Popkultur
Die musikalische DNA von Snow Patrol
Was so eine richtige Rockband ist, fängt ganz unten an. Snow Patrol können genau sagen, wann sie ihren eigenen Tiefpunkt erreichten: Kurz vor Veröffentlichung ihres dritten Albums Final Straw spielte die Band im kleinen Städtchen High Wycomb in einem Pub, der es sogar in die britische Fernsehsendung The Hardest Pubs in Britain schaffte. „Wir kommen da an und werden in den VIP-Bereich geführt – der ironischerweise genauso aussah wie der Rest. Jemand hatte ‚VIP-Bereich‘ auf die Rückseite einer Chips-Box geschrieben“, lachte Drummer Jonny Quinn in einem Interview über das folgende Desaster. „Die veranstalteten da auch Pole Dancing und ich erinnere mich noch daran, wie sie die Stangen abmontierten, damit wir Platz hatten. Der Ansager stellte uns vor mit den Worten: ‚Kommt schon, zeigt ein bisschen Begeisterung für diese Jungs – sie sind extra aus Nordirland und Schottland hergekommen!‘“
Hör hier in die musikalische DNA von Snow Patrol rein:
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Nur wenig später landeten Snow Patrol mit Run ihren ersten Hit und feierten 2006 ihren internationalen Durchbruch dank Grey’s Anatomy. Im Finale der zweiten Staffel des bahnbrechenden Krankenhaus-Dramas lief der Song Chasing Cars, der ihnen zwei Grammy-Nominierungen (als Bester Song 2006 und Bester Rock-Song 2007) einbrachte und der 2009 von der Phonographic Performance Limited als meistgespielter Song Großbritanniens des vergangenen Jahrzehnts verkündet wurde, bevor er im selben Monat beim Fernsehsender Channel 4 in einer Zuschauerabstimmung als bester Song der Nullerjahre gewählt wurde.
Nicht nur mit ihrer Hauptband, auch in anderen Bereichen können Gary Lightbody, Jonny Quinn, Nathan Connolly, Paul Wilson und Johnny McDaid punkten. Keine Frage: Snow Patrol haben zwar klein angefangen, sind aber groß rausgekommen. Ihr Erfolgsrezept? „Eine Mischung aus Melodien und Ehrlichkeit“, nennt es Frontmann Lightbody. Ehrlichkeit lässt sich nicht lernen, alles andere schon. Werfen wir also einen Blick auf die musikalische DNA der Band, um herauszufinden, welche Musik sie durch gute wie durch schlechte Zeiten begleitet und inspiriert hat.
1. Cream – Strange Brew
„Merkt euch den Namen. Und merkt euch, wo ihr ihn zuerst gelesen habt“, jubilierte das Weihnachtsbulletin an der schottischen Universität von Dundee im Dezember 1994. Welche Band gemeint war? Shrug! Nie gehört? Kein Wunder: Schon bald sollte sich das Trio, das an diesem Abend neben zehn eigenen Stücken auch Cover-Versionen von den Lemonheads, Radiohead, David Bowie, Grant Lee Buffalo und dem Blues-Helden Leadbelly spielte, umbenennen. Erst in Polar Bear, dann in Snow Patrol.
Dass nicht nur Pop-Idole wie Bowie oder Indie-Bands wie Radiohead und die Lemonheads, sondern auch Blues auf dem Programm standen, verwundert nicht weiter. Snow Patrol-Drummer Jonny Quinn ist ein erklärter Fan von Ginger Baker, dem legendären Schlagzeuger von Cream. Sogar in einer Band namens Disraeli Gears spielte Quinn zeitweise – benannt war die Kombo nach einem Cream-Album. Als veritable Supergroup sollten Eric Clapton, Jack Bruce und Baker einen monumentalen Sound etablieren, der Snow Patrol zweifelsohne geprägt hat.
2. Belle and Sebastian – The Fox in the Snow
Doch waren es auch die ruhigen Töne, denen die Band immer schon etwas abgewinnen konnte. Belle and Sebastian gehören zu den aufstrebenden Bands der Musikszene in Glasgow, als Snow Patrol bei ihrem Label Jeepster unterschrieben. Ein Jahr, bevor Snow Patrol mit ihrer EP Starfighter Pilot unter neuem Namen debütierten, landeten Belle and Sebastian mit dem zurückhaltenden Sound von Songs wie Fox in the Snow in Indie-Kreisen einen kleinen Hit. Sie wurden bekannt genug, um auch den aufstrebenden Kollegen von Snow Patrol ungewollt auf die Sprünge zu helfen: Angeblich gaben die sich gerne als Belle and Sebastian-Mitglieder aus, um sich den Eintritt in Clubs zu sparen…
Das Kollektiv um Stevie Jackson hat es ihnen offenkundig nicht übel genommen: Noch heute sind beide Bands gut befreundet und 2014 revanchierte sich Quinn sogar, indem er die Band beim Snow Patrol-Verlag Polar Patrol einen Vertrag unterschreiben ließ. Zudem halfen die Mitglieder einander immer wieder aus, wenn buchstäblich Not am Mann war – Richard Colburn beispielsweise saß auch schon bei den Kumpels auf dem Schemel. Das ist eben das Schöne an Snow Patrol: Sie sind sich selbst und ihren Wurzeln in der Independent-Szene treu geblieben.
3. Bright Eyes – You Will. You? Will. You? Will. You? Will.
Das zeigt sich ebenfalls in der Wahl der zahlreichen Coverversionen, welche die nordirisch-schottische Band im Laufe ihrer Karriere eingespielt haben. Vom schüchternen Twee-Sound Belle and Sebastians ist es nicht sehr weit zum Sadcore der Band Low, deren Song Just Like Christmas sie 2006 für die Weihnachts-Compilation Kevin & Bean’s Super Christmas des US-amerikanischen Radiosenders KROQ-FM neu einspielten. Belle and Sebastian und Low nehmen für ihre Musik gerne Folk-Elemente auf, die auch Snow Patrol keinesfalls fremd sind.
Einer der einflussreichsten Folk-Interpreten ist Conor Oberst, besser bekannt als Bright Eyes. Den Song You Will. You? Will. You? Will. You? Will. covern Snow Patrol auch noch gerne auf ihren Shows. „Ich liebe Bright Eyes, weil er einer der ehrlichsten, eloquentesten, intelligentesten Sänger ist, die ich je gehört habe“, erzählte Lightbody 2004 dem britischen Guardian. „Als ich das erste Mal das Album Lifted [Or The Story Is In The Soil, Keep Your Ear To The Ground] hörte, wollte ich heulen und die Gitarre hinschmeißen. Nach ein paar mehr Durchläufen allerdings war es eher inspirierend denn einschüchternd.“ Puh, gerade noch mal gut gegangen!
4. John Lennon – Isolation
Ja, obwohl Snow Patrol gerne als Stadion-Rock-Band abgetan werden: Im Zentrum ihrer Musik steht immer gutes und manchmal auch abenteuerliches Songwriting. Gelernt haben sie das nicht allein von ihren Kollegen und Zeitgenossen, sondern ebenso den ganz Großen. Neben Low und den Bright Eyes hat die Band auch John Lennon gecovert, genauer gesagt seinen Song Isolation vom Album Plastic Ono Band.
Die Veröffentlichung geschah natürlich ganz im Sinne des Imagine-Sängers: Zuerst war Isolation in der Snow Patrol-Version auf dem Charity-Sampler Make Some Noise und zwei Jahre später auf dem Lennon-Tribute-Album Instant Karma: The Amnesty International Campaign to Save Darfur zu hören. Kein Wunder, ist das sozialpolitische Engagement der Band bestens dokumentiert.
5. Beyoncé – Crazy In Love (feat. Jay-Z)
Wer Snow Patrol sagt, meint in der Regel einen epischen und emotionalen Rocksound. Wer allerdings von Snow Patrol redet, darf von ihrem langjährigen Produzenten Jacknife Lee nicht schweigen und auch nicht vergessen, dass einige Mitglieder der Band sich auch kräftig im Pop- und sogar Dance-Geschäft umtreiben. Wusstet ihr, dass Lightbody Just Say Yes zuerst für Nicole Scherzinger schrieb, bevor ihre Gruppe Pussycat Dolls den Song nochmals aufnahm? Snow Patrol selbst veröffentlichten ihn erst 2009 auf ihrer Anthologie Up to Now.
Als DJ-Veteran legt Lightbody tatsächlich auch gerne House oder Hip Hop auf, manchmal gemischt mit Rock. Das allein erklärt nicht nur die subtilen elektronischen Einschläge auf ihren Platten, insbesondere den vom Dance-Produzenten Lee produzierten. Sondern auch, warum sie mit About You Now und Crazy in Love sogar Stücke von den Sugababes und Beyoncé nachgespielt haben! Auch ihr Crazy In Love-Cover war auf Up to Now zu hören. Natürlich aber im Rock-Gewand – typisch Snow Patrol!
6. Nirvana – Territorial Pissings
Trotz ihrer sehr breiten Vorlieben sind Snow Patrol dem Rock immer treu geblieben. Ihre einzigartigen Laut-Leise-Dynamiken, die Songs wie Chasing Cars den notwendigen Drive verleihen, lassen schließlich nicht ohne Grund an die großen Hits der Grunge-Ära denken. Tatsächlich gehört Nirvana zu einem der Haupteinflüsse der Band. Besonders Songwriter Lightbody ist von der Band um Kurt Cobain nach wie vor begeistert.
„Als ich Nevermind hörte, explodierte mir der verfickte Kopf“, fluchte er vor Freude. „Zuerst hörte ich die erste Seite, es war eine Kassette, und mein Kumpel ging zum Essen aus und hörte sie sich während der Mittagspause an. Nach der Schule saßen wir gemeinsam im Bus und er gab mir einen Kopfhörer und Territorial Pissings lief und es war wie eine Explosion.“ Der Teilzeit-Metalhead Lightbody, der vorher vorm Spiegel zu AC/DC posiert hatte, war von da an Feuer und Flamme für Nirvana. Nevermind stellt er immer noch auf einen Thron. „Diese Platte hat alles umgehauen, deswegen sitze ich hier, wegen ihr wollte ich überhaupt in einer Band sein.“ Starke Worte!
7. Super Furry Animals – Something 4 the Weekend
Die rohe Energie von Nirvana kam wie ein warmer Regenschauer über die nordirische Einöde, in welcher Lightbody aufwuchs. Doch sie allein war nicht alles, was ihn als Songwriter prägte. „Wenn Nirvana mich dazu gebracht haben, die Gitarre aufzunehmen, dann waren es die Super Furry Animals, die mich darüber nachdenken ließen, was ich damit zum Ausdruck bringen konnte“, sagte er in einem Interview. „Ich denke, dass sie die Beatles unserer Generation sind.“ Auch das: starke Worte.
Dabei ist die walisische Psychedelic-Band nie weit über die Grenzen Großbritanniens hinaus bekannt geworden. Das Quintett aus Cardiff hat aber tausende von Bands mit ihrem Einfallsreichtum und ihren wagemutigen Songwriting-Experimenten beeinflusst. Für Lightbody und seine Kollegen gehören Alben wie Fuzzy Logic, Radiator oder Guerilla zu dem Besten, was die britische Musikszene je hervorgebracht hat. „Ich prügel mich mit jedem auf der Straße, der da Einspruch erhebt!“, so Lightbody. Fordert ihn besser nicht heraus!
8. U2 – Mysterious Ways
Andere Bands waren weniger innovativ, übten aber einen noch größeren Einfluss auf die Musikgeschichte aus als die Super Furry Animals. U2 sind vielleicht der ideale Kompromiss: Ihr Sound wagte einiges, ihr Songwriting war dennoch gradlinig und belohnt wurden sie mit ewigem Ruhm. Zu ihren Fans zählen natürlich auch Snow Patrol, deren eigene Alben häufig an denen der Idole gemessen wurden. 2005 gingen sie sogar mit der irischen Band gemeinsam auf Tour, als diese mit ihrer LP How to Dismantle an Atomic Bomb die Stadien dieser Welt abklapperten.
Insbesondere U2s atemberaubende Live-Shows, die nun wirklich keine Kosten oder Mühen scheuen, haben es der nordirisch-schottischen Gruppe angetan. Dass Snow Patrol zu Protokoll gaben, gerne eine Tourdokumentation nach dem Vorbild von Rattle and Hum zu drehen, überrascht da ebenso wenig wie ihre Coverversion von Mysterious Ways von U2s Überalbum Achtung Baby. Weniger bekannt ist der Snow Patrol-Remix, den Johnny McDaid 2010 für den U2-Song Unknown Caller anfertigte. So oder so: Die Band konnte ihren Helden mehr als nah kommen.
9. Oasis – Wonderwall
Dasselbe gilt auch für eine andere Band, mit der sich Snow Patrol ständig vergleichen lassen mussten: Oasis. Was Wonderwall für die eine Generation britischer Teenager war, das sollte Anfang des dritten Jahrtausends Chasing Cars werden. Nicht selten wurde Snow Patrol deshalb der Stempel Britpop aufgedrückt, den Oasis Seite an Seite mit Bands wie Blur geprägt hatten. Gestört hat es Lightbody, McDaid, Quinn sowie ihre Mitstreiter Nathan Connolly und Paul Wilson anscheinend nie.
2009 durften sie sogar einspringen, als Oasis ihren Gig beim V Festival im englischen Chelmsford wegen einer Erkrankung Liam Gallaghers absagen mussten. „Die großen Oasis sollten jetzt hier stehen“, rief Lightbody den enttäuschten Fans zu und bat sie, den Ersatz doch bitte nicht auszubuhen. Typisch britisch! Als Trostpflaster spielten Snow Patrol in ihrer Zugabe gleich zwei Oasis-Klassiker, Wonderwall und Champagne Supernova. Wer hätte da noch zu buhen gewagt? Mitsingen war angesagt!
10. Foy Vance – Guiding Light (feat. Ed Sheeran)
Kritischer wird für eingefleischte Snow Patrol-Fans schon die Tatsache sein, dass McDaid Ed Sheeran zu seinen engsten Vertrauten zählt. Rockstars und Pop-Größen, das passt doch meistens nicht zusammen! Nun, die beiden schert es offensichtlich nicht. Im Gegenteil: Sie kommen bestens miteinander klar und das allein ist alles, was zählt.
So gut sind die Songwriting-Partner befreundet, dass sie sogar dasselbe Tattoo haben. Dazu gibt es eine rührende Geschichte: Der ursprünglich von Foy Vance verfasste Song Guiding Light, aus dem der auf Irisch übertragene Spruch „Nuair is gá dom filleadh abhaile, is tú mo réalt eolais“ („Wenn ich nach Hause muss, bist du mein führendes Licht“) stammt, wurde von McDaid und Sheeran für John McDaid senior neu eingespielt. Der Legende nach hat die McDaid-Familie das Stück dem kranken Vater auf dem Sterbebett vorgespielt. Nicht nur die Musik von Snow Patrol schafft Verbindungen.
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Popkultur
„Monsters Of California“: Alles über den UFO-Film von Blink-182-Sänger Tom DeLonge
Blink-182-Fans wissen: Frontmann Tom DeLonge hat nicht nur ein Faible für Rock, sondern auch für Roswell. Schon seit vielen Jahren interessiert er sich für UFOs, außerirdische Lebensformen und alles, was damit zu tun hat. Mit Monsters Of California bringt er bald seinen ersten Film raus. Und darin geht es natürlich um …
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Nine von Blink-182 anhören:
… genau. In Monsters Of California hängt der Teenager Dallas Edwards am liebsten mit seinen verpeilten Freund*innen herum. Eines Tages findet die südkalifornische Clique zufällig einige Unterlagen von Dallas’ Vater, die darauf schließen lassen, dass er beruflich mit mysteriösen und paranormalen Ereignissen zu tun hat. Die Jugendlichen verknüpfen ihre Erkenntnisse miteinander, stellen Theorien auf — und werden auf einmal von uniformierten Männern mit Maschinengewehren umstellt. Spätestens jetzt wissen sie, dass etwas Großem auf der Spur sind. Doch sie haben natürlich noch keine Ahnung, wie groß ihre Entdeckung wirklich ist …
Tom DeLonge: Pop-Punk-Ikone und UFO-Fan
Die meisten kennen Tom DeLonge als Sänger und Gitarrist der erfolgreichen Pop-Punks Blink-182. Doch der Kalifornier ist auch ein ausgewiesener Alien-Fan, der sich in seiner Freizeit ausgiebig mit UFO-Sichtungen, Area-51-Theorien, außerirdischen Lebensformen und paranormalen Aktivitäten beschäftigt. (Mit dem Song Aliens Exist vom Blink-182-Album Enema Of The State brachte er DeLonge beiden Leidenschaften 1999 unter einen Hut — und genau diese Nummer ist natürlich auch im Trailer von Monsters Of California zu hören.) Immer wieder hinterfragt und forscht er im Namen der Wissenschaft nach Aliens und sucht Erklärungen für diverse Verschwörungstheorien. Schräg, oder?
DeLonges Engagement geht so weit, dass er am 18. Februar 2017 zum Beispiel den „UFO Researcher of the Year Award“ von OpenMindTV verliehen bekam. 2015 erzählte er in einem Interview von einer mutmaßlichen Begegnung mit Außerirdischen — während eines Camping-Trips nahe der sagenumwobenen Area 51. „Mein ganzer Körper hat sich angefühlt, als sei er statisch aufgeladen gewesen“, versicherte der Sänger. Auch Freunde von ihm könnten über Begegnungen mit Aliens berichten. Außerdem verfüge er über Regierungsquellen und auch sein Telefon sei aufgrund seiner Forschungen schon abgehört worden. Wenn er meint …
Monsters Of California: Wann startet der erste Film von Tom DeLonge?
In den USA läuft Monsters Of California am 6. Oktober 2023 an, doch wann der Streifen in Deutschland erscheinen soll, ist bisher nicht klar. So oder so: Der Trailer verspricht mindestens einen unterhaltsamen Kinobesuch — nicht nur für Blink-182-Fans.
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Popkultur
Zeitsprung: Am 29.9.1986 trumpfen Iron Maiden erneut auf mit „Somewhere In Time“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 29.9.1986.
von Christof Leim
In den Achtzigern stürmen Iron Maiden von einem Triumph zum nächsten. Dabei reiben sie sich fast bis zur Überlastung auf, halten aber konsequent Kurs und Niveau und entdecken neue Sounds. Am 29. September 1986 erscheint Somewhere In Time – und Eddie wird zum Cyborg.
Hier könnt ihr das Album hören:
Die Geschichte von Somewhere In Time beginnt mit völliger Erschöpfung. Kann nach einer Welteroberung schon mal passieren: 1984 hatten die fünf Briten auf der World Slavery Tour elf Monate lang in 28 Ländern auf vier Kontinenten gespielt – und zwar satte 193 Shows vor geschätzten 3,5 Millionen Fans. Der Preis: Bruce Dickinson (Gesang), Steve Harris (Bass), Dave Murray (Gitarre), Adrian Smith (Gitarre) und Nicko McBrain (Schlagzeug) sind fix und fertig. Deshalb fordern die Musiker sechs Monate Pause. Daraus werden zwar nur vier, doch zum allerersten Mal seit Jahren steht die Maiden-Maschine ein Weilchen still.
Neues Spielzeug
Die Konsequenzen hört man: Harris, Smith und Murray experimentieren mit Gitarrensynthesizern, mit denen sich Keyboardsounds über die Gitarre und den Bass erzeugen lassen. Dickinson indes zweifelt an seiner Motivation und will musikalisch in eine andere Richtung. Er komponiert vor allem akustisches (also stromloses, ruhiges) Material, das von den Kollegen und dem Produzenten aber abgelehnt wird. Der Sänger zeigt sich verletzt, freut sich aber darüber, für eine Weile „nur“ singen zu müssen. Für ihn springt Adrian Smith in die Bresche und liefert im Alleingang mehrere fertige Tracks, die auf einhellige Begeisterung stoßen und Somewhere In Time maßgeblich prägen sollten.
Futuristische Fahrzeuge, klassische Patronengurte: Iron Maiden auf dem Pressefoto für „Somewhere In Time“ – Foto: Aaron Rapoport/Promo
Erst im Januar 1986 geht es zurück ins Studio, genauer: in mehrere Studios. Drums und Bass nehmen Iron Maiden in den Compass Point Studios auf den Bahamas auf, in dem auch AC/DC Back In Black eingespielt hatten. Gitarren und Gesänge bringen die Musiker in den Wisseloord Studios im niederländischen Hilversum auf Band, abgemischt wird schließlich in den Electric Lady Studios in New York. Damit wird Somewhere In Time nicht nur zum teuersten Album der bisherigen Bandkarriere, sondern auch zum technisch ambitioniertesten. Wie für die Beständigkeit in der Maiden-Welt der Achtziger typisch, ändert sich an der sonstigen Formel wenig. Die Produktion übernimmt ein weiteres Mal Stammproduzent Martin Birch.
Fünf Minuten mindestens
Somewhere In Time erscheint am 29. September 1986 und steigt in Großbritannien auf Platz drei ein. In den USA schafft die Band mit Platz elf ihre bis dato beste Platzierung. Auf dem Cover prangt natürlich das unvergleichliche Iron Maiden-Monster Eddie in einem aufwändigen Science-Fiction-Gemälde. Schon im Intro der ersten Nummer, dem vom Film Blade Runner inspirierten Quasi-Titelstück Caught Somewhere In Time aus der Feder von Steve Harris, hören die Fans die besagten Gitarren-Synthesizer. Doch am grundsätzlichen Stil von Iron Maiden hat sich nichts geändert. Es galoppiert der Bass, wie es sich gehört, die Gitarren riffen, und Dickinson lässt seine Sirenenstimme aufheulen. Wo Iron Maiden drauf steht, ist Heavy Metal drin, vermutlich bis ans Ende aller Tage. Allerdings klingt Somewhere In Time insgesamt weniger rau, sondern bei gleichem Energieniveau erwachsener, vielschichtiger und, wenn mal so will, futuristischer.
Von den acht Songs fällt keiner kürzer aus als fünf Minuten aus, das Gros stammt von Steve Harris, drei Beiträge kommen von Adrian Smith. Dazu gehört die erste Single Wasted Years, in der Maiden so eingängig klingen wie es nur geht, ohne ihren eigenen Sound zu verlieren. Der Text erzählt von Heimatlosigkeit und Entfremdung – ein klarer Kommentar zur endlosen World Slavery Tour. Als Wasted Years drei Wochen vor dem Album als Single ausgekoppelt wird, sieht man auf dem Cover das Cockpit einer Zeitmaschine, in deren Armaturenbrett sich der Kopf von Eddie spiegelt. Der Grund: Sein neues Aussehen sollte nicht vor Erscheinen des Albums verraten werden, schließlich hat das Maskottchen mittlerweile Kultstatus erreicht.
Auf der Vorabsingle durfte Eddie sich noch nicht ganz zeigen…
Filme und Bücher als Inspiration
Das folgende Sea Of Madness, ein dramatischer Uptempo-Banger, stammt ebenfalls von Smith, setzt aber keine besonderen Akzente. Für Heaven Can Wait, einen Harris-Song über eine Nahtoderfahrung, rekrutieren Maiden die Gäste einer Kneipe, um die „Oh-Oh“ -Fußballchöre im Mittelteil einsingen zu lassen.
Das ebenso harte wie vertrackte The Loneliness Of The Long Distance Runner basiert nicht nur im Titel auf einer Kurzgeschichte des britischen Autoren Alan Sillitoe. Stranger In A Strange Land hingegen geht direkt ins Ohr und wird deshalb als zweite Single ausgekoppelt. Inspiriert wurde Adrian Smith hierfür durch ein Gespräch mit einem Arktisforscher, der einen gefrorenen Körper im Eis gefunden hatte. Vom gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Robert A. Heinlein hingegen leiht sich Smith lediglich den Titel.
Egal, wo und wann: Eddie ist immer cool
Die Credits für Deja-Vu teilt sich Harris mit Dave Murray, der im Schnitt für jedes zweite Album einen Song beisteuert. Alexander The Great stammt vom Bassisten alleine und reiht sich mit einer Spielzeit von achteinhalb Minuten in den Reigen der großen Maiden-Epen ein, diesmal mit explizit historischem Bezug.
Ein Cover wie ein Bildband
Ein sicherer Hit ist zweifelsfrei das Artwork der Platte: Hier steht Eddie als Weltraum-Terminator mit Cyborg-Auge und Laserpistolen in einer futuristischen Stadt, die vor Details nur so überquillt. Der Künstler Derek Riggs, der Künstler hinter diesem Werk, erinnert sich an den Arbeitsauftrag: „Wir haben uns eigens in Amsterdam getroffen und drei Tage lang über das Cover gesprochen. Sie wollten eine Kulisse wie in Blade Runner, eine Science-Fiction-Stadt.“ Um das zu erreichen, erschafft Riggs eine Skyline mit Werbeslogans und Firmennamen, die er größtenteils erfindet, um Copyright-Probleme zu vermeiden. Dabei dreht er richtig auf und auch ein wenig durch.
Immense Detailfülle und jede Menge versteckte Späßchen: Das Artwork aus der Feder von Derek Riggs
Wer genau hinguckt, kann unter anderem erkennen: den Sensenmann und die Katze mit Heiligenschein von Live After Death, den abstürzenden Himmelsstürmer aus Flight Of Icarus, ein Flugzeug über der „Aces High Bar“ , das „Ancient Mariner Seafood Restaurant“, ein Straßenschild zur „Acacia Avenue“ , ein Konzertposter mit dem Ur-Eddie, die Dame aus Charlotte The Harlot, die Tardis aus Doctor Who, Batman, eine Uhr, die zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt, das „Phantom Opera House“ , den Ruskin Arms Pub (eine der ersten Spielstätten der Band) sowie die exakt gleiche Straßenlaterne wie auf dem Cover des Debüts. Irgendwo steht sogar auf Japanisch „Pickelcreme“ , auf Russisch „Joghurt“ und in Spiegelschrift „Dies ist ein sehr langweiliges Gemälde“. Drei Monate sitzt Derek Riggs an dem Werk, mitgezählt eine mehrwöchige Zwangspause, weil er irgendwann Halluzinationen bekommt und aussetzen muss. Kurzum: Das Cover ist Wahnsinn. Und absolut großartig.
…und die Rückseite ist genauso bombastisch.
Auf die Straße. Natürlich.
Natürlich geht es für die fünf Musiker umgehend auf Konzertreise: Der Somewhere On Tour getaufte Trek zieht von September 1986 bis Mai 1987 um die Welt, mit dabei ein überdimensionaler Cyborg-Eddie, der über die Bühne spaziert, zwei riesige Podeste rechts und links in Form von Monsterkrallen, eine aufwändige, sehr helle Lightshow sowie ein pulsierendes Leuchtherz als Teil von Bruces Bühnenoutfit.
Somewhere On Tour: Dave Murray schreddert, Eddie guckt kritisch – Foto: Ebet Roberts/Redferns/Getty Images
So stressig und geradezu selbstmörderisch wie zwei Jahre zuvor auf der World Slavery Tour sollte es jedoch nicht mehr werden, auch die Zeiten, in denen Iron Maiden jedes Jahr ein Album und eine Welttour hinlegen, sind mit Somewhere In Time vorbei. Doch die Metal-Weltherrschaft der Achtziger haben Iron Maiden da längst inne.
Zeitsprung: Am 28.4.1988 starten Iron Maiden ihre Welttournee in einem Kölner Club.
Popkultur
„Wicked Game“ von HIM: Wie eine Coverversion den Finnen alle Türen öffnete
Mit ihrer Coverversion des Chris-Isaak-Hits Wicked Game legten HIM so ziemlich alle Grundsteine für ihre einzigartige Erfolgsgeschichte. Im Folgenden lest ihr, welchen Stellenwert der Song in der HIM-Historie einnimmt und warum die Finnen das Stück mindestens viermal in unterschiedlichen Versionen aufgenommen haben.
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Greatest Lovesongs Vol. 666 von HIM anhören:
Es ist der Song, der HIM ins Rampenlicht befördert. Schon für ihre Demo This Is Only The Beginning nehmen Ville Valo und seine Bandkollegen eine Coverversion des Chris-Isaak-Klassikers Wicked Game auf und schinden damit jede Menge Eindruck — zum Beispiel bei BMG-Mitarbeiter Asko Kallonen, der die Newcomer sofort unter Vertrag nimmt. Am 19. Oktober 1996 veröffentlichen HIM ihre erste EP und geben der Welt damit einen Vorgeschmack auf eine der letzten großen Karrieren der Rock’n’Roll-Geschichte. 666 Ways To Love: Prologue heißt das gute Stück und die junge Band arbeitet für die Veröffentlichung mit Produzent Hiili Hiilesmaa zusammen, der laut Ville Valo maßgeblich an der Entwicklung des typischen HIM-Sounds beteiligt ist. Auch Wicked Game ist auf der EP zu hören — doch es handelt sich noch lange nicht um die letzte Version des Songs.
Wicked Game: ein melancholischer Love-Song mit großer Bedeutung für HIM
Im Sommer 1997 starten HIM mit der Produktion ihres Debütalbums Greatest Lovesongs Vol. 666. Einmal mehr spielen sie dafür Wicked Game ein, und zwar in der Version, die am 28. September 1998 als Single erscheint und die für viele Rock-Fans der erste Berührungspunkt mit HIM sein dürfte. Wüsste man nicht, dass es sich um eine Komposition von Chris Isaak handelt: Das Stück könnte auch ein Ville-Valo-Eigengewächs sein. Melancholie, Fatalismus, Liebe: Wicked Game enthält alle Trademarks des Finnen, weshalb HIM die Nummer auch bloß nachspielen müssen, um sie sich zu eigen zu machen. Damit heben sie sich von vielen anderen Bands und Musiker*innen ab, denn nur wenige Stücke werden so oft gecovert wie Wicked Game. Das britische Lifestyle-Magazin Dazed bezeichnet den Hit sogar mal als „möglicherweise einflussreichsten Love-Song in der modernen Musik“.
Auf die Idee für das Stück kommt Chris Isaak laut eigener Aussage nach einem Telefonat. So möchte eine Frau damals ein spontanes Treffen mit dem Musiker arrangieren, doch der hat gemischte Gefühle. In einem Interview verrät er: „Ich habe den Song zwischen dem Telefonat und dem Besuch geschrieben. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn man sich stark zu einer Person hingezogen fühlt, die nicht unbedingt gut für einen ist. Ich glaube, dass ich damit einen Nerv getroffen habe, denn viele von uns fühlen sich stark zu anderen Menschen hingezogen, die uns nicht unbedingt gut tun.“ Genau jene Hin- und Hergerissenheit zwischen Liebe und Düsternis ist es, die den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Song aus der Feder von HIM-Frontmann Ville Valo. Manchmal passt es einfach.
Wicked Game: Der Song, mit dem HIM ihren Sound fanden
Noch heute hat Wicked Game seinen festen Platz in der HIM-Geschichte. „Das war einer der ersten Songs, die wir als Band zusammen gespielt haben, und er hat uns sehr dabei geholfen, unseren Sound zu finden“, erklärt HIM-Sänger Ville Valo Jahrzehnte später in einem Interview. „Das fällt in der Regel leichter, wenn man die Songs von jemand anderem spielt. Man muss nicht über den Text nachdenken oder so. Man kennt das Lied sowieso auswendig und das macht es einfacher.“ Ihr typischer Sound ist es auch, der HIM ab Ende der Neunziger in die Rock-Champions-League katapultiert. Schon mit ihrem zweiten Langspieler Razorblade Romance (1999) gelingt ihnen der große Durchbruch. Und wieder ist auf dem Album eine neue HIM-Aufnahme von Wicked Game zu finden. Die Jungs mögen den Song echt.
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