------------

Popkultur

30 Jahre „Rid Of Me“: PJ Harveys schroffer Schlag gegen den Mainstream

Published on

PJ Harvey HEADER
Foto: Steve Eichner/Getty Images

Vor 30 Jahren überfordert PJ Harvey ihre Kritiker mit den schroffen Widerstandshymnen von Rid Of Me – eine kratzige, dissonante, psychotische Explosion mit Schockwellen bis in die Gegenwart.

von Björn Springorum

Hier könnt ihr euch Rid Of Me anhören:

Polly Jean Harvey war noch nie jemand, die Erwartungen erfüllen wollte. Sie wächst auf einer Schaffarm irgendwo in Englands Abgeschiedenheit auf, wendet sich der Musik zu, legt ihre Seele blank und packt alles, was in ihr ist, auf ihr Debüt Dry. Es erscheint 1992, wird voller Begeisterung und Verstörung aufgenommen, macht die Künstlerin, die eigentlich nur Katharsis will, zum heißesten UK-Newcomer seit Jahren.

Ein neues Nevermind

Wenn man weiß, dass PJ Harvey immer davon ausging, nur dieses eine Album machen zu wollen, wenn man weiß, dass sie deswegen alles entfesselte, was sie störte, ängstigte, nervte, wütend machte, kratzte, beschäftigte, dann versteht man auch das, was nach Dry passiert. Plötzlich findet sich die junge Sängerin inmitten eines Bieterwettstreits mit den größten Plattenfirmen wieder. Kurt Cobain ist bekennender Fan, der Rolling Stone nennt sie Songwriter of the year, sie und ihre Kollegen Steve Vaughan und Rob Ellis legen einen umjubelten Auftritt beim Reading Festival 1992 hin.

Alle sind sich sicher: Hier kann eine Geschichte wie bei Nirvana entstehen. Ein in Szenekreisen vergöttertes Album, danach ein neues Nevermind. Die Band unterzeichnet bei Island Records und wird im Dezember 1992 ins verschneite, bitterkalte Cannon Falls, Minnesota geschickt, wo sie mit Steve Albini (der davor Surfer Rosa von den Pixies prodzierte) ein neues Album aufnehmen sollen.

Dämonen im Winter

Wie es PJ Harvey damals geht, wird erst später klar: Das viele Touren und der geballte Fokus auf ihrer Person im Zuge des Erfolgs von Dry werfen die Künstlerin aus der Bahn. Viele sagen, sie erleidet einen Nervenzusammenbruch, isst und schläft kaum, hat zudem eine heftige Trennung zu verarbeiten. All diese Dämonen schleppt sie mit sich in den Winter Minnesotas und spielt, singt, schreit sie sich von der Seele.

Es ist glasklar, dass hier kein neues Dry entstehen kann. Stattdessen schraubt Harvey die Regler bei Frustration, Wut, Verunsicherung und Aggression hoch. Die Gitarren sind laut und verzerrt, die kantigen Drums landen Schläge in der Magengrube, ihre bisweilen verspielte, laszive Art zu singen ist dissonanten Tönenund Schreien gewichen. Banshee-Style. Im Titelsong Rid Of Me singt sie:

I’ll tie your legs

Keep you against my chest

Oh, you’re not rid of me

Yeah, you’re not rid of me

I’ll make you lick my injuries

I’m gonna twist your head off, see

Das ist purer Rock-Furor, herausgeschrien von ganz unten, da, wo die Dämonen im Kreis tanzen. Es sind Anti-Liebeslieder, flammende Plädoyers für sexuelle und soziale Unabhängigkeit, scharfkantige Empowerment-Hymnen. Feminismus ist das dennoch nicht, sagt sie selbst: „Die Hälfte der Zeit sehe ich mich selbst gar nicht als weiblich“, sagte sie mal. „Wenn ich Songs schreibe, denke ich nie an ein Geschlecht. Ich schreibe über zwischenmenschliche Beziehungen. Mich faszinieren Dinge, die als abstoßend oder beschämend gelten.“

Schroff, erhaben, oben ohne

Das bricht krass mit allen Rollen, die man aus dem Rock’n’Roll bislang zu kennen glaubte. Wenn du eine Frau in einer Rockband bist, dann singst du gefälligst auch darüber. Dann ist man stolz darauf, zeigt den Männern den Mittelfinger und all das. PJ Harvey sieht es nicht ein, da mitzumachen. Sie ist anders. Anders als alles vor ihr. Schrill klingt sie auf Rid Of Me, auf schroffe Art erhaben, psychotisch, sexuell aufgeladen. Alles nicht unbedingt das, was man auf einem Major-Album erwarten würde. Gilt auch für das Cover: PJ Harvey, oben ohne, wirbelt ihr klatschnasses Haar im Kreis. Irgendwie lässt man sie damit durchkommen – sehr zum Unbill der englischen Mainstream-Presse, die mit Fassungslosigkeit auf die expliziten, krassen Lyrics aus dem Munde einer Frau reagiert. Schnell bauscht sich ein Bild in den Medien auf. Sie muss ja eine männerverschlingende Domina sein, keine Frage. „Die Menschen haben ein sehr genaues Bild von mir“, sagte sie mal dazu. „Sie denken, ich bin eine Axt schwingende, Männer fressende Vampirin. Dabei bin ich eher das komplette Gegenteil.“

Mittelfinger hoch

Fans und Kritiker lieben das Album dennoch. Oder hoffentlich genau deswegen. PJ Harvey erstaunt das aber sogar: „Ich dachte nicht, dass irgendjemand, der mein erstes Album im Schrank hat, Rid Of Me mögen würde.“ Mit der schonungslosen, harten Albini-Produktion macht sie es vielen dennoch nicht leicht. Anders würde Rid Of Me aber nicht funktionieren. Es ist der große Mittelfinger gegen alle Erwartungen, gegen die Schatten ihrer Vergangenheit. Vielleicht ist es ihr emotional intensivstes Werk – minimalistisch, aufwühlend, schwer verdaulich.

Auch für die Band: Den Sommer 1993 verbringt man noch gemeinsam auf Tour, eröffnet einige Shows für U2. Bevor das Jahr zu Ende ist, steht PJ Harvey als Solitärin auf der Bühne. Es konnte nicht anders kommen. Mit den Tantiemen kauft sie sich ein Haus in der englischen Einöde, lebt als Eremitin und schreibt To Bring You My Love, was ihr 1995 den ganz großen Durchbruch beschert. Ganz allein.

Du willst nichts mehr in der Rockwelt verpassen? Melde dich hier für unseren Newsletter an und werde regelmäßig von uns über die wichtigsten Neuigkeiten, die spannendsten Geschichten sowie die besten Veröffentlichungen und Aktionen informiert!

Don't Miss