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Popkultur

30 Jahre „His ’n’ Hers“: Als Pulp endlich zu Britpop-Riesen werden

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Pulp

1994 gibt es Pulp schon geschlagene 16 Jahre. His ‘n’ Hers verschafft ihnen vor 30 Jahren endlich den langersehnten Durchbruch – mit einem Britpop-Klassiker, der doch so gar nichts mit Blur oder Oasis zu tun hat und sich lustvoll und gequält an Sex, Voyeurismus und dem englischen Klassensystem abarbeitet.

von Björn Springorum

Jarvis Cocker kann man für vieles beneiden. Für seine Texte, an die in der englischen Popgeschichte wahrscheinlich niemand heranreicht und die man eher mit den großen Poeten des Landes messen muss; für seinen zeitlos coolen Look; für seinen Status als Sexsymbol, obwohl er so gar nichts hat von einem Schönling mit Modelvisage.

Vor allem aber kann man ihn für sein Durchhaltevermögen beneiden. Noch als Teenager gründet Cocker 1978 seine Band, nennt sie Pulp, ein Wort, für das es im Englischen Dutzende Deutungsmöglichkeiten gibt. Das Spiel mit dem Ambigen, mit dem Vagen, Obskuren, es wird eines seiner Markenzeichen. Jahrelang dümpelt die Band vor sich hin, wechselnde Besetzungen, kleinere Hoffnungsschimmer, Lob aus der sehr untergrundigen englischen Indie-Presse. Allein: es reicht nie für den Durchbruch. Egal, was Szenepäpste wie Radiogott John Peel auch behaupten mögen.

Cool Britannia ändert alles

Die Alben It, Freaks und Separations gehen unter, kommen und gehen in den Achtzigern und frühen Neunzigern, kaum etwas fällt dabei ab. Pulp, so scheint es, sind für immer zum Status der nischigen Liebhaberband verdammt. Zu gut, um aufzugeben, zu speziell, um wirklich durchzustarten. Doch Jarvis Cocker, der weiß um sein Potential. Der gibt nicht auf, beißt sich fest, raffiniert seine Texte, seinen Sound, seine Band. Währenddessen ändert sich die englische Musiklandschaft drastisch. In den frühen Neunzigern gehen auf einmal junge englische Bands au den Start, Marschrichtung: Gitarrenpop. Oasis und Blur tauchen auf, eine Renaissance der englischen Musik liegt in der Luft.

Vielleicht ist es deswegen auch einfach nur Glück gewesen. Egal: 1994 veröffentlichen Pulp ihr drittes Album His ‘n’ Hers. Es wird in ein neues, ein anderes Klima hineingeboren, das mal später mal Cool Britannia nennen wird. Urplötzlich ist wieder cool, was aus dem Königreich kommt. Selbst Pulp mit ihrem immer noch hoffnungslos zwischen allen Stühlen sitzenden Gemenge aus Wave, Rock, Disco, Pop und Spoken-Word-Performance. Zu elegant eigentlich für den Britpop, andererseits zu schnoddrig, zu ekstatisch. Zu sexuell aufgeladen mit seinen Liedern über die Schwester des Freundes, der mal beim Sex zuhört.

Voyeurpop

Der große Unterschied ist aber eben: Oasis und Blur sind grün hinter den Ohren, juvenile Bilderstürmer, die Kippe locker im Mundwinkel, Respekt vor niemandem. Und Pulp… haben einen Frontmann, der 1994 schon jenseits der 30 ist. Das hebt Pulp von allen anderen ab – allein thematisch: Jarvis Cockers Texte widmen sich auf diesem vierten Album den vielen Schattierungen des Sex – leidenschaftlich, obszön, hastig, verklemmt. Dazu beobachtet er die englische Gesellschaft, das Klassensystem, blickt ungeniert durch die Vorhänge in die Wohnzimmer der englischen Vorstädte. Voyeurpop, der vor nichts haltmacht.

Von allen Britpop-Bands dieser Zeit (die übrigens alle ebenso unterschiedlich klingen wie die Grunge-Bands aus den USA) hat er die besten, die ungewöhnlichsten, die englischsten Texte. Diese professorische Klasse wird man (und wahrscheinlich auch er) erst viel später erkennen. Sie erzählen aber wie ein Dylan Thomas von einem England, wie es wirklich ist. Oftmals trist, prekär, beherrscht von alten Eliten. All das kommt in der Musik von Pulp zum Tragen, erinnert auf His ‘n’ Hers an ein altes englisches Seebad, das seine besten Zeiten längst hinter sich hat. Das Riesenrad steht still, der Putz bröckelt ab, der Wind pfeift und die Geschäfte stehen leer. Und Jarvis Cocker ist der sardonische Chronist dieses langsamen Untergangs.

Weichenstellung

Am 18. April 1994, eine Woche vor Blurs Parklife, erscheint das Album, das die Weichen bei Pulp endgültig stellen wird. Endlich chartet eine Platte mal in England, sogar auf Rang neun, sogar eine Nominierung für den Mercury Prize gibt es. Kurioserweise werden weder dieses Album noch The Fat Of The Land oder Parklife von Blur ausgezeichnet. Sondern M People. Wer? Eben. Eine insbesondere aus heutiger Sicht sehr unverständliche Randnotiz der englischen Popgeschichte.

Der Erfolg ist kein Zufall: Auf His ‘n’ Hers sind erstmals die Pulp zu hören, die man gemeinhin kennt. Immer noch genügend Roxy Music, um skurril aus der Zeit gefallen zu wirken. Immer noch mit den irisierenden Synthies von Candida Mary Doyle., Aber endlich mit den Hits, die der Band alle immer schon zugetraut haben: Babies oder Do You Remember The First Time? gehören zu den besten Liedern dieser Band überhaupt. Und übertreffen in gewisser Weise sogar Common People oder Disco 2000, mit denen Pulp nur ein Jahr später endgültig zu Superstars werden. Weil es 1994 ohne Vorwarnung geschieht. Und bis heute nachhallt.

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