------------

Popkultur

Von Wintervögeln, Umlaufbahnen und Models: Paul McCartney erläutert die Songs von „McCartney III“

Published on

Paul McCartney
Foto: Mary McCartney

Isolation als Inspiration und Antriebskraft: Im „Rockdown“ konzipiert und im Alleingang eingespielt, meldet sich Paul McCartney im Dezember 2020 mit seinem dritten gleichnamigen Album zurück. Hatte schon zwischen dem ersten McCartney-Meilenstein (1970) und dem zweiten gleichnamigen Album (II, 1980) immerhin eine Dekade gelegen, waren es dieses Mal gleich vier Jahrzehnte – bis die Selbstisolation der Lockdown-Monate die ganze Sache ins Rollen brachte und Mr. McCartney nach so langer Zeit das DIY-Motto wieder zur obersten Maxime machte.

Hier könnt ihr McCartney III hören:

Wie die einzelnen Songs von McCartney III entstanden sind und welche Rolle dabei ein paar Mietfahrräder in NYC, Wintersportmoderatoren, die Umlaufbahnen der Planeten und der Soundtrack zu einem animierten Kurzfilm gespielt haben, verrät der 78-Jährige in diesem Track-by-Track…

1. Long Tailed Winter Bird

Long Tailed Winter Bird basiert auf einer Filmkomposition, die ich anschließend erweitert habe. Der Songtitel bezieht sich auf eben jene Tatsache, dass ich diesen ersten Entwurf verlängert und ihn in einen richtigen Song verwandelt habe – also nannten wir das Stück einfach Long Tailed Winter Bird. Allerdings habe ich in meinem Vogelkundebuch tatsächlich einen solchen Vogel entdeckt, da war’s eine Ente – eine Long Tailed Winter Duck, glaube ich.

2. Find My Way

Find My Way habe ich am Klavier begonnen, und das Stück basiert auf einer Idee, die mir beim Autofahren kam. Ich hörte unterwegs gerade Musik, und da lief so ein Beat im Radio, der mir sofort gefiel – also sang ich etwas dazu. Ich dachte mir spontan einen eigenen Text und eine eigene Melodie dazu aus. Der Startschuss erfolgte also im Auto, aber fertiggeschrieben habe ich den Song dann zu Hause, als ich am Klavier saß. Ehrlich gesagt hatte ich in dem Fall zuerst eine vollkommen andere Idee für die Strophen, die mir aber dann doch nicht so gut gefiel, weshalb ich eine andere Idee verwendete – man kann das jetzt in der Mitte hören. Ja, und das fand ich deutlich besser als die ursprüngliche Idee.

3. Pretty Boys

Pretty Boys! Ich hatte kurz davor einen Zeitungsartikel über ein paar männliche Models gelesen, die sich über einen Fotografen beschwert hatten, der ihnen gegenüber besonders aggressiv und ausfallend gewesen sein soll. Also begann ich mir das vorzustellen und dachte mir eine fiktionale Geschichte über männliche Models aus. Und dann spazierte ich gerade durch die Straßen von New York, als ich eine endlose Reihe von Fahrrädern vor mir sah – woraus bei mir wurde: „Here come the pretty boys/objects of desire/a line of bicycles for hire“. Es geht also darum, dass man auch diese männlichen Models letztlich mieten kann, dass sie käuflich sind.

4. Women and Wives

Den Song Women and Wives habe ich in Los Angeles geschrieben. Ich hatte kurz davor ein Buch über den Bluesmusiker Lead Belly gelesen. Ich versuchte nun, in so eine Blues-Stimmung zu kommen, spielte dafür ein paar ganz simple Akkordfolgen auf dem Klavier – und dann sang ich dazu in so einer Stimme, die für mich nach Blues klingt. So ging’s also los, ja, und die Aufnahme machte ich dann später, im Studio in England.

5.  Lavatory Lil

Lavatory Lil handelt von denjenigen Menschen, die man einfach nicht mag, mit denen man einfach nie so recht warmwerden konnte. Ich glaube, dass es in unserem Leben ziemlich viele Leute gibt, die in diese Kategorie fallen. Es geht also nicht um einen konkreten Fall, sondern um eine fiktive Person. Ich mochte einfach die Idee, jemanden als Lavatory Lil zu bezeichnen – was zurückgeht auf einen von Johns alten Songs, Polythene Pam. Man nimmt dann einfach diese vage Idee, die man von jemandem hat, und macht aus daraus etwas Fiktives, erzählt darüber, was diese Person so tut, was sie mag.

6. Deep Deep Feeling

Deep Deep Feeling stammt aus einer Art Jam-Session, die ich gemacht hatte. Mir schwebte dafür eine ganz konkrete Stimmung vor… so etwas Leeres, viel Freiraum, so eine geräumige Stimmung. Damit fing ich an, und für den Gesang darüber dachte ich mir dann einfach was Spontanes dazu aus. Ich habe da also letztlich verschiedene Ideen miteinander kombiniert und das Ganze in einen Acht-Minuten-Song verwandelt. Zwar habe ich schon auch darüber nachgedacht, das Stück auf eine etwas moderatere Länge zu kürzen, aber als ich mir es dann noch einmal in voller Länge anhörte, gefiel mir das so gut, dass ich es so gelassen habe.

7. Slidin’

Slidin’ ging aus einer Jam-Session beim Soundcheck hervor. Wir spielten da gerade in Deutschland, in Düsseldorf. Wenn wir Soundcheck machen und ich gerade an meinem Gitarrensound feile, dann denke ich mir gerne etwas Neues aus, und irgendwann steigt dann auch die ganze Band ein und macht mit. Währenddessen kann der Toningenieur meine Gitarre so einstellen, wie sie später auch im Konzert klingen soll. Ich spielte also drauflos und landete recht schnell bei diesem Riff, das mir sofort gefiel. Also nahmen wir es und entwickelten es weiter. Ich dachte mir, du musst etwas damit machen, denn es gefiel mir als Riff wirklich sehr gut, und ich bekam es ehrlich gesagt auch gar nicht mehr aus dem Kopf. Also arbeiteten wir dran, und ich machte sogar mit meiner Band eine Aufnahme davon für Egypt Station, aber das funktionierte nicht so gut.

Ich hatte das Stück also in halbfertigem Zustand vorliegen, habe dann ein paar Dinge hier und dort verändert, habe den Songtext dazu gemacht – und so wurde daraus Slidin’. Zu dem Titel kam es, weil ich mir die Winterolympiade anhörte, und der Moderator die ganze Zeit vom sliden sprach – ganz egal, ob es nun um Snowboarding, ums Skifahren oder ums Rodeln ging. Das war der Begriff für alles, was gleitet, und ich dachte mir: Großartig, ein guter Name für diese Kategorie. Also machte ich mir über Snowboarder und Skifahrer Gedanken, und so entstand daraus der Song Slidin’.

8. The Kiss Of Venus

Ein Freund von mir gab mir so ein kleines Buch, so ein Hippie-Werk, das echt faszinierend ist, weil’s darin um die Bewegungen der Planeten im Sonnensystem geht – wie sich die Erde, die Venus, Mars und der Mond bewegen. Im Buch erfährt man, dass die Umlaufbahnen, wenn man sie über längere Zeiträume beobachtet, wahnsinnig aufregende Muster ergeben: Manche davon sehen aus wie eine Lotusblume, was echt umwerfend, echt magisch ist. Ich befasste mich also intensiv mit diesem Buch und las es auch noch, als ich dann einen neuen Song anfing. Ich wollte mich dafür von diesem Buch inspirieren lassen und stieß dabei auf den Titel: The Kiss Of Venus. Eigentlich bezeichnet man damit den Moment, wenn sich die Erde und die Venus am nächsten kommen. Ich erkannte darin eine grandiose Idee für einen Song, und davon handelt er nun auch.

9. Seize The Day

Seize The Day – den habe ich zu Hause am Klavier begonnen, bei mir auf der Farm. Ehrlich gesagt habe ich die Worte einfach so heraussprudeln lassen, ich wusste also im Grunde genommen gar nicht, wovon das Stück hinterher handeln würde. Irgendwann landete ich dann bei dieser Zeile „Yankee toes/and Eskimos/can turn to frozen ice“, und ich fragte mich: Was bitte hat das zu bedeuten?! Wahrscheinlich ist es besser, nicht so tief zu bohren und das Ganze nicht so sehr zu hinterfragen. Es ist halt eine Textzeile, und anstatt besonders viel Sinn zu ergeben, geht es wohl eher ins Surreale, aber wie dem auch sei: Das jedenfalls führte mich zum Refrain, in dem dann die kalten Tage anbrechen. „When the cold days come“, das ist der Moment, an dem wir uns wünschen, wir hätten den heutigen Tag genossen. Darin steckt also das Seize The Day, was ja der englische Ausdruck für das lateinische carpe diem ist.

10. Deep Down

Deep Down, Deep Down… das ist noch so ein Stück: In dem Fall hatte ich einen Beat, der mir gefiel, und passende Akkorde, die mir zusagten. Ich hatte zwar keine wirklich konkrete Idee vor Augen, aber was ich hatte, war diese Wortfolge: „Wanna get deep down, wanna get deep down.“ Ich wusste selbst gar nicht mal so genau, was ich damit eigentlich sagen wollte – ob es nun um eine tiefe, intensive Beziehung geht oder was auch immer. Letztlich habe ich einfach weiter daran gearbeitet. Es gibt so Songs, bei denen weiß man die Richtung gar nicht so genau; man hat so eine vage, halbfertige Idee, und da kommt dann eher eins zum anderen, weil einem der Groove so gut gefällt. Der hier fällt in diese Kategorie. Die Ideen kamen mir eher so nach und nach, und schließlich wurde daraus ein Song – namens Deep Down.

11. Winter Bird / When Winter Comes

Winter Bird war der Grund, weshalb ich überhaupt wieder ins Studio gegangen bin. Ich wollte an diesem Stück arbeiten, denn es war eigentlich für die Eröffnungssequenz eines Kurzfilms gedacht. Danach kümmerte ich mich dann um die Musik für den Abspann, machte also noch ein kleines Instrumentalstück dafür fertig. Nur gefielen mir diese beiden Sachen so gut, dass ich mir sagte, sobald ich mit den Filmsachen fertig war – und das war auch insgesamt bloß eine Minute Material – ‘lass’ mal weitermachen!’ Also experimentierte ich mit denselben Ideen weiter, verlängerte diesen Ansatz, und dann begann ich damit, auch eine Gitarre, Schlagzeug und den Bass drüberzulegen. Ich erweiterte diese Idee also gewissermaßen.

Und weil der Song nun mit der Originalpassage beginnt, die für den Film gedacht war, nannten wir diesen ersten Part Winter Bird. Ursprünglich gedacht war diese kurze Passage für einen Animationsfilm, der von dem Stück When Winter Comes handelt. Hier also schließt sich der Kreis. Wir kommen vom Anfang des Albums zum Ende und landen bei demjenigen Song, mit dem alles überhaupt erst angefangen hat – das wäre When Winter Comes. Der handelt von einem idealistischen Lebensentwurf, so einem Hippie-Dasein auf einem Bauernhof, wo man Bäume pflanzt, den Zaun repariert und einfach das gute Leben genießt. Mir gefällt das; ich liebe die Natur, und mir gefällt die Idee, sich in etwas reinzuknien und sich die Hände schmutzig zu machen. Na ja, und davon handelt also dieser Song – und das war’s. Es ist der Schlusstitel des Albums, und damit hätten wir’s.

„McCartney III“: Das Songwriter-Genie und der Gruß aus der Quarantäne

Don't Miss