted heuert ironischerweise am 18. März bei Ozzy Osbourne an.)
Eigentlich soll St. Anger am 10. Juni 2003 erscheinen. Doch weil das Album bereits vorab in der illegalen Online-Tauschbörse Napster auftaucht, darf es schon ab dem 5. Juni verkauft werden. In 14 Ländern stürmen Metallica die Pole Position der Charts; 2004 kassieren sie einen Grammy für die „Best Metal Performance“ für die Single St. Anger. Die Kritiken fallen sehr gemischt aus. Bis heute polarisiert das achte Metallica-Album und hat in der Metal-Welt viele Feinde. Doch es gibt auch zweifelsohne genug Fans der Kalifornier, die das Album lieben. Auf der Bühne findet St. Anger seit 2005 nur selten statt. Viele der Songs haben Metallica bisher noch gar nicht live gespielt. Das letzte Stück auf der Platte kommt ab 2018 allerdings noch einmal zu spätem Ruhm.
All Within My Hands: Ein wandlungsfähiges Song-Monster
Es beginnt mit dem Live-Album Helping Hands…, auf dem Metallica All Within My Hands in einer akustischen Version zum Besten geben. In einer Art Dark-Country-Stil kitzeln die Musiker noch einmal völlig neue Facetten aus der ursprünglich sehr aggressiven Nummer heraus. Das hinterlässt wohl auch bei Metallica selbst einen bleibenden Eindruck, denn als James Hetfield und Co. im September 2019 ihr zweites Orchester-Live-Album S&M2 einspielen, entscheiden sich die Kalifornier dazu, den St. Anger-Closer in der umarrangierten Version in die Setlist aufzunehmen. In beinahe gespenstischer Weise offenbart die Orchester-Variante, was in den rohen Song-Gerüsten von St. Anger alles drinsteckt — auf jeden Fall einer der musikalisch spannendsten Beiträge auf S&M2!
Die Zeit nach St. Anger
Im Anschluss an die Veröffentlichung ihres achten Albums starten Metallica eine zweijährige Tour, spielen mehrere Festival-Gigs und legen eine zweijährige Pause ein, um Zeit mit ihrer Familie zu bringen. Der nächste größere Knall folgt im Februar 2006, als die Band verkündet, dass sie sich nach 15 Jahren von Produzent Bob Rock trennt, mit dem sie nicht nur St. Anger, sondern auch ihren größten kommerziellen Erfolg Metallica (1991) umgesetzt hatte. Stattdessen holen Metallica den legendären Rick Rubin an Bord und nehmen die Arbeit an ihrem neunten Album Death Magnetic auf. Am 12. September 2008, also mehr als fünf Jahre nach St. Anger, erscheint die Platte. Doch das ist wieder einmal eine andere Geschichte.
Fazit
Man muss St. Anger nicht mögen, keine Frage. Es ist nachvollziehbar, dass Metallica-Fans, die mit den ersten vier Alben oder mit der „Schwarzen“ aufgewachsen sind, Metallicas achtes Werk mindestens befremdlich finden. Doch wir müssen an dieser Stelle eine Lanze für die Platte brechen, denn sowohl für die Band selbst als auch für zahlreiche Jugendliche war St. Anger genau das Album, das Metallica 2003 rausbringen mussten. „Das Album ist extrem bedeutungsvoll für uns“, erklärt James Hetfield nach der Albumveröffentlichung im Gespräch mit MTV. In einem Interview von 2022 hält er fest: „Das Album ist ehrlich. Vielleicht kann man sich nicht damit identifizieren oder man mag den Sound nicht. Aber das ist der Punkt, an dem wir standen, und es ist das Album, das wir veröffentlicht haben. Vielleicht wird seine Zeit noch kommen … oder auch nicht.“ Mit Death Magnetic (2008), Hardwired… To Self-Destruct (2016) und 72 Seasons (2023) scheinen James Hetfield und Co. ihren Sound nun gefunden zu haben. Ob man den mag oder nicht, bleibt jedem selbst überlassen. Doch ist es nicht etwas Gutes und Einendes, dass in der abwechslungsreichen Diskografie von Metallica für jeden etwas dabei ist?
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Alle Alben von Metallica im Ranking – die besten Platten der Bay-Area-Legenden
Popkultur
Zeitsprung: Am 5.6.1975 besucht ein verwirrter Syd Barrett Pink Floyd im Studio.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 5.6.1975.
von Christof Leim
Zunächst erkennen sie ihn gar nicht, den kahlgeschorenen, übergewichtigen und verwirrten Mann, der da in den Abbey Road Studios auftaucht: Pink Floyd arbeiten gerade an Wish You Were Here, als am 5. Juni 1975 ihr früherer Gitarrist Syd Barrett im Raum steht. Gut geht es ihm nicht. Eine traurige, gespenstische Geschichte.
Hier könnt ihr euch Wish You Were Here anhören:
Klare Sache: Ohne Syd Barrett wären die frühen Erfolge von Pink Floyd nicht passiert. Der Sänger und Gitarrist galt in den Anfangszeiten als der spirituelle Anführer der Band, vor allem schrieb er fast alle Songs des Debütalbums Piper At The Gates Of Dawn und die Hitsingle See Emily Play. Die Platte erscheint im August 1967, doch schon im darauffolgenden Frühling müssen sich die Musiker von ihrem Freund trennen: Syd Barretts Geist weilt viel zu oft in anderen Universen. Großzügig konsumierte Bewusstseinserweiterungen haben seine instabile Psyche in eine ferne Umlaufbahn geschossen, von der es keinen Rückflug mehr gibt. Der 22-jährige Rockstar hat sich in einen deprimierten und deprimierenden Eremiten verwandelt. Ab 6. April 1967 gehört Syd Barrett offiziell nicht mehr zu Pink Floyd (wie ihr hier nachlesen könnt). Für ihn übernimmt sein Schulfreund David Gilmour.
Verschwunden
Während die anderen vier in den folgenden Jahren Prog-Rock-Geschichte schreiben und 1973 mit The Dark Side Of The Moon einen Mega-Multiplatin-Meilenstein (und ein verdammt tolles Album) veröffentlichen, zieht sich Barrett zurück. Zwei Solowerke und vereinzelte Aufnahmen gibt es noch, ab Anfang der Siebziger ward von ihm jedoch nicht mehr viel gesehen oder gehört. Auch seine ehemaligen Bandkollegen haben jahrelang keinen Kontakt.
Nach dieser Vorgeschichte wirkt es um so gespenstischer, dass Syd Barrett just an dem Tag unangemeldet in den Abbey Road Studios in London auftaucht, als Pink Floyd an der Abmischung von Shine On You Crazy Diamond arbeiten, einem Stück, das explizit von ihm handelt. Auch mindestens der Titel der dazugehörigen Platte, Wish You Were Here, bezieht sich auf den verlorenen Freund, dessen Verlust die Musiker – Roger Waters, Nick Mason, Dave Gilmour und Rick Wright – offensichtlich weiter beschäftigt.
Verstörend und traurig
Doch Syd Barrett sieht an diesem 5. Juni 1975, einem Donnerstag, nicht mal mehr aus wie das verrückte Genie von einst: Der 29-Jährige hat sich den Kopf komplett rasiert, die Augenbrauen eingeschlossen, und stark an Gewicht zugenommen. Deshalb erkennen ihn Wright und Waters zunächst auch nicht, als er auf einem Sofa sitzt, während sie am Mischpult werkeln und jeweils annehmen, der Besucher sei ein Bekannter des anderen oder vielleicht ein Crew-Mitglied. „Damals war es ganz normal, dass Fremde bei unseren Sessions ein und aus gehen“, wird Rick Wright auf einer Archiv- und Gedenkseite zu Barrett zitiert. „Nach vielleicht 45 Minuten habe ich realisiert, dass es Syd ist – ein Schock, denn ich hatte ihn sechs Jahre nicht gesehen. Er ist immer aufgestanden und hat sich die Zähne geputzt, dann hat er die Zahnbürste verstaut und sich wieder hingesetzt.“ Irgendwann fragt Barrett: „Okay, wann spiele ich meine Gitarren ein?“ Als Waters ihn fragt, was er von dem Stück hält, lautet die Antwort: „Es klingt ein bisschen alt.“
Bald Syd Barrett: pic.twitter.com/XKR2LvhZg7
— 8-bit🏳️⚧️ (@vettetheproto) April 11, 2020
Nun begibt es sich, dass Gilmour am gleichen Tag seine erste Frau Ginger geheiratet hat. Den von der Plattenfirma EMI in der Kantine des Abbey Road ausgerichteten Empfang besucht Syd Barrett ebenfalls. Jerry Shirley, ein Schlagzeuger und zeitweiliger Mitmusiker des gefallenen Helden, erinnert sich auf besagter Archivseite: „Mir gegenüber am Tisch war dieser übergewichtige Typ, der ein bisschen nach Hare Krishna aussah. Ich habe Dave angesehen, und der hat gelächelt. Da wurde mir klar, dass es Syd ist. Nach einer Weile habe ich den Mut gefasst, ihm Hallo zu sagen. Ich habe ihm meine Frau vorgestellt, und ich glaube, er hat einfach gelacht. Auf die Frage, was er so macht dieser Tage, lautete seine Antwort: ‚Och, nicht viel. Essen, schlafen. Ich stehe auf, esse, gehe spazieren und schlafe.’“ Kurz darauf verabschiedet sich Syd Barrett, ohne sich von den Neuverheirateten zu verabschieden.
Nie wieder gesehen
An diesem Tag im Sommer 1975 sehen die Pink-Floyd-Mitglieder ihren ehemaligen Mitmusiker zum letzten Mal. (Nur ein einziges Mal läuft Barrett ein paar Jahre später im Kaufhaus Harrods Roger Waters über den Weg. Als er den Bassisten erkennt, lässt er seine Tüte mit Süßigkeiten fallen und rennt davon.)
Die Wirkung dieses Studiobesuchs auf die Band ist immens. Nicht nur kommen Roger Waters die Tränen, im Film zu The Wall rasiert sich der Charakter Pink, gespielt von Bob Geldof, alle Haare vom Körper, nachdem er einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Für David Gilmour, der Shine On You Crazy Diamond und Wish You Were Here mitkomponiert hat, tragen diese Songs immer die Erinnerung an die ehemalige Psychedelic-Ikone, wie er 2012 in einer Dokumentation zum Album erklärt: „Ich kann sie nicht singen, ohne an Syd zu denken.“
Barrett lebt in den folgenden Jahrzehnten völlig zurückgezogen in seinem Geburtstort Cambridge, malt und arbeitet im Garten. Den einzigen Kontakt zur Außenwelt stellt seine Schwester Rosemary dar. Am 7. Juli 2006 verstirbt er im Alter von 60 Jahren. Diese Welt verlassen hat er leider schon vorher. Rest in peace.
Zeitsprung: Ab 6.4.1968 gehört Syd Barrett offiziell nicht mehr zu Pink Floyd.
Popkultur
10 Jahre „…Like Clockwork“: Als die Queens Of The Stone Age von den Toten auferstehen
Erst ist Josh Homme praktisch tot, am Ende spielt er mit Elton John, Trent Reznor und Dave Grohl das erfolgreichste Album der Queens Of The Stone Age ein: die verrückte, traumatisierende, wagemutige Geschichte von …Like Clockwork.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr …Like Clockwork hören:
„Du brauchst eine richtige Queen!“ Selbst ein Josh Homme muss erstaunt gewesen sein, als er diesen Satz hörte. Er kam immerhin von Elton John, der am anderen Ende der Leitung irgendwo in England saß und dem Desert-Rock-Priester höflich, aber bestimmt mitteilte, dass er auf der neuen Platte der Queens Of The Stone Age mitwirken wird. Dann wiederum ist es nur ein weiteres bizarres Detail einer Reise, an deren Ende mit …Like Clockwork das erfolgreichste Album der Queens Of The Stone Age steht.
Das Herz legt die Arbeit nieder
Diese Reise beginnt in Dunkelheit, Verzweiflung und Schmerz. 2011 kommt Josh Homme für eine Routineoperation an seinem Knie ins Krankenhaus. Während der Operation hört sein Herz auf zu schlagen, die Ärzte müssen ihn mit einem Defibrillator zurückholen. Er verbringt zwei Wochen im Krankenhaus, danach vier Monate zuhause im Bett. Er stürzt in eine tiefe Depression, ist drauf und dran, die Musik hinzuschmeißen. Und das ausgerechnet an diesem Punkt: Nach der fünften Queens-Platte Era Vulgaris tourt er um die Welt, produziert die Arctic Monkeys, gründet Them Crooked Vultures mit Dave Grohl und Led-Zeppelin-Bassist John Paul Jones, hat Spaß mit den Eagles Of Death Metal. Eigentlich läuft es bei Homme so richtig rund, als sein Herz die Arbeit niederlegt.
„Ich wusste nicht, ob ich es jemals wieder auf die Beine schaffe“, sagte er damals. „Ich hatte einige schlimme Jahre, aber ich will da nicht großartig lamentieren, weil für mich alles einfach eine kleinere Wunde in einer sehr großen Wunde ist.“ Während Josh Homme absolut keine Lust auf eine neue Platte mit den Queens Of The Stone Age hat und lieber in Drogen (und ein wenig Selbstmitleid) versinkt, drängen ihn seine damaligen Bandkollegen förmlich dazu. Instinktiv tun sie das Richtige, holen ihn aus seinem Eremitendasein zurück in sein Pink Duck Studio in Burbank.
Der beste Freund wird gefeuert
Zwischen dem 9. August 2012 und 9. März 2013 entsteht dort das Album …Like Clockwork, Hommes persönlicher Ablassbrief, das Album, das all seine Phantome und Dämonen vertreiben soll. Es bleibt bei einem Versuch: „Alben zu machen sollte Spaß machen“, sagt der Bandgründer später über den Prozess. „Selbst wenn sie düster sind, macht es Spaß. Dieses hier fühlte sich an wie Höhlenforschen. Wir kamen einfach nicht aus der Dunkelheit ans Licht.“ Die Spannungen in der Band vertiefen sich, mitten in den Aufnahmen schmeißt Josh Homme seinen Drummer und Freund Joey Castillo aus der Band. Obwohl das Line-Up der Queens durchaus immer fluide war, spielt Castillo damals seit zehn Jahren in der Band. Bis heute gibt es keine Gründe für den Rausschmiss. „Manche Hindernisse sind einfach zu groß“, sagte er nur mal in einem Interview. „Manche denken, ich bin ein Wichser, weil ich meinen besten Freund gefeuert habe, aber die Wahrheit ist, dass ich zu ihm gegangen bin, ihm in die Augen gesehen und ihm gesagt habe, wie ich mich fühle.“
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Dave Grohl springt ein
Sein guter Kumpel Dave Grohl eilt postwendend ins Pink Duck Studio, um die noch warmen Drumsticks von Castillo entgegenzunehmen. „Dave macht aus Gutem etwas Großartiges“, so sagt Homme damals. Was den gepeinigten Hünen wirklich zurück auf Spur bringt, ist aber besagter Anruf von Elton John. Den hält er erst für einen Scherz eines Freundes, muss dann aber sehr schnell feststellen, dass es wirklich der Elton John ist. Ruckzuck kommt er über den großen Teich, steht plötzlich einfach im Studio. „Ich schüttle Elton John die Hand, während ich eine tiefe Wunde verberge, weil ich meinen Drummer vier Tage zuvor gefeuert habe“, erinnert sich Homme an die Begegnung. „Elton betritt den Raum, riesiges Grinsen und in Schale geworfen wie immer, da kannst du einfach nur mitmachen.“
Machismo und Verletzlichkeit
Er spielt Piano auf Fairweather Friends, diesen schleppenden Wüsten-Blues mit Honkytonk-Saloon-Flair, hilft dem traumatisierten Homme wieder auf die Beine und stürmt dann wieder davon, weil er mit Engelbert Humperdinck aufnehmen muss. Typisch Elton John. Er hinterlässt eine Band, die sich neu findet und mit …Like Clockwork gegen Dunkelheit und Schmerz anspielt. „Die Sessions waren richtig destruktiv geworden. Doch als Elton uns verließ, schwebten wir alle auf Wolke sieben“, so Homme. Ebenfalls auf Fairweather Friends zu hören sind übrigens Trent Reznor und Mark Lanegan.
Aus vielerlei Hinsicht ist die sechste Platte der Queens Of The Stone Age deswegen der eigentliche Nachfolger der dritten Platte Songs For The Deaf, auf der auch schon Grohl die Drums verdrosch. Und mindestens ebenso gut. Mindestens. Es zwängt den muskulösen Wüstengroove von Hommes alter Band Kyuss mit seiner Verletzlichkeit in einen Raum, schließt ab und schaut mal, was passiert. Es ist laut, wenn es laut sein muss, abgedreht wenn niemand hinsieht und fragil, wenn man es schon gar nicht mehr erwartet. Insbesondere der Titelsong, ganz ans Ende der Platte gestellt, steht für das Trauma und die Tränen, die am Ende dieser Sessions stehen: nur Hommes Falsett zu einem klagenden Piano – ganz leise und doch ganz laut.
Die Queens Of The Stone Age waren immer Machismo, Rock’n’Roll, Übergröße. Josh Homme auch. Allein körperlich. Doch die Art und Weise, wie sie auf …Like Clockwork Breitbeinigkeit und Zerbrechlichkeit an einen Tisch bringen, ist schlichtweg sensationell. Und bis heute unerreicht.
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Wüstenstaub für die Welt: 10 essenzielle Songs der Queens of The Stone Age
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