Popkultur
Die musikalische DNA von 2Pac
Einer sich hartnäckig haltenden Theorie nach ist 2Pac, der am 13. September 1996 nach einem Drive-By-Shooting seinen Verletzungen erlag, am siebten Tage wieder auferstanden. Andere, sich ebenso hartnäckig haltende Theorien besagen allerdings auch, dass die Erde innen hohl ist und die Regierung mit Chemtrails unsere Gedanken manipuliert. Alles ist relativ und manches eben relativ bescheuert. Bleiben wir also bei den Fakten: Das Erbe von Tupac Shakur lebt auch zwanzig Jahre nach seinem Tod weiter. Warum das so ist, erklärt ein Blick auf seine eigene musikalische DNA, denn der vermeintlich unsterbliche 2Pac hat viel zeitlose Musik in sich aufgesogen. Deswegen: All eyez on him! Es gibt mehr als eine Überraschung zu erleben.
Zieht euch die Playlist in euren Player und lest weiter:
1. Honey Cone – Want Ads
Juni 1971: Der beseelte Funk des Trios Honey Cone hat gerade die Spitze der US-Charts erobert, als Lesane Parish Crooks im New Yorker Stadtviertel East Harlem das Licht erblickt. Als die Band im Folgejahr ihr letztes Album Love, Peace & Soul veröffentlicht, wird der Kleine ein zweites Mal geboren: Seine Eltern taufen den Zögling in Tupac Amaru Shakur um, eine Anspielung auf Túpac Amaru II aus Peru, welcher im Jahr 1780 dem Aufstand gegen die spanischen Kolonialkräfte vorstand. 2Pac wird beides mitbringen: den Soul der Honey Cones und die Wut der Unterdrückten, welche seinen Namensgeber antrieb.
2. Pyotr Ilyich Tchaikovsky – The Nutcracker; Act I, Scene I; No. 7, Battle Between Nutcracker And Mouse King
Bevor sich Tupac aber erneut umbenennt und als 2Pac Musikgeschichte schreibt, geht es für die Familie im Jahr 1986 nach Baltimore. Dort schreibt sich der Teenager an der Baltimore School for the Arts ein und studiert Schauspiel, Lyrik, Jazz und… Ballett? Richtig, der erfolgreichste Rapper seiner Zeit mimte auch mal den Mäusekönig in Tchaikovskys Der Nussknacker. Kann sich niemand ausdenken, ist zum Glück aber die Wahrheit. Und passt im Übrigen wieder sehr gut zu 2Pacs erklärtem Lieblingsmusikstück: dem Thema des Musicals Les Misérables.
3. Aerosmith – Walk This Way
Sein Debüt als Rapper gibt 2Pac im Jahr 1991 auf der Same Song (This Is An E.P. Release Part 1)-Single der Crew Digital Underground, die er auch als Roadie und Backup-Tänzer auf Tour begleitete. Über einem ebenso an George Clinton wie an Bootsy Collins geschulten Groove, der neben Parliament sogar „Walk This Way“ von Aerosmith und Run DMC sampelt, stellt Digital Underground-Mastermind Shock G der Welt das neue Talent vor: „2Pac, go ahead and rock this!“ Das macht der dann prompt und hört bis zu seinem frühzeitigen Tod nicht auf. Sein Ruhm sollte den von Digital Underground bei weitem überflügeln. He walked that way indeed!
4. James Brown – The Spank
„There’s no reason for a record like this to be released. It has no place in our society”, schäumte der Vize-Präsident der Vereinigten Staaten, Dan Quayle, über 2Pacalypse Now. Mit dem Album macht sich der „Young Black Male“ Ende 1991 endgültig einen Namen. Über 13 Tracks zeigt sich der junge MC als ebenso wortgewandt wie sozialkritisch, prangert eloquent und mit unvergleichlichem Flow ebenso rassistisch motivierte Polizeigewalt an wie er die Missstände im Ghetto aufdeckt. Kein Wunder, dass 2Pac in der Vorab-Single Trapped bereits den Godfather of Funk, James „Say It Loud, I’m Black And Proud“ Brown herbei sampelte: 2Pacalypse war wie der anzügliche Funk von Browns The Spank mehr als nur frivole Unterhaltungsmusik – sondern eine klare Ansage: „They can’t keep the Black man down!“ Zu der Kritik Quayles lieferte 2Pac übrigens schon vorab das passende Comeback: I Don’t Give A Fuck heißt der vierte Song von 2Pacalypse Now.
5. Nas – One Love
2Pacs Berühmtheit hat 1994 noch lange nicht ihren Zenit erreicht, da erobert ein anderer Rapper aus New York in kaum mehr als 30 Minuten die Welt. Nas‘ Illmatic definiert über die zum Großteil von DJ Premiere produzierten Beats nicht nur den Boom-Bap-Sound der East Coast, sondern überschattet auch alle vorigen Rap-Alben Selbst das Musikmagazin The Source kann nicht anders und verleiht dem Album die Höchstwertung in Form von fünf Mics. „When those funky/eerie/powerful xylophone notes from ‘One Love’ come on, I remember @FrozenFiles (der damalige The Source-Redakteur Schott ‘Free’ Jacobs, Anm. d. Autors) is literally lying on the floor…”, erinnert sich The Source-Mitbegründer Jonathan Shecter spatter auf Twitter. Zwei 2Pac-Alben erhalten ebenfalls fünf Mics, beide aber erst im Nachhinein: All Eyez On Me (1996) wird erst 2002 bewertet und Me Against The World (1995) im Nachhinein von vier auf fünf Mics hochgestuft. Denn wenn wir mal ehrlich sind: Der musikalischen und lyrischen Dichte der Illmatic konnte 2Pac auf Albumlänge nie das Wasser reichen. Er verteilte sein poetisches Genie stattdessen auf einzelne Songs.
6. Edgar Winter – Dying To Live
Manchmal reichten ihm lediglich ein paar Bars, um Geschichte zu schreiben: 1994 nahmen 2Pac und The Notorious B.I.G. den gemeinsamen Track Runnin‘ (Dying To Live) auf. Als 2Pac zwei Jahre später angeschossen wird und wenige Tage später seinen Verletzungen erliegt, vermuten nicht wenige den mittlerweile zum Konkurrenten avancierten The Notorious B.I.G. hinter der Tat. Bevor der Konflikt zwischen East Coast und West Coast die beiden Rapper jedoch entzweite, gaben sie auf diesem Song noch mal alles. Das den Song prägende Sample basiert auf Edgar Winters Dying To Live vom Album White Trash. Die Lyrics lesen sich im Nachhinein nahezu prophetisch: „Why am I dying to live if I’m just living to die?“ Als der Track 2003 veröffentlicht wird, sind beide Rapper nicht mehr am Leben.
7. Marvin Gaye – What’s Happening Brother
„Ayo, I remember Marvin Gaye used to sing to me / He had me feeling like Black was the thing to be / And suddenly the ghetto didn’t seem so tough“, rappt 2Pac auf dem Song Keep Ya Head Up. Er ist nicht der einzige, der angesichts Gayes Musik in Schwelgereien verfiel: Auch Eric Burdon von der Band The Animals widmete dem 1984 verstorbenen Motown-Sänger einen verschwitzten Jazz-Song. Der Unterschied allerdings: Während sich Burdon in Once Upon A Time an das sexuell mehr als explizite Let’s Get It On erinnert, fragt 2Pac mit dem Titel eines Gaye-Albums gesprochen: What’s Going On? Obwohl 2Pac nämlich in Liebesangelegenheiten alles andere als ein Schwerenöter war: Seine Wut auf die Verhältnisse legte sich darüber nie. „War is hell, when will it end, / When will people start gettin’ together again”, singt Gaye aus der Perspektive eines Vietnam-Heimkehrers – 2Pac übertrug dieselbe Frage aufs Ghetto.
8. U2 – No Line On The Horizon
Laut einer 2Pac-Biografie von Carrie Golus hatte 2Pac ein überraschendes Faible für britischen und insbesondere irischen Pop von etwa Kate Bush, Sinéad O’Connor und sogar die Stadionrocker U2. Querverweise zu Hip Hop gibt es in deren Diskografie allerdings ebenso zu finden, auch wenn das nicht unbedingt gut ging: 2006 fand sich die Band mit Rick Rubin, dem Mitbegründer von Def Jam, im Studio zusammen. Das Album landete aber in der Schublade und wurde 2007 gemeinsam mit unter anderem Brian Eno unter dem Titel No Line On The Horizon neu aufgenommen. Welche Version 2Pac wohl bevorzugt hätte? Über die im Netz kursierenden „U2Pac“-Mash-Ups möchten wir an dieser Stelle auf jeden Fall schweigen…
9. Blackstreet – No Diggity
Mit seinem letzten, ebenfalls posthum veröffentlichten Studioalbum setzt 2Pac selbst die Legende seiner Auferstehung in die Welt: The Don Killuminati: The 7 Day Theory legte die thematische Grundlage für den Messias-Kult um seine Person. Keine leichte Geburt: Nur Quincy Jones‘ Sohn QD3 war von 2Pacs – der selbst an drei Tracks mitwerkelte – alter Produzentengarde noch dabei. Und da ist noch dieser eine Beat, den Dr. Dre für den Song Toss It Up geschrieben, dann aber an die Crew Blackstreet weitergereicht hat, als er das Label Death Row verließ. 2Pac revanchierte sich mit einem Dr. Dre-Diss: „No longer Dr. Dre: arrividerci / Blown and forgotten, rotten for plotting Child’s Play“. Allein, es half nichts: No Diggity von Blackstreet löste selbst den Macarena an der Chartspitze ab, der in den letzten Tagen 2Pacs aus jedem Radio der Welt plärrte. Immerhin blieb ihm die Demütigung erspart, den Erfolg von No Diggity mitzuerleben. Der Song verkaufte sich allein im Jahr 1996 1,6 Millionen Mal. Eine Zeile wie „Cross Death Row, now who you gonna run to?“ wird Dre da wenig gekratzt haben.
10. Kendrick Lamar – The Blacker The Berry
To Pimp A Butterfly, Kendrick Lamars frenetisch gefeiertes Meisterwerk aus dem Jahre 2015, endet mit einer unheimlichen Szene: Lamar tritt in ein gespenstisches Zwiegespräch mit 2Pac, stellt Fragen an das Idol, dessen Antworten aus einem Interview herbeigesamplet werden. Nur die letzte bleibt unbeantwortet. Zurück bleibt ein Fan, der das Erbe 2Pacs alleine weiterführen muss. „The Blacker The Berry“ hebt den von 2Pac massiv mitgeprägten Conscious Rap auf ein neues Level: Lamar reflektiert kritisch seine eigene Tatenlosigkeit angesichts der rassistischen Polizeigewalt gegenüber Schwarzen in den USA. „Some say the blacker the berry, the sweeter the juice / I say the darker the flesh the deeper the roots“, rappte 2Pac 1993 auf seinem zweiten Album Strictly 4 My N.I.G.G.A.Z. Worte, die von Lamar für die angespannte Situation des Jahres 2015 aktualisiert wurden. Ein würdiger Erbe eines überwältigenden Vermächtnisses.

Popkultur
Zeitsprung: Am 1.4.2008 feuern Velvet Revolver ihren Sänger Scott Weiland.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 1.4.2008.
von Christof Leim
Das sah schon nach „Supergroup“ aus, was sich da 2002 zusammenbraute: Drei Musiker von Guns N’ Roses und der Sänger von den Stone Temple Pilots gründen Velvet Revolver. Doch sechs Jahre später ist der Ofen aus und Scott Weiland raus. Vorher gab es noch eine lahme Platte, Streit im Internet und die ganz kalte Schulter.
Hört euch hier das Velvet-Revolver-Debüt Contraband an:
Natürlich hat die ganze Welt mit Spannung zugehört, als Slash, Duff McKagan und Matt Sorum zusammen mit dem Gitarristen Dave Kushner und dem Frontmann der Stone Temple Pilots, Scott Weiland, eine Band gründen. Beim Debüt Contraband von 2004 kommen nicht ganz unerwartet zwei musikalisch benachbarte Welten zusammen: Classic Rock und alternative-lastiger Grunge-Sound. Die Scheibe wird zum Erfolg, doch der Nachfolger Libertad bleibt 2007 weit hinter den Erwartungen zurück.
Ein Bild aus besseren Zeiten: Velvet Revolver live 2007. Foto: Kreepin Deth/Wiki Commons.
Den weltweiten Touren der Band tut das keinen Abbruch, diverse Aufenthalte in Entzugskliniken, Visa-Probleme und kurzzeitige Verhaftungen durchkreuzen einige Pläne allerdings schon. Als Velvet Revolver im Januar 2008 ihre Rock’n’Roll As It Should Be-Tour durch Europa starten, hängt der Haussegen bereits schief. Am 20. März 2008 verkündet Weiland sogar auf offener Bühne in Glasgow: „Ihr seht hier etwas Besonderes: Die letzte Tour von Velvet Revolver.“
Längt beschlossene Sache
Was er nicht weiß: Seine Kollegen haben da längst beschlossen, ohne ihn weiterzumachen, wie Slash später in einem Interview eröffnet. Das liegt unter anderem daran, dass Weiland ständig die Fans ewig lang warten lässt, und das können die Guns N’ Roses-Jungs nach dem Dauerdrama mit dem notorisch verspäteten Axl Rose nicht mehr akzeptieren. Slash, der zottelhaarige Gitarrengott, berichtet auch, dass die Bandmitglieder während der UK-Shows so gut wie kein Wort mit ihrem Sänger wechseln. „Wir haben ihm die kalte Schulter gezeigt, dass es nur so eine Art hatte.“
Kein einfacher Zeitgenosse: Scott Weiland. Credit: CRL.
Nach dem Debakel von Glasgow, das in einer halbherzigen Performance gipfelte, tragen die Musiker zudem ihren Zank in die Öffentlichkeit: Drummer Matt Sorum veröffentlicht ein Statement, das ohne Namen zu nennen deutlich mit dem Finger auf Weiland zeigt. Der wird in seiner Antwort ein gutes Stück bissiger und ziemlich persönlich. Dass das alles nicht weitergehen kann, liegt auf der Hand. Am 1. April 2008 schließlich verkünden Velvet Revolver offiziell, dass Scott Weiland nicht mehr zur Band gehört.
Wie sich rausstellt, endet damit auch die Geschichte dieser Supergroup, sieht man von einer einmaligen Live-Reunion am 12. Januar 2012 bei einem Benefizkonzert ab. Denn leider können die Herren jahrelang keinen geeigneten Nachfolger finden, obwohl Könner wie Myles Kennedy von Slashs Soloband und Alter Bridge, Sebastian Bach (ehemals Skid Row), Lenny Kravitz und Chester Bennington (Linkin Park) als Kandidaten gehandelt werden. Slash und McKagan kehren schließlich zu Guns N’ Roses zurück, während Weiland bis 2013 bei den Stone Temple Pilots singt und anschließend mit seiner eigenen Band The Wildabouts unterwegs ist. Am 3. Dezember 2015 wird er tot in deren Tourbus gefunden. Rest in peace.
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Zeitsprung: Am 15.5.1995 klicken bei Scott Weiland zum ersten Mal die Handschellen.
Popkultur
„The Record“: Was kann das Debüt der Supergroup Boygenius?
Supergroups kennt man ja eher von Männern. Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus, die drei prominenten Damen hinter Boygenius, ändern das. Ihr Debüt The Record klingt zumeist sanft, verträumt, melancholisch, bricht aber manchmal wie entfesselt los. Indie-Album des Jahres? Gut möglich.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr euch The Record anhören:
Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus sind jede für sich Ikonen, einflussreiche Künstlerinnen, die es mit unter 30 zu prominenten Figuren gebracht haben. Bei Boygenius bündeln die drei ihr kreatives Genie in einem Trio, das es in der Indie-Welt so noch nicht gegeben hat – und das ist angenehmerweise mal keine hohle PR-Übertreibung. Jede von ihnen kann als Stimme ihrer Generation gewertet werden, jede von ihnen gehört zu einer neuen Ära von selbstbestimmten Künstlerinnen, die auf ihre Weise den Boys-Club der Rockmusik unterwandern, aushöhlen, obsolet machen wollen.
Wie einst Nirvana
Das tun Boygenius auf ihrem Debüt The Record nicht etwa laut, schrill, wütend. Sondern mit Sanftmut, melancholischer Ruhe und bockstarken Songs. Ist doch eh cleverer und nachhaltiger, das geballte Talent sprechen zu lassen, das die drei Künstlerinnen auch im Verbund auf wundersame Weise zu kanalisieren wissen. Und dann sind da eben noch die subtilen kleinen Spitzen, die Hinweise: Auf dem Cover ihrer ersten EP, die bereits 2018 erschien und ein langes Schweigen einläutete, sitzen sie genau so da wie Crosby, Stills & Nash auf ihrem Debüt. Und auf dem Rolling-Stones-Cover Anfang des Jahres stellen sie die Pose des Nirvana-Covershoots von 1994 nach. Kurt Cobain hätte das gefallen.
Warum wir eine reine Girl-Supergroup gebracht haben, wird schnell klar: Wo männliche Supergroups dann eben doch irgendwann an den exorbitanten Alpha-Male-Egos zerschellen wie Hagelkörner auf Asphalt, gehen Bridgers, Baker und Dacus die Sache beeindruckend egalitär und basisdemokratisch an. Niemand drängt sich in den Vordergrund, weil alle gleichberechtigt sind. Keine Frontfrau, keine Divaallüren. „Wir ziehen uns gegenseitig hoch“, so sagte Bridgers damals dem Rolling Stone. „Wir sind alle Leadsängerinnen und feiern uns gegenseitig dafür.“ Männer bekommen das eben irgendwie deutlich schlechter hin, ist einfach so.
Die Avengers der Indie-Welt
Das alles wäre natürlich nicht viel wert, wenn The Record nicht alle hohen Erwartungen spielend überflügeln würde. Es ist ein Album, um es kurz zu machen, das einem den Glauben an die Zukunft der Gitarrenmusik zurückbringt. Es ist mal laut, mal ahnungsvoll, mal zart, mal ruppig. Vor allem aber ist es ein homogenes, reifes Werk, das in seiner Lässigkeit die Jahrzehnte transzendiert. Offenkundig sind die Einflüsse der „Avegners der Indie-Welt“, wie eine enge Freundin der Band das mal auf den Punkt brachte: Classic Rock, die Laurel-Canyon-Szene, Grunge, der Folk von Crosby, Stills & Nash, von denen sie gleich auch die verschiedenen Gesangsharmonien haben.
Eins der ganz großen Highlights ist $20, ein furioser Rocker mit schroffer Lo-Fi-Gitarre, der sich plötzlich öffnet und von allen drei Stimmen ins Ziel getragen wird. Die Mehrheit des Materials ist ruhig, verträumt, am ehesten trifft es wohl lakonisch. Emily I’m Sorry etwa oder das kurze Leonard Cohen, inspiriert von einer unfreiwilligen Geisterfahrt der Drei auf einer kalifornischen Interstate. Die Ausbrüche wie Anti-Curse, in denen Baker von einer Nahtoderffahrung im Pazifik singt, läuten deswegen umso lauter, dringlicher. Dynamik ist König, das wissen die drei. Oder besser Königin.
Musste Rick Rubin draußen bleiben?
Sie wissen eh sehr viel. Wie schwer sie es haben würden, zum Beispiel. So kamen sie überhaupt erst auf ihren Namen Boygenius: Nach zahlreichen schlechten Erfahrungen mit vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden männlichen Kollaborateuren, die von der ganzen Welt gefeiert werden, nannten sie sich selbst so, um sich Mut zuzusprechen. Ob das auch für Rick Rubin gilt? Aufgenommen haben sie zumindest in dessen Shangri-La Studio in Malibu. Aber er hat keinen Recording Credit und durfte vielleicht nur kiffend im Garten sitzen. Vorstellbar.
The Record ist ein geniales Debüt. Es ist aber mehr, ein Instant-Klassiker, ein Album, das sich einreiht in die großen Singer/Songwriter-Momente der letzten 50 Jahre. Es ist radikal ehrlich, direkt, ungefiltert, unaufgesetzt und das Testament großen Willens. Alle Songs hätten auch auf den jeweiligen nächsten Alben der drei Solitärinnen auftauchen können. Aber dann würde ihnen etwas fehlen. The Record ist ein Album voller Risse, durch die das Licht hineingelangt, um bei Leonard Cohen zu bleiben. Ein heilsames Stück Musik, durchwirkt von Insider-Jokes, kleinen Hieben geben das Patriarchat und jeder Menge Beweise für diese besondere Freundschaft. Das wird Grammys hageln.
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Popkultur
Zeitsprung: Am 31.3.1958 veröffentlicht Chuck Berry „Johnny B. Goode“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 31.3.1958.
von Christof Leim
Das sind die Grundlagen des Rock’n’Roll, liebe Brüder und Schwestern. Hier kommt viel der großartigen Krachmusik her, die wir im Zeitsprung feiern: Am 31. März 1958 veröffentlicht Chuck Berry den Klassiker Johnny B. Goode. Keine drei Minuten lang ist das Ding, Bluesschema in A, dazu ein flotter Backbeat und eine heiße Leadgitarre, und ab geht die Revolution. Bei Songs wie diesem haben sie alle zugehört, die Beatles, die Stones und AC/DC.
Geschrieben hatte Chuck Berry die Nummer bereits 1955 über einen „country boy“, einen Jungen vom Lande, der nicht richtig lesen und schreiben kann, aber so mühelos Gitarre spielt, als müsse er nur eine Glocke läuten. Und eines Tages wird sein Name auf allen Plakaten stehen… Wie sich später herausstellt, singt Berry hier über sich selbst. Darauf weist alleine schon der Titel hin, denn der Musiker wurde in der Goode Avenue in St. Louis geboren. Nur anfangs diente sein Pianist Johnnie Johnson als Namenspate für den Song. Der spielt jedoch nicht mal mit; bei den Aufnahmen am 6. Januar 1958 in den Chess Studios in Chicago haut Lafayette Leake in die Tasten. Den Bass bedient der nicht ganz unbekannte Blueser Willie Dixon. Das markante Eingangslick leiht sich Chuck Berry vermutlich bei Ain’t That Just Like A Woman, einer Nummer von Louis Jordan aus dem Jahr 1946, und zwar Note für Note, wie man hier hören kann. Die Originalversion der Single samt Text findet ihr hier.
Urvater des Rock’n’Roll: Chuck Berry
Aus dem Stand ein Hit
Johnny B. Goode wird zum Hit beim Publikum, und zwar unabhängig von der Hautfarbe, was Ende der Fünfziger keinesfalls als selbstverständlich gesehen werden kann. Der Track erreicht Platz zwei in den Billboard Hot R&B Sides Charts und Platz acht in den Hot 100 Charts. Wo der Unterschied zwischen diesen Hitparaden liegt, wissen wir nicht, aber fest steht: Mit der Nummer ging was. Um das zu erreichen, muss Berry eine kleine Änderung im Text vornehmen: Ursprünglich singt er von einem „little coloured boy“, ändert das aber in „little country boy“, um auch im Radio gespielt zu werden. Keine einfachen Zeiten für einen Schwarzen als Rockstar.
Die Goldene Schallplatte an Bord der Raumsonde Voyager. Johnny fliegt mit.
Heute gilt Johnny B. Goode als der wichtigste Chuck-Berry-Song. Er wird mit Preisen geehrt und in Bestenlisten aufgenommen, nicht zuletzt wird er 1977 mit der Voyager in den Weltraum geschossen. An Bord dieser Raumsonde befindet sich nämlich eine goldene Schallplatte mit Audioaufnahmen von der Erde, etwa der Stimme eines Kindes, Klassik von Johann Sebastian Bach – und eben Rock’n’Roll von Chuck Berry.
Da kommt noch mehr
Vier weitere Stück schreibt der Sänger und Gitarrist im Laufe der Jahre über den Charakter Johnny B. Goode: Bye Bye Johnny, Go Go Go, Johnny B. Blues und Lady B. Goode. Außerdem nennt er ein Album und dessen 19-minütiges instrumentales Titelstück danach: Concerto In B. Goode. Einen weiteren Popularitätsschub erhält das Lied 1985 durch Film Zurück in die Zukunft mit Michael J. Fox.
Die Liste der Coverversionen ist endlos und streift alle möglichen Genres, sie reicht von Jimi Hendrix, AC/DC und Judas Priest über NOFX und LL Cool J bis zu Motörhead und Peter Tosh. Und vermutlich fetzt noch heute irgendwo eine halbstarke Nachwuchskapelle bei ihrer dritten Probe durch das Bluesschema in A.
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Zeitsprung: Am 7.9.1955 macht Chuck Berry den „Duck Walk“. Später freut sich Angus.
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