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Popkultur

15 Jahre Kapitulation: Tocotronics „Statement gegen diese schreckliche Emo-Kultur“

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Tocotronic
Foto: Jakubaszek/Getty Images

Mehr Musiktheater als Musik: Mit Kapitulation legen Tocotronic 2007 den zweiten Teil ihrer Berlin-Trilogie vor. Und zementieren ihren Ruf als magische Gitarrenvisionäre der Gesellschaftstheorie.

von Björn Springorum

hier könnt ihr euch Kapitulation anhören:

Nach dem Klassiker Pure Vernunft darf niemals siegen gönnen sich Tocotronic 2006 eine Pause von sich selbst. Seit dem Debüt Digital ist besser 1995 haben sie sieben Platten veröffentlicht, ein hohes Tempo, dazu Konzerte, Festivals in halb Europa und den USA. Urlaub steht dennoch nicht Agenda für die Propheten der Hamburger Schule: Sänger und Prediger Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller und der recht neue Gitarrist Rick McPhail vollenden Soloplatten, verwirklichen sich abseits der mittlerweile gefestigten Pfade von Deutschlands wichtigster Rockband.

Der ahnungsvolle Geist der Rockmusik

Diesen Ruf hat man sich mit viel harter Arbeit und unglaublicher Musik erarbeitet. Spätestens seit K.O.O.K. (1999) sind die Diskursrocker von der lauten, verzerrten Schrammelband zum ahnungsvollen Geist geworden, zu beschwörenden Gitarrenalchemisten, deren Musik eine tiefe Magie entströmt und deren Texte eher vergeistigte Mantren im Geiste eines Michel Focault sind, durchzogen von griffigen Slogans, die die Band auf zahlreiche Tattoos oder Jutebeutel gebracht hat.

2007 setzen sie im Studio Chez Chèrie in Berlin-Neukölln ihre mit Pure Vernunft darf niemals siegen begonnene Berlin-Trilogie fort – eine Hommage an David Bowie freilich, eine Verbeugung vor den ganz großen Denkern der Rockmusik. Zu denen zählen Tocotronic auch. Aus der einstigen Studi-Band mit Cordhose, Trainingsjacke und Seitenscheitel ist ein Phänomen geworden, ein gesellschaftliches Ereignis. Einige Jahrzehnte nach Ton, Steine, Scherben gibt es wieder eine deutsche Band, die weiß, wo die Wunden der Gesellschaft liegen, und zielgenau den Finger hineinlegt.

Musik gegen den Optimierungswahn

Tocotronic tun das auf Kapitulation indes keineswegs laut, markig oder aufbrausend. Konträr zur militärischen Symbolik in Albumtitel und vielen Texten nehmen die Musiker in wenigen Tagen ein Album gegen den Optimierungswahn unserer Zeit auf – live und in fiebrigen Sessions. Kapitulation als Ultima Ratio gegen Pragmatismus und Effizienz. „Kapitulation ist eine Verführung zur Geistesabwesenheit“, wird die Zeit dazu sagen. Von Lowtzow konkretisiert das 2007 in einem Interview mit der taz: „Es ist in Vergessenheit geraten, dass es einmal eine künstlerische Strategie gab, nichts zu tun. Und die möchten wir formulieren als Antithese zu diesem Leistungsimperativ, der neuerdings in dieser Gesellschaft herrscht. Das Unproduktive wird unterschätzt.“

Wie Herman Melvilles Bartleby sind auch Tocotronic im Müßiggang zuhause – bei aller gefühlten Effizienz ihrer vielen Alben und Touren mache man als Band anscheinend „nur ein Fünftel von dem, was andere machen.“ Das Mantra „Ich möchte lieber nicht“ geistert auch durch dieses Album, eine kurze griffige Geste der Entsagung. Musikalisch indes möchten sie. Und wie: Tocotronic verwandeln sich auf Kapitulation weiter in diese entrückte Rock-Band, der ein schwer fassbarer, beschwörender, kafkaesker Zauber innewohnt. Zwölf Songs, zwölf Indie-Schmuckkästchen, denen man sich auch heute nur schwer entziehen kann. Zeitlos im besten Sinne ist das, was Tocotronic hier machen, längst in einer ganz eigenen Liga und nicht nur in Deutschland einzigartig. Das hypnotische Mein Ruin, der Befehl Verschwör dich gegen dich, die zarte Antithese zu glücklichen Pärchen-Eskapismus-Balladen, Harmonie ist eine Strategie oder der wüste Ausbruch Sag alles ab, der dann natürlich mit einer Extraportion Trotz als Single ausgekoppelt wird: Hier kann man einer der schlausten Bands Deutschlands in den Kopf schauen. Musik als Unterricht.

Immer noch Punk

Da ist der Wechsel vom dichtgemachten Hamburger Indie-Label L’Age D’Or zum Major Vertigo nur konsequent: Diese Band ist längst viel zu wichtig, um sie nicht größtmöglich zu inszenieren. Punks bleiben Tocotronic im Herzen dennoch. Sie zielen gegen das System, klinken sich aus aus den Erwartungshaltungen, die man an das Individuum stellt. Zudem möchte Vordenker und Texter von Lowtzow Kapitulation auch als „Statement gegen diese schreckliche Emo-Kultur“ verstanden wissen. Gejammer gibt es bei den Hamburgern nicht. Punk ist das schon eher. Wenn auch 2007 längst nicht mehr mit Tempo, Geschwindigkeit und Schrammeleien.

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