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Neues von den Intellektuellenpoppern: Tocotronic veröffentlichen “Die Unendlichkeit”

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Seit heute ist also die neue Scheibe von Tocotronic da. Die Unendlichkeit heißt das zwölfte und bisher wohl persönlichste Album der großen deutschen Intellektuellenpopper. Doch wer die typisch verkopften Texte und komplexe Arrangements erwartet hat, der wird überrascht. Die Unendlichkeit ist in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang. Nachdem die Band auf den letzten Studioalben wahlweise mit metadiskursiver Ironie oder mit lupenreinem Pop kokettierte – etwa auf Schall und Wahn oder auf dem Roten Album – wenden sich Sänger Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller, Drummer Arne Zank und Gitarrist Rick McPhail nun der eigenen Biographie zu. Jeder der zwölf Songs des neuen Konzeptalbums ist einem biographischen Kapitel im Leben der Bandmitglieder gewidmet.


Hör dir hier das Album als Playlist an während du weiter liest:


Thematisch kreist Die Unendlichkeit also um Jugend, Aufwachsen, Liebe, Einsamkeit, Aufbruch, Hoffnung und Tod, kurz: um Zeit oder besser: das Vergehen von Zeit – Geschichte vielleicht. Doch nicht nur die eigene nunmehr ein viertel Jahrhundert währende Bandgeschichte beschäftigt Tocotronic, die neue Platte ist keine Nabelschau einer in die Jahre gekommenen Band, sondern vielmehr eine Rückkehr zu ihren Wurzeln – textlich wie musikalisch. Hatte man der Vergangenheit die Rhythmusgitarre bisweilen als fünftes Bandmitglied vermutet, hört man jetzt kaum noch eine Spur von ihr. Um jedem der zwölf Songs seine ganz eigene Zeitlichkeit zu verleihen, experimentierte das in Hamburg und Berlin ansässige Quartett mit für sie völlig neuartigen Instrumentierungen wie Orgeln, Bläsern, Gitarrensolos, einem Mellotron und sogar so etwas wie ein Theremin ist dabei.

Den Auftakt macht der Titelsong Die Unendlichkeit. Er klingt düster und unheimlich wie eine Kubricksche Fahrt durchs Weltall. Dubartige Halleffekte beschwören Assoziationen herauf zu den ersten und letzten Fragen und zum Werden der Zeit. Das gespenstische Echo der Gitarre erinnert stellenweise auch an Pink Floyds ätherisches Dark Side of The Moon. Nach dieser musikalischen Metapher für Geburt und Entstehung geht es weiter mit Tapfer und grausam – eine Downtemponummer gespickt mit Kindheitserinnerungen. Mit gleichsam weit geöffneter Linse werden wir mitgenommen auf eine Reise voll von unscharfen Umrissen, Lichtern und Karussellen – hin und hergerissen zwischen kindlicher Furcht und Faszination. Das flott-melancholische Electric Guitar und das rotzfreche Indiegeschrammel auf Hey du versetzen uns mit einen Schlag in Zeiten erster Rebellion: „Hey du was starrst du mich an / Breitbeinig auf der Bank / Bin ich etwas, das du nicht kennst / Dass du mich Schwuchtel nennst“.



Die Antwort auf diese Gefühle von Unverständnis und Isolation, die jedem bekannt sein werden, der in der Enge einer Kleinstadt aufgewachsen ist, lautet dann: „Teenage Riot im Reihenhaus“. Weil es auf der neuen Platte aber nicht nur um das Vergehen von individueller Zeit, sondern auch um kollektive Geschichte geht, enthalten Songs wie Electric Guitar zahlreiche Anspielungen auf die deutsche Vergangenheit. An der Bushaltestelle – der wohl universellsten Metapher für das Heranwachsen in einer Kleinstadt: der Bus, der uns endlich fortbringen könnte, bringt uns doch nur jedes mal nach Hause – imaginieren wir uns mit Tocotronic in den späten 80ern zwischen Apfelkorn, Haarspray und Zigaretten als anarchische Revoluzzer auf verschwommene RAF-Fahndungsfotos.

1993 ist es dann so weit: im temporeichsten Song des Albums katapultiert uns eine Kraftwerkeske Computerstimme aus der lähmenden „Schwarzwaldhölle“ endlich in die Hamburger Kleinstadtdiaspora. Der Exodus nach Altona und die damit einhergehende Freiheit geht Hand in Hand mit stroboskopischer Ektase und Exzessen. Die Folgen resonieren im Song als schicksalhafte Jahreszahl 1993, deren mantrahafte Wiederholungen die zahlreichen Erinnerungslücken auffüllen. Dass sich der Song Song an zentraler Stelle des durchkomponierten Albums befindet, ist kein Zufall, denn er markiert einen Wendepunkt.



Mit Unwiederbringlich folgt ein Dämpfer. Das hypnotische Intro des Songs erinnert zunächst an Philip Glasssche Musikschleifen und schlägt dann zum ersten mal auf der neuen Platte einen deutlich nachdenklicheren Ton an. Der Tod eines geliebten Menschen steht hier im Mittelpunkt. Lowtzow – zu keiner Zeit pathetisch – bricht die Ernsthaftigkeit des Themas mit Bemerkungen zur kollektiven Handylosigkeit in den 90ern: „Dein Tod war angekündigt / Das Leben ging dir aus“ „Du lagst im Krankenzimmer / Ich saß im ICE“ „Es gab noch keine Handys / Nur an Bord ein Telefon“. Und obwohl die Schlussnummer Alles was ich immer wollte war alles etwas unfreiwillig nach the-show-must-go-on-Gestus schmeckt, ist Die Unendlichkeit das wohl arrivierteste Album von Tocotronic.

Die Unendlichkeit ist das gereifte Werk einer Band, die alles erreicht hat. Frei nach dem Credo, „dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist“, scheinen die vier über hyperreflexive Ironieschleifen hinausgewachsen zu sein, stattdessen stürzen sie sich Kopf voraus in die sehr persönliche Erinnerungsarbeit. Herausgekommen ist dabei ein geniales musikalisches Pendant zum Genre des klassischen Bildungsromans.


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