Popkultur
Zeitsprung: Am 15.6.1965 nimmt Bob Dylan „Like a Rolling Stone“ auf. Gefällt nicht allen.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 15.5.1965.
von Christian Böhm und Christof Leim
Die Session läuft eher chaotisch, aber dabei entsteht einer seiner bekanntesten Songs: Am 15. Juni 1965 nimmt Bob Dylan „Like A Rolling Stone“ auf. Das Stück entsteht wütend und gefällt zuerst nicht allen. Doch später verneigen sich Künstler und Künstlerinnen unterschiedlichster Genres mit Coverversionen vor ihm.
Hier könnt ihr euch das zugehörige Album Highway 61 Revisited anhören:
Nein, die Rolling Stones haben ihn nicht geschrieben, sie haben ihn nur nachgespielt. Und auch benannt haben sie sich nicht nach ihm: Like A Rolling Stone ist einer von Bob Dylans bekanntesten, laut eigener Aussage sogar sein „bester Song“. Seine Plattenfirma sieht das jedoch zumindest am Anfang anders. Seit dem Erscheinen hat das Lied so viele Neuinterpretationen erfahren, dass die Menge der verschiedenen Versionen des Songs so umfangreich wie Dylans Gesamtkatalog erscheinen. Man mag es mögen oder nicht, das Stück ist in jedem Fall wichtig – nicht zuletzt für Dylan selbst, für den zur einer musikalischen Wandlung gehörte.
Sprichwörter & Lebensweisheiten
„A rolling stone gathers no moss“. Dieses englische Sprichwort kann zweierlei bedeuten: Der Stein, der rollt, setzt kein Moos an, er ist also immer in Bewegung und befreit sich vom Unkraut. Soweit die positive Variante. Aber: Die Pflanze, die mit dem Stein immer in Bewegung bleibt und keine Wurzeln schlägt, kann auch nicht wachsen. Diese negative Deutung entspricht wohl dem deutschen „Ein unsteter Mensch kommt zu nichts.“ Aber dagegen steht eben „Wer rastet, der rostet.“
Kurz zur Vorgeschichte: Als Bob Dylan beginnt, den Text zu schreiben, ist er 24 Jahre alt und gerade auf Tournee – und die fordert ihn, sie stresst ihn. Er hatte begonnen, die elektrische Gitarre zu spielen, begleitet von einer lauten Band. Bisher konnte man Dylan musikalisch klar dem Folk zuschreiben, und es ging hauptsächlich um ihn und seine Akustikgitarre. Schon die A-Seite seiner letzten Platte Bringing It All Back Home vom März 1965 aber enthält ausschließlich elektrisch verstärkte Instrumente, was vielen Folk-Puristen nicht gefällt, auch bei seinen neuerdings rockigeren Livekonzerten nicht. Beim Newport Folk Festival will man ihm später am 25 Juli 1965 den Strom abstellen. Angeblich kommt es noch extremer: Folk-Sänger Pete Seeger, der ebenfalls auf dem Billing steht, droht damit, die Kabel mit einer Axt zu durchtrennen, um dem Auftritt von Dylan und seiner Band ein Ende zu bereiten. Dylan aber ruft seinen Musikern “Play fucking loud“ zu und stimmt eine verzerrte Version von Like A Rolling Stone an.
Er schreibt sich den Druck vom Leib
Manche bisherigen Fans beschimpfen den Künstler jetzt als Judas und Verräter. Es läuft gerade eigentlich gut, aber dann auch wieder nicht. Dass sein Publikum Dylans Weg zu etwas stilistisch Neuem und das teilweise Überwinden seiner Wurzeln nicht akzeptieren will, setzt ihn unter enormen Druck.
Wütend, in einer Art Stream of Consciousness, schreibt er nun Texte nieder, darunter ein mehr als 20 Seiten umfassendes Gedicht. Er nennt es Like A Rolling Stone. Später reduziert er es auf Liedtext-Größe, aus 20 Seiten werden vier Strophen plus Refrains. (Das nun vierseitige Originalmanuskript wurde übrigens kürzlich versteigert für sage und schreibe zwei Millionen US Dollar.) Später sagt Dylan, er habe während des Dichtens gemerkt, dass er in Zukunft immer auf diese Art schreiben will: Einfach drauf los, so wie die Beat Poets, denen er sich ja schon länger verbunden fühlte. Und das rettet ihn, denn nach der Tour befindet er sich in einem Zustand so großer Erschöpfung, dass er die Musik fast an den Nagel hängt. Aber der neue Text gefällt ihm selbst sehr gut. Er komponiert die Musik dazu und weiß: Das wird etwas! Auch sein Manager glaubt an einen Hit. Dylans Selbstbewusstsein ist wieder aufgebaut, nachdem er doch gerade noch nicht sicher war, wohin er mit seiner Kunst wollte.
Folk Rock und Punk im Studio
Am 15. Juni 1965 beginnen die Aufnahmen von Like A Rolling Stone. (Der Song landet auf Highway 61 Revisited, doch die anderen Lieder werden zu einem späteren Zeitpunkt eingespielt.) Doch es läuft keine gewöhnliche Session im Studio A von Columbia Records in New York: Keine Noten werden ausgeteilt, die Musiker bekommen keine „Sheets“ mit einem Überblick über das Stück und seine Akkordwechsel, dafür aber sehr deutliche Ansagen von Bob, wie das Ganze nicht klingen soll: „Ich will, dass du nichts von dem B.B.King-Scheiß spielst, none of that fucking blues“ lautet die Anordnung. Später fasst der Chef zusammen: „Ich sagte ihnen, wie sie spielen sollten, und wenn sie das nicht wollten, naja, dann konnten sie mit mir nicht spielen.“ So kämpft sich die Besetzung durch den Song. Es braucht mehrere Versuche, um bis zum ersten Refrain zu kommen.
Sessiongitarrist Al Kooper schlägt Produzent Tom Wilson vor, eine Begleitung auf der Orgel zu spielen. Und dieser Part schafft es dann tatsächlich auf die Aufnahme. Sensationell, denn Kooper ist eigentlich nur im Studio zu Gast, um zuzuschauen. Und ein besonders guter Organist war er damals auch noch nicht. Nun schreibt den Orgelpart – und wird die Gitarre danach gegen die Orgel eintauschen. Insgesamt herrscht bei den Aufnahmen doch irgendwie eine Art von Magie. Al Kooper erinnert sich: „Es lief komplett nach Gehör. Und völlig unorganisiert – das war der reine Punk. Es passierte einfach.“ Hatte Dylan sich gerade vom Folk zum Rock entwickelt, gibt es im Studio quasi schon Punk, obwohl der noch gar nicht erfunden war.
Zu lang, zu rockig, aber extrem erfolgreich
Der fertige Werk klingt roh, es ist eine Rock-Nummer geworden. Und sie ist lang, über sechs Minuten zu lang, findet Columbia Records und weigert sich, das Lied zu veröffentlichen. Dreiminütige Singles spielen die Radios am liebsten, aber Dylan verweigert sich gegenüber Kürzung. 30 Jahre später werden Fettes Brot die Drei-Minuten-Radio-Regel aufs Korn nehmen: 1995 blenden sie ihren Song Nordisch by Nature, den es auch in einer viel längeren Version gibt, aus mit den Worten „Lieber Radio-Discjockey, wir haben soeben die Drei-Minuten-Dreißig-Schallgrenze erreicht. An dieser Stelle blenden wir den Titel für Sie aus.“
Das Originalmanuskript von Dylans Songtext zu „Like A Rolling Stone“ – Foto: Slaven Vlasic/Getty Images
Zurück zu Dylan: Erst als ein New Yorker DJ eine Testpressung erhält und Like A Rolling Stone im Club so lange spielt, bis das Vinyl hinüber ist, entscheidet sich das Label um. Der Song erscheint am 20. Juli 1965, schafft es bis auf Platz zwei in die Charts und hält sich zwölf Wochen in der Hitparade – Dylans bis dato größter Erfolg. Das Lied über ein Mädchen aus gutem Hause, das auf der Straße landet und inmitten von Herumtreibern und Landstreichern lebt, für die sie zuvor nur Spott parat hatte, das Lied mit dem prägnanten Refrain, in dem gefragt wird, wie es sich wohl anfühlt, alleine zu sein und ohne Heimat, dieses Lied kürt der Rolling Stone (und dreimal dürft ihr raten, woher die die Musikzeitschrift ihren Namen hat…) zum „besten Song aller Zeiten“. Kulturtheoretiker Greil Marcus schreibt 2005 sogar ein ganzes Buch über ihn.
Große Nachwirkungen
Jimi Hendrix, Johnny Winter, Steve Wynn, natürlich die Stones und viel weitere Namen aus aller Welt tauchen auf, wenn man im Internet die Liste der Cover-Versionen aufruft. Wolfgang Niedecken veröffentlicht mit BAP 1982 die deutsche (also: kölsche) Version mit dem Titel Wie ne Stein, und schon 1978 kommt Wolfgang Ambros’ Version heraus auf dem Album Wie im Schlaf, das ausschließlich deutsche Versionen von Dylan-Songs enthält. Die Interpretation von Punker Johnny Thunders fällt zugegebenermaßen gar nicht besonders punkig aus. Martin Scorsese betitelt seine Dylan-Dokumentation 2005 natürlich mit einem Zitat aus Like A Rolling Stone: No Direction Home.
Der Stein kommt also gut ins Rollen im Sommer 1965. Für Dylan markiert das Stück einen Befreiungsschlag: Er hat seine Wurzeln verlassen oder besser: ausgeweitet und ist daran gewachsen, auch gegen die Widerstände, die ihm entgegenschlugen. „Wer rastet, der rostet“? Passt! „Ein unsteter Mensch kommt zu nichts“? Passt hier nicht. Erst kürzlich erhielt Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur.
Zeitsprung: Am 9.7.1962 nimmt Bob Dylan das poetische „Blowin’ In The Wind“ auf.

Popkultur
Zeitsprung: Am 9.6.1982 trotzen Mötley Crüe einer Bombendrohung. Oder doch nicht?
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 9.6.1982.
von Christof Leim
1982 machen sich Mötley Crüe auf in den amerikanischen Norden zur Crüesing Through Canada Tour ’82. Seit dem Vorjahr steht ihr erstes Album Too Fast For Love in den Läden, jetzt soll die Musik unter die Leute. Allerdings scheint in Edmonton jemand etwa dagegen zu haben – und droht, die vier Krachmacher in die Luft zu sprengen…
Hört hier in das Mötley-Crüe-Debüt Too Fast For Love rein:
Bei der Polizei von Edmonton geht die die telefonische Drohung ein, das Leben der Musiker sei in Gefahr, wenn sie am 9. Juni 1982 auf die Bühne gehen. An diesem Tag sollen Mötley Crüe ihre dritte Show in einem Club namens Scandals spielen. Doch Bassist und Bandchef Nikki Sixx lässt sich davon nicht beeindrucken und sagt in einem Nachrichtenbeitrag der CBC News: „Uns ist das egal. Wir sind hier, um allen eine gute Show zu bieten. Wer daran keinen Spaß hat, muss sich das nicht anschauen.“
Glücklicherweise verläuft das Konzert ohne Zwischenfall, Mötley Crüe spielen sogar noch zwei weitere Gigs in der Stadt in einem anderen Laden namens Riviera Rock Room. Der Mut der Band hat sich also ausgezahlt und bringt nicht nur 1000 Punkte an „street credibility“, sondern auch Presseberichte in Kanada und zu Hause in Kalifornien.
Mötley Crüe früher. Ganz früh.
Was eine verdammt coole Band also, was? Wirklich? Natürlich nicht. Wie sich später herausstellt, wurde die Bombendrohung vom Management der Truppe lanciert, um Aufmerksamkeit zu generieren. Eine PR-Aktion, nichts weiter, und sie funktioniert hervorragend. Die Show ist eben alles. Dem Tod kommt Nikki Sixx erst fünf Jahre später so richtig nahe, aber das ist eine andere Geschichte (die hier steht).
Immer Chaos
Über zu wenig Action während ihrer Kanadareise können sich Mötley Crüe allerdings nicht beschweren. Das ging schon los am Flughafen von Edmonton, wie Sänger Vince Neil in seiner Autobiografie Tattoos & Tequila schreibt: Bei der Einreise werden die Musiker nämlich erstmal verhaftet. Warum sie in ihrem Bühnenoutfit – Leder, Schminke, High Heels, Haare bis zur Decke – durch die Zollkontrolle laufen, kann drei Dekaden später wohl niemand mehr so richtig erklären. Die kanadischen Behörden stellen sich solche Fragen gar nicht erst und konfiszieren kurzerhand sämtliche Nietengürtel und Lederarmbänder, und Vince darf nicht mal seine Reiselektüre behalten (Playboy, Hustler, wegen der Interviews). Ansonsten gibt es Kloppereien mit Hockeyspielern, die ja in Kanada an jeder Ecke rumstehen, wie man weiß, aber dummerweise besser ausgerüstet sind. Außerdem fliegen ganz klassisch Fernseher aus Hotelfenstern. Man hat ja einen Ruf zu verlieren beziehungsweise aufzubauen. Wir würden uns nicht wundern, wenn das alles ebenso PR-Aktionen gewesen wären. Ein Einschätzung, die Vince Neil übrigens teilt. Immerhin hat sich diesmal niemand selbst angezündet oder als Doppelgänger von Nikki Sixx ausgegeben. Aber so läuft das wohl im Showgeschäft, was?
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Zeitsprung: Am 17.2.1988 zündet sich ein Mötley-Crüe-Fan selber an. Aua!
Popkultur
„Come On“: Die erste Single der Rolling Stones wird 60 Jahre alt!
Schon mit ihrem ersten veröffentlichten Song Come On landeten die Rolling Stones einen Hit. Auch wenn er aus der Feder einer anderen Rocklegende stammt: Chuck Berry. Später konnten Mick Jagger und Co. die Nummer noch nicht einmal mehr leiden. Am 7. Juni 1963 erschien die Single in Großbritannien.
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Come On von den Rolling Stones anhören:
Schon als sich Mick Jagger und Keith Richards Ende 1961 auf der Zugfahrt von Dartford nach London kennenlernen, kann man erahnen, welche Musik die beiden einmal spielen werden. So trägt Jagger ein paar Blues-Platten von Muddy Waters und Chuck Berry mit sich herum. Richards überlegt, ob er den schlaksigen jungen Mann überfallen und die Platten klauen soll — entscheidet sich dann aber doch für ein Gespräch über die Musik. Wenig später gründen die beiden eine gemeinsame Band. Sie soll sich zu einer der größten in der Rockgeschichte entwickeln: The Rolling Stones — ein Name, der von Muddy Waters inspiriert ist. Der erste Song, den die Gruppe aufnimmt: Come On von Chuck Berry.
Come On: Die erste Single der Rolling Stones
Das Original nimmt Berry im Jahr 1961 in den Chicagoer Chess Studios auf. Gerade einmal 1:53 Minuten dauert der Song. Doch die kurze Zeit reicht der Gitarrenlegende, um einen gekonnten Rumba hinzulegen und einen weiteren Beitrag zur Konstruktion des Rock’n’Roll zu leisten. Inhaltlich geht es in dem Stück Blues-typisch um einen Kerl, bei dem wirklich alles schiefläuft: Seine Freundin hat ihn verlassen, der Wagen springt nicht an und arbeitslos ist er auch noch. Es sind Themen, mit denen sich offenbar auch die jungen Rolling Stones identifizieren können. Im Mai 1963 fahren sie mit einem Bus in ein Aufnahmestudio der Plattenfirma Decca und covern Come On.
„Der Song war seicht, aber auch sehr poppig“, erinnert sich Gitarrist Richards in According To The Rolling Stones. „Wir nahmen Come On zusammen mit mehreren Bo-Diddley-Songs auf. Die Nummer wurde wahrscheinlich ausgesucht, weil sie chartorientierter war.“ Vermutlich hätten einige Mitarbeiter von Decca Records die Entscheidung getroffen. „Uns war das egal“, ergänzt Richards. „Wir wollten einfach eine Single veröffentlichen.“ Tatsächlich gelingt mit Come On ein größerer Erfolg als erwartet. Nach dem Release am 7. Juni 1963 steigt der Song auf Platz 21 der britischen Single-Charts ein — und ebnet den Weg für ein jahrzehntelanges Rockmärchen.
Ein unliebsamer Startschuss für eine große Erfolgsgeschichte
Live findet der Song nach der Veröffentlichung kaum statt. Das liegt daran, dass Come On nicht gerade zu den Lieblingsstücken der Stones gehört. Gitarrist Ronnie Wood findet die Nummer zwar super, wie er in einem Interview verrät: „Meiner Meinung nach ein brillanter Song. Ich mag auch das Original von Chuck Berry.“ Mick Jagger) äußert laut Bill Wymans Rolling Stones Story allerdings: „Ich glaube nicht, dass Come On sehr gut war — es war scheiße. Weiß Gott, wie der Song in die Charts kam; es war ein Hype. Wir mochten das Stück so wenig, dass wir es bei keinem Gig spielten.“ Genau das sorgt kurze Zeit später noch für Ärger.
Was das britische Magazin NME über Come On und die B-Seite I Want To Be Loved von Willie Dixon zu sagen hatte
Als Stones-Manager Andrew Oldham mitbekommt, dass seine Schützlinge Come On auf der Bühne boykottieren, flippt er aus. „Er drehte durch, weil wir Come On nicht spielten“, erinnert sich Bassist Bill Wyman. „Er befahl uns, den Song bei jeder Show zu bringen.“ Das machen die Stones dann auch — allerdings nicht lange. Von der fertigen Single erhalten die Musiker damals übrigens nur vier Stück; weitere Exemplare müssen sie aus eigener Tasche bezahlen. Unvorstellbar, dass eine der größten Rockbands des Planeten einmal so stiefmütterlich behandelt wurde. Heute sind die Stones schon lange Legenden. Angefangen hat der Erfolg mit ihrer ersten Single Come On am 7. Juni 1963.
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Popkultur
Zum Pride Month: Die queeren Wurzeln des Rock
Rock ohne die LGBTQ+-Community? Undenkbar. Ob die frühen Anfänge im Blues, die Erfindung des Rock’n’Roll, Glam Rock oder Heavy Metal: Die Geschichte der Rockmusik erstrahlt in bunten Regenbogenfarben. Wir haben die queeren Wurzeln des Rock für euch unter die Lupe genommen. Erster Halt: die 1910er-Jahre!
von Timon Menge
Man mag es bisweilen vergessen haben oder verdrängen, aber es gab in der Geschichte der Menschheit lange Zeiten, in denen die Mitglieder der LGBTQ+-Community ihre Identität für sich behalten mussten, weil ihnen sonst juristische Verfolgung oder gar der Tod drohte. Noch schlimmer: In Teilen der Welt ist es bis heute so, zum Beispiel in Jamaika oder Uganda. Zusätzlich herrschen vielerorts mehr oder minder unterschwellige Ressentiments gegenüber der LGBTQ+-Gemeinschaft. Dafür muss man sich nur einmal eine Kommentarspalte zu einem Artikel mit dem entsprechenden Thema anschauen. Eine der Lösungen ist, der Community zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, ob von innen oder von außen. Ein traditionell gutes Mittel dafür ist die Kultur — im Speziellen die Musik.
Ma Rainey und Bessie Smith: Die „Bisexual Queens Of The Blues“
Zu den vielleicht ersten öffentlichen Ikonen der LGBTQ+-Community gehören die beiden bisexuellen Blues-Sängerinnen Ma Rainey und Bessie Smith. Sie lernen sich 1912 während einer Minstrel Show kennen, einer Art Wanderzirkus, der weiße US-Bürger*innen unterhält, indem auf der Bühne Schwarze Stereotype präsentiert werden. Meistens kommt dabei das sogenannte Blackfacing zum Einsatz, bei dem sich weiße Darsteller*innen ihre Gesichter dunkel anmalen und Schwarze als naive Sklaven zeigen, die ihre Besitzer*innen trotz aller Misshandlungen lieben. Es gibt allerdings auch Schaustellergruppen wie die Rabbit Foot Minstrels, zu denen Rainey und Smith gehören, und die ausschließlich aus Schwarzen Mitwirkenden bestehen.
Für Rainey und Smith ist die Wander-Show ein Karriere-Katalysator. Heute gelten beide zurecht als Blues-Legenden und werden sogar als „Bisexual Queens Of The Blues“ betitelt. Das liegt zum Beispiel daran, dass sie quasi den Soundtrack zu einem großen US-amerikanischen Umbruch liefern. So strömen in den 1910er- und den 1920er-Jahren viele US-Bürger*innen vom Land in die wachsenden Großstädte, wo bisher grundlegende Gesetze des Zusammenlebens neu verhandelt werden. Kultur, soziale Fragen, Politik, Kriminalität, Sexualität: Alles verändert sich und Künstler*innen wie Ma Rainey und Bessie Smith bilden die Veränderungen in ihren Songs ab. So lautet ein Auszug aus dem Text von Prove It On Me Blues von Ma Rainey:
They say I do it, ain’t nobody caught me
Sure got to prove it on me;
Went out last night with a crowd of my friends,
They must’ve been women, ’cause I don’t like no men.
Sister Rosetta Tharpe: Die „Godmother Of Rock And Roll“
Während der Transformation des Blues zum Rock spielt vor allem eine Schwarze, queere Musikerin eine entscheidende Rolle: Sister Rosetta Tharpe, eine der frühen Frauen des Rock’n’Roll. Schon mit vier fängt sie an, Gitarre zu spielen. Später kombiniert sie die Gospelmusik ihrer Kindheit mit ihrer verzerrten Gitarre sowie ihrem ausdrucksstarken Gesang und legt damit einen wichtigen Grundstein für die Entstehung des Rock’n’Roll. In ihren Texten singt sie über Themen wie Sexualität und Liebe und lebt offen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Das dürfte sie nicht nur einmal in Schwierigkeiten gebracht haben — dennoch feiert sie als Musikerin große Erfolge. Heute, also noch 50 Jahre nach ihrem Tod, gilt die „Godmother Of Rock And Roll“ als Ikone der LGBTQ+-Community.
Little Richard: Der „Architect Of Rock And Roll“, der seine Meinung änderte
Auch Little Richard, der übrigens von Sister Rosetta Tharpe entdeckt wird, gehört zu den frühesten Sprachrohren der LGBTQ+-Community. Als Schwarzer homosexueller Mann aus dem Süden der Vereinigten Staaten ist ihm vermutlich fast jedes Vorurteil schon einmal begegnet. Dennoch steht der „Architect Of Rock And Roll“ für seine Sexualität ein und lebt sie mehr oder minder offen aus. So lautet der Text seines größten Hits Tutti Frutti ursprünglich:
Tutti Frutti, good booty
If it don’t fit, don’t force it
You can grease it, make it easy
Für die Änderung der Lyrics in „Tutti Frutti, aw rooty“ sorgt Produzent Robert Blackwell, der sich wegen des eindeutigen Originaltextes Sorgen macht. Ab Anfang der Achtziger vollzieht Little Richard leider eine 180-Grad-Wende, spricht sich in der TV-Show Late Night With David Letterman öffentlich gegen das Schwulsein aus und bezeichnet Homosexualität noch 2017 als „unnatürlich“. Sie widerspreche „Gottes Willen“.
Musicals und der Broadway
Einen besonderen Stellenwert in der Musikhistorie der LGBTQ+-Community nehmen auch Musicals und der Broadway ein. So leben Komponisten wie Marc Blitzstein schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offen schwul und prägen die Bühnenwelt maßgeblich. Die lesbische US-Theaterproduzentin Cheryl Crawford gründet unter anderem die Schauspielschule Actors Studio, an der zum Beispiel Marlon Brando, James Dean, Marilyn Monroe, Al Pacino, Robert De Niro, Dustin Hoffman und Jack Nicholson ausgebildet werden. Einen der größten Meilensteine im LGBTQ+-Theater markiert die Rocky Horror Show, die am 19. Juni 1973 am Londoner West End Premiere feiert, und bei der es sich um eine der berühmtesten Travestie-Shows der Welt handeln dürfte.
Disco und der Christopher Street Day
Genau wie in der Welt der Musicals findet die LGBTQ+-Community auch in der Disco einen Heimathafen. Ihren Ursprung haben die Tanzlokale im Zweiten Weltkrieg, als es jungen Menschen durch die Nazis untersagt war, Swing- und Jazzmusik aus den Vereinigten Staaten zu hören. In den späten Sechzigern schwappt der Trend über den großen Teich, wo vor allem Afroamerikaner*innen, die Schwulenszene und Latinos in die Diskotheken strömen. In der Bar Stonewall Inn in der Christopher Street in New York City kommt es am 29. Juni 1969 zu den sogenannten Stonewall-Unruhen, bei denen die Bar um 1:20 Uhr nachts von Polizeibeamten gestürmt wird. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und dem LGBTQ+-Publikum der Bar schockieren. In Gedenken an die Ereignisse feiern wir heute deshalb jedes Jahr den Christopher Street Day. Ihren Höhepunkt erreicht die Disco-Ära ab Mitte der Siebziger mit Künstler*innen wie Grace Jones und dem Film Saturday Night Fever.
Glam Rock und Heavy Metal: Die LGBTQ+-Community in der Radaumusik
Nachdem Ma Rainey, Bessie Smith, Sister Rosetta Tharpe und Little Richard die Grundsteine dafür gelegt hatten, bleibt die LGBTQ+-Community auch weiterhin ein wichtiger Einfluss auf die Rockwelt. Da wären zum Beispiel Marc Bolan und David Bowie, die mit der Erfindung des Glam Rock Rollenmuster aufbrechen und androgyne Alter Egos erfinden. The Kinks thematisieren in ihrem Song Lola das Thema Transsexualität. Charismatische Künstler wie Freddie Mercury und Elton John sind weit oben auf der Spitze des Rockolymp zu finden und prägen das Genre nicht nur durch ihr grenzenloses Können, sondern auch durch ihre kreativen Kostüme. Und der homosexuelle Judas-Priest-Sänger Rob Halford erschafft die Metal-Mode, indem er sich am Dresscode der Sadomaso-Szene orientiert. Die Einflüsse der LGBTQ+-Community sind überall — und wir verdanken ihr einen großen Teil dessen, was wir heute unter Rockmusik verstehen.
Die Achtziger und Neunziger: LGBTQ+ im Mainstream sorgt für Homophobie
In den Achtzigern und Neunzigern explodiert der Einfluss der LGBTQ+-Community auf die Pop- und Rockmusik. Ob Culture Club, Wham!, die Pet Shop Boys, Cher, Blur, Cyndi Lauper, Madonna, Prince oder Frankie Goes To Hollywood: Zum ersten Mal ist die Szene in der Mitte des Mainstreams angekommen. Leider ruft das auch jede Menge Gegenwind auf den Plan. So führt die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den Achtziger-Jahren einen offenen Krieg gegen die LGBTQ+-Gemeinde. Das HI-Virus und AIDS werden öffentlich als „Schwulenpest“ verschrien. Nach gefühlten Schritten in die richtige Richtung erleidet der Kampf für die Akzeptanz der LGBTQ+-Community große Rückschläge. Doch die Bewegung gibt keine Ruhe und sorgt Stück für Stück dafür, dass sie akzeptiert wird. Erschreckend: Erst seit 1994 ist es in Deutschland nicht mehr illegal, homosexuell zu sein.
Mit Musik zu mehr Aufmerksamkeit und Toleranz
Heute sind wir zum Glück so weit, dass es selbst in den konservativsten Musikrichtungen eine LGBTQ+-Community gibt, was Country-Künstler*innen wie Orville Peck und Sarah Shook & The Disarmers unter Beweis stellen. Doch es ist auch offenkundig, dass es noch viel Arbeit zu tun gibt, bis die Sexualität von Musikerinnen und Musikern einfach keine Rolle mehr spielt. Die Lösungen dafür sind Sichtbarkeit, Aufklärung und Toleranz. Dafür war und ist die Musik eins der besten Hilfsmittel. Das Beste, was wir tun können, ist, die LGBTQ+-Community ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, bis auch der oder die Letzte verstanden hat, dass Gender, Liebe und Sexualität mindestens so bunt sind wie die Pride-Flagge.
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