Popkultur
Die musikalische DNA der Rolling Stones
Würde man die musikalische DNA der Rolling Stones durch ein Mikroskop betrachten, sie würde blau leuchten. Nicht kobaltblau und blau, sondern warm und beseelt. Denn obwohl die Band am anderen Ende der Welt und ein paar Jahre später gegründet wurde, spricht aus jedem Gitarrenlick wie noch dem kleinsten Drumfill der Vibe des Delta Blues.
Der Teufelspaktler Robert Johnson ist aber nicht der einzige, der auf den Sound seinen Einfluss ausübte: Mainstream-Pop, Disko und sogar religiöse marokkanische Musik haben die Stones zu der Naturgewalt gemacht, die sie bis heute geblieben sind – und sich ihrerseits in ganz andere Musikstile einschrieb. Zoomen wir also etwas weiter rein und schauen genau hin! Es ist ja nicht alles Blues, was bläulich glänzt.
Jetzt in unserem Store erhältlich:
1. Muddy Waters – Rollin’ Stone (Single Version)
Es soll ja immer noch Leute geben, die denken, die Rolling Stones hätten sich nach Bob Dylans Beleidigungsarie gegenüber Andy Warhol benannt, dem „Napoleon in rags“, der übrigens später das Cover von Sticky Fingers gestaltete. Das ist allerdings unwahrscheinlich, Steine rollen für gewöhnlich doch vorwärts, nicht aber rückwärts durch der Zeit: Dylan schrieb den Song 1965, die Rolling Stones –genauer: Brian Jones – hingegen fanden ihren Namen drei Jahre früher auf dem Rücken einer Single von Muddy Waters: Rollin’ Stone hieß dessen 1950 veröffentlichte Interpretation des klassischen Delta-Blues-Stücks Catfish Blues. Was man eben auf die Schnelle sagt, wenn die Presse anruft und der Bandname eigentlich noch nicht feststeht.
„A rolling stone gathers no moss“ lautet das englische Sprichwort in voller Länge und Ähnliches lässt sich wohl über die Band oder die Gesundheit eines Keith Richards sagen. Der verstand sich übrigens auf Anhieb deshalb so prächtig mit Mick Jagger, weil die beiden sich auf eben jenen Muddy Waters einigen konnten. Noch vor der telefonischen Schnelltaufe der Rolling Stones – die sich bis zur Umbenennung von Manager Andrew Loog Oldham noch Rollin’ Stones schrieben – firmierten die beiden gemeinsam mit Dick Taylor sowie Alan Etherington und Bob Beckwith 1961 unter dem Namen The Blue Boys. Jones’ effektiver Schnellschuss scheint da eindeutig die bessere Wahl.
2. Ernesto Lecuona – Malagueña
Keith Richards ist nicht nur ein medizinisches Weltwunder, sondern auch ohne Zweifel einer der besten Gitarristen des letzten Jahrhunderts. Allein, auch er fing mal klein an – ob nun mit dem Konsum diverser Substanzen oder dem Musizieren. Und zwar klein im wahrsten Sinne des Wortes: Der Legende nach platzierte Richards’ Großvater – ein Jazz-Musiker mit dem klangvollen Namen Augustus Theodore „Gus“ Dupree – eine Gitarre auf einem Regal ab. Außerhalb der Reichweite des kleinen Keith, versteht sich.
Der Deal: Wenn der Jungspund drankäme, dürfe er das Instrument behalten. Der baute sich einen Stapel aus Büchern und konnte so bald seine erste Gitarre sein eigen nennen. Das erste Stück, das der Großvater ihm beibrachte, war ein kubanischer Standard namens Malagueña, der von Ernesto Lecuona komponiert wurde. Eine gute Wahl: Einerseits trägt das Stück bereits die Melancholie der späteren Stones-Balladen in sich, andererseits treffen in ihm die jazzige Melodik und mitreißende Rhythmik zusammen, welche Richards als Gitarristen bis heute auszeichnen.
3. Robert Johnson – Stop Breakin’ Down Blues
Heutzutage wollen alle über Soundcloud entdeckt werden, früher war noch mehr Aufwand nötig: Ein Deal mit dem Teufel musste es schon sein. Den ging der Legende nach Robert Johnson ein, der erst mit einer Neuauflage seiner LP King of the Delta Blues Singers im Jahr 1961 postum zum, na ja, König der Delta-Blues-Sänger wurde. Johnson ist eine mythische Gestalt, von dem so gut wie nichts bekannt ist und von welchem nur wenige verifizierte Fotos existieren.
Die Stones legten selbst immer eine Menge „Sympathy For The Devil“ an den Tag und coverten auf Exile On Main Street – in den Ohren vieler ihr bestes Werk – Johnsons Stop Breakin’ Down Blues. Im nie enden wollenden Wettrennen zwischen den Stones und den Beatles wurde schließlich nicht ohne Grund oft daraus verwiesen, dass die Stones eben mehr Blues und Sex Appeal mitbrächten als die Pilzköpfe aus Liverpool. Übrigens: Das mit Teufelspakt war durchaus metaphorisch gemeint und auf die säkulären Inhalte von Johnsons Lyrics bezogen. Wenn diese Leute gewusst hätten, was später einmal aus Mick Jaggers Mund kommen sollte…
4. The Beatles – I Wanna Be Your Man
Es ist allerdings nicht unbedingt so, als sei die damalige „British Invasion“ ebenso gespalten gewesen wie ihre jeweiligen Fanbases. Nein, auch die Stones zollten den Beatles mal Respekt – und das sehr früh in beider Karrieren. Das Rolling-Stones-Cover von The Beatles’ I Wanna Be Your Man wurde sogar vor dem zweiten Album der Pilzköpfe veröffentlicht: Die Rolling Stones veröffentlichten ihn als Single am 1. November 1961, With The Beatles drei Wochen später.
Die Stones in den 1960ern.
Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images
Wie es dazu kam? John Lennon und Paul McCartney trafen auf einem Streifzug durch London zufällig Mick Jagger und Keith Richards und wurden nach neuem Material gefragt, da die beiden gerade im Studio waren, es aber nicht recht flutschen wollte. Lennon und McCartney konnte nur eine rohe Skizze anbieten, schrieben das Stück aber kurzerhand unter Jaggers und Richards‘ Augen fertig. Ein Geniestreich? Nicht unbedingt: Der Song war extra schlicht gehalten, damit ein gewisser Drummer ihn besser singen konnte…
5. Ray Charles – I Got A Woman
Ahmet Ertegun – nie gehört? Tatsächlich handelt es sich um einen der einflussreichsten Player der Pop-Geschichte. Was ihn nicht daran hinderte, ein Nickerchen zu halten, während Mick Jagger ihm gerade erzählte, dass die Stones bei Erteguns Label Atlantic unterschreiben würden. Der Jet Lag, der ganze Alkohol seien schuld gewesen, heißt es dazu in einer Biografie Erteguns. Das war 1969 und die Rolling Stones bereits Superstars – nur sah es finanziell ziemlich mies aus. Die Entscheidung für Atlantic fiel aber nicht nur aus Geldgründen, sondern auch weil dort viele der Stones-Helden groß wurden.
Ertegun nahm 1952 Ray Charles unter Vertrag und ließ ihn unter seinen Augen und Ohren die Eigenkomposition I Got A Woman aufnehmen, eine damals ungewöhnliche Mischung Gospel, Jazz und Blues. Soul war geboren, der Song schrieb Musikgeschichte. „You know, I got a woman / And she lives in the poor part of town“, heißt es im Stones-Song Fool To Cry auf Black And Blue, ihrem fünften Album für Atlantic. Lyrics, die sich wie die etwas zotigere Fortsetzung von Charles’ Klassiker lesen. Ertegun übrigens hatte sein letztes Konzerterlebnis mit den Rolling Stones: Im Alter von 83 Jahren besuchte er im Jahr 2006 ihre Show im New Yorker Beacon Theater, stürzte schwer und wachte nach anderthalb Monaten aus dem Koma nicht mehr auf.
6. Chic – Le Freak
Mick Jagger ist ja vieles. Unter anderem ist er ein Ritter. Ja, richtig: 2003 wurde der Stones-Sänger im Jahr von der Queen mit einem Schwert abgeklatscht, um seine Verdienste in Sachen Pop-Musik zu würdigen. Das sprichwörtliche weiße Pferd aber überließ er 1977 seiner damaligen Frau Bianca, die ihren dreißigsten Geburtstag im legendären Studio 54 feierte und sich dort auch für ein Foto auf einen Schimmel setzte. Nein, stellte sie im Nachhinein klar, sie sei nicht in den New Yorker Club eingeritten, sondern hätte ihn zusammen mit dem Gatten ganz bürgerlich zu Fuß betreten.
Weniger Glück hatten da Nile Rodgers und Bernard Edwards, die am Silvesterabend desselben Jahres trotz persönlicher Einladung von Grace Jones nicht hereingelassen wurden und sich stattdessen mit ein paar Muntermachern im Studio einschlossen und kurzerhand einen neuen Song komponierten, der Disco-Geschichte schrieb. Den Refrain allerdings änderten sie vor Veröffentlichung des Stücks ab: „Freak out!“ klingt ja doch etwas besser als „Fuck off!“, zumindest in den Ohren der Sittenwächter. Der Sound Chics übrigens ging auch an den Stones nicht spurlos vorbei. Siehe beispielsweise Miss You vom Album Some Girls, welches nur wenige Monate nach der Veröffentlichung von Le Freak erschien.
7. Master Musicians Of Jajouka – War Song/Standing + One Half (Kaim Oua Nos)
Nicht nur Blues in allen seinen Formen und Farben (oder sagen wir eher: Blauschattierungen) oder etwa Disco sogen die Stones in ihre DNA auf. Sondern auch Klänge, die nicht der westlichen Pop-Tradition entsprangen. Das mit einer indischen Sitar gespielte Haupt-Lick von Paint It Black schließlich lässt für sich genommen eher an den Orient als an den Mississippi denken! Verantwortlich dafür ist erneut Brian Jones, dessen Verehrung für das von Bachir Attar angeführte Kollektiv Master Musicians Of Jajouka schließlich in einem ambitionierten Projekte gipfelte.
Brian Jones Presents The Pipes Of Pan at Jajouka erschien 1971 auf dem Label der Stones und versuchte gar nicht erst, sein Publikum mit sogenannter World Music zu überzeugen, wie etwa Paul Simon das seinerzeit tat. Stattdessen wird der Sound des wichtigsten Feiertags der Stadt Sidi-Kacem hörbar, wie ihn Jones dort zum ersten Mal im Jahr 1968 erlebt hatte. Jones schloss die Produktion an den vor Ort gemachten Aufnahmen zwar vor seinem Tod durch Ertrinken im Jahr 1969 ab, erlebte die Veröffentlichung allerdings nicht mehr. Auch die Stones hätten in den Folgejahren sicherlich anders geklungen, denn der Gitarrist wollte den Sound der Meistermusiker Jajoukas mehr in den der eigenen Band integrieren. Interessant wäre das ohne Frage gewesen!
8. Miles Davis – Decoy
Um es mal vorsichtig zu formulieren: Die neunziger Jahre waren nicht nur in modischer Hinsicht eine schwierige Zeit. Für viele Helden vergangener Dekaden bedeuteten sie eine echte Zerreißprobe. Das 1994 veröffentlichte Album Voodoo Lounge kam ein Statement gleich: Ja, unser Bassist ist weg. Ja, wir – Keith und Mick – waren auf Solo-Pfaden unterwegs (und es lief eher geht so). Aber verdammt, ja, wir wollen es immer noch wissen. Während der neue heiße Scheiß im Flanellhemd aus Seattle herüber schlürfte, betrieben die Stones Graswurzelarbeit. Fokussiert sollte das auf Barbados aufgenommene Album werden.
Sie holten sich als Ersatz für das Gründungsmitglied Bill Wyman dennoch ausgerechnet einen Jazzer an Bord: Auf Vorschlag von Schlagzeuger Charlie Watts wurde Wyman von Darryl Jones am Bass abgelöst. Was der drauf hatte, bewies er bereits auf den – zugegeben nicht unbedingt populären – Miles Davis-Alben Decoy und You’re Under Arrest. Insbesondere aber auf dem Titelstück des 1984 veröffentlichten Decoy zeigte Jones, dass er in Sachen Coolness selbst dem Prince of Darkness das Wasser reichen konnte. Eine gute Wahl auch für die Stones, für die der Schritt zurück mehr Standfestigkeit in unruhigen Zeiten bedeutete.
9. The Righteous Brothers – You’ve Lost That Loving Feeling
Produzenten-Legende und Vollzeitweirdo Phil Spector ist zwar gemeinsam mit Barry Mann und Cynthia Weil als der eigentliche Mastermind hinter You’ve Lost That Loving Feeling zu nennen, Brian Jones aber war bei der Aufnahme ebenfalls anwesend. Produzent Brian Stone gab später zu Protokoll, dass eine der Background-Sängerinnen besonders hervorstach: „Es sangen dreißig Menschen im Hintergrund, aber Cher hatte diese Killer-Stimme. Wir haben sie fünfzig Fuß vom Mikrofon entfernt aufgestellt, aber alles, was zu hören war, war sie. Nach der Session nahmen wir sie noch in derselben Nacht ins Büro mit und schlossen einen Vertrag ab.“
So traten Sonny & Cher buchstäblich über Nacht aus dem Hintergrund ins Rampenlicht. Genau dort zollten ihnen die Stones später auch Tribut: Gemeinsam mit Manager Andrew Loog Oldham und der Fernsehmoderatorin Cathy McGowan machten sie zu den Klängen von Sonny & Chers Überhit I Got You Babe in McGowans Sendung Ready Steady Go! allerhand Faxen.
10. Death In Vegas – Aladdin’s Story
Vermutlich haben die Stones den Namen Richard Maguire noch nie gehört und womöglich wissen sie überhaupt nichts von seinem Sample-Tribut an So Divine (Aladdin’s Story) vom Album The Contino Sessions, welches Maguire gemeinsam mit seinem damaligen Partner Tim Holmes unter dem Namen Death In Vegas im Jahr 1999 veröffentlichte. Maguire würde ihnen aber sicher gefallen: Der Brite steht ebenso wie die Stones für einen zukunftsorientierten Sound, der zugleich seine Traditionen ehrt.
Aus dem psychedelisch angehauchten und elektronischen Rock-Sound des Duos wurde spätestens seit dem Weggang Holmes‘ weiter geschraubt. Zuletzt erschien mit Transmission ein Album, für das sich Maguire die ehemalige Porno-Darstellerin Sasha Grey vors Mikrofon holte. Die Stones-Referenz von damals war übrigens sicherlich netter gemeint als der Projektname: Zuerst nannten sich Maguire und Holmes Dead Elvis, bevor die Anwälte eines gewissen Mr. Presley Einspruch erhoben. Vielleicht nicht das Schlechteste: Auch die Stones hätten vielleicht ganz anders geheißen.
„Midnight Rambler“: Die Geschichte hinter der düsteren Mini-Blues-Oper der Rolling Stones

Popkultur
Zeitsprung: Am 26.3.1990 hat Gary Moore immer noch den Blues.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 26.3.1990.
von Christof Leim
Ein Rocker entdeckt den Blues: Den guten Namen hat Gary Moore sich mit knackigem Hard Rock und sogar Jazz Fusion erspielt. Seinen größten Hit landet er jedoch am 26. März 1990 mit Still Got The Blues, einem geschmackvollen Blues-Album. Für die prägnanteste Stelle fängt er sich allerdings eine Plagiatsklage ein…
Hier könnt ihr Gary und seine alte Liebe hören:
Alte Liebe rostet nicht: Auf dem Cover von Still Got The Blues sehen wir einen kleinen Jungen in seinem Zimmer, die viel zu große Les Paul auf den Knien, einen Übungsverstärker vor sich und Jimi Hendrix‘ Konterfei an der Wand. Die Rückseite der Platte zeigt die gleiche Szenerie – nur diesmal mit einem erwachsenen irischen Gitarrenhelden, irgendwo in einem Hotelzimmer, mit einer Dose Bier und einem angebissenen Hamburger vom Zimmerservice. Auf seinem Schoß eine Les Paul, vor ihm der gleiche Marshall-Combo, und auf dem Boden liegt wieder ein Album von John Mayall…
Zurück zu den Ursprüngen
Der Blues ist eben immer noch da für Gary Moore, als er 1990 eine neue Phase seiner Karriere einläutet. Vorher hatte sich der irische Sänger und Gitarrist in härteren Rock-Gefilden herumgetrieben: So spielt er nach Skid Row (der irischen Variante), einigen Soloalben und sogar einem mehrjährigen Jazz-Fusion-Ausflug mit Colosseum II etliche Jahre bei den immergrünen Thin Lizzy, bevor er 1979 endgültig unter eigenem Namen durchstartet. Mit Alben wie Run For Cover (1985), dem keltisch gefärbten Wild Frontier (1987) und After The War (1989) etabliert er sich als Hard-Rock-Flitzefinger, der zeitgemäß schreddern kann und mitunter die Haare so hübsch hochtoupiert trägt wie die sonstigen Helden der Zeit. Immerhin: Moore kriegt in der Regel noch ein kleines bisschen mehr Geschmack in seinen Ton als die meisten anderen.
Mit 38 Jahren besinnt er sich auf seine Wurzeln, den guten alten Blues, die Ursuppe allen Rockens. „Ich liebe den Blues seit den Sechzigern“, erklärt er in einem Radiointerview mit SWR3. „Mit der 13 oder 14 habe ich zum ersten Mal John Mayall & The Blues Breakers gehört, mit Eric Clapton an der Leadgitarre. Schon der erste Song All My Love hat mein Leben auf einen Schlag verändert. Ich habe noch eine Gitarre so klingen hören.“
Rock-Sound im Zwölftakter
Dabei deckt der damals in Großbritannien lebende Ire das ganze Spektrum des Genres ab, von getragen bis flott, aber immer in zeitgemäßer Produktion – und bei Gelegenheit durchaus noch ziemlich rockend. Er selbst gibt dazu gegenüber SWR3 zu Protokoll: „Damals spürte man den Einfluss der letzten zehn Jahre in meinem Gitarrensound und meiner Spielweise.“ Das Ergebnis sind vor allem in den rockigen Songs feurige Gitarreneinsätze, die bei aller Authentizität und Werktreue das entscheidende Quäntchen an zusätzlicher Energie rüberbringen.
Der Höhepunkt der Platte liegt zweifelsohne im Titelstück Still Got The Blues (For You), einem getragenen Schmachtfetzen im 6/8-Takt und einer wundervoll einprägsamen Gitarrenmelodie. Damit erinnert die über sechs Minuten lange Nummer an Parisienne Walkways, der Kollaboration mit Phil Lynott (Thin Lizzy) von 1978, und beschränkt sich nicht auf das grundlegende Zwölf-Takt-Schema des Blues. Das Stück wurde zum Welthit und Moores größtem Erfolg. Auch Jahrzehnte später funktioniert der Song noch hervorragend und läuft regelmäßig im Radio, sogar Eric Clapton höchstselbst hat ihn 2013 auf seinem Album Old Sock als Tribut an den 2011 verstorbenen Moore aufgenommen.
Versehentlich geklaut
Besagte Hookline allerdings erweist sich als Problem: 1974 hatte eine deutsche Progressive-Rock-Band namens Jud‘s Gallery ein Instrumental mit dem Titel Nordrach geschrieben, in dem exakt die Akkordfolge und Anfangsmelodie von Still Got The Blues (For You) zu hören sind. Das Münchner Landgericht gibt deshalb 2008 nach acht Jahren der Auseinandersetzung der Plagiatsklage von Jürgen Winter Recht, dem Chef von Jud‘s Gallery. Das Mysteriöse dabei: Nordrach war bis zum Zeitpunkt der Entstehung von Still Got The Blues nie veröffentlicht worden, sondern wurde nur live gespielt, darunter bei einer Aufzeichnung im SWF-Studio in Baden-Baden im März 1974. Kurz gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Klampfer aus Irland solch obskure Werke kennt, scheint gering. Das Gericht jedoch geht davon aus, dass Moore den Song im Radio oder auf der Bühne gehört haben könnte. Ein Radiobeitrag von SWR3 berichtet sogar, Moore habe in den Siebzigern in Deutschland gelebt und sei auf Konzerten von Jud‘s Gallery gesehen worden. Ob das stimmt, bleibt juristisch jedoch unerheblich, denn der Plagiatsvorwurf hängt nicht davon ab, ob die Passage tatsächlich bewusst kopiert wurde.
Allerdings erweist sich eben jene Akkordfolge als Standard, der in der Musikgeschichte schon unzählige Male vorgekommen ist (ein so genannter „Quint-Fall“), während die Melodie sich schlicht an Grundtönen orientiert. Sogar im Jazz-Standard Autumn Leaves oder Lionel Richies Hello wäre sie zu finden, schrieb die Süddeutsche seinerzeit. Ob Moore nun absichtlich geklaut hat (unwahrscheinlich), ein phänomenales, wenngleich unterbewusstes Melodiegedächtnis besitzt (denkbar) oder schlicht über die gleichen Akkorde stolperte (vermutlich) – ohne seinen Ton wäre Still Got The Blues (For You) nie so gelungen. Beide Parteien einigen sich schließlich außergerichtlich: Moore zahlt Winter eine nicht veröffentlichte Summe an Schadenersatz und darf dafür weiter die Urheberschaft von Still Got The Blues (For You) für sich beanspruchen.
Neues und Altes in blau
Als Gast beim A.C. Williams-Klassiker Oh Pretty Woman spielt Blues-Legende Albert King mit. Seine coolen, cleanen Licks stehen in einem interessanten Gegensatz zu den sportlichen Hard-Rock-Soli von Gary Moore mit wesentlich mehr Verzerrung und Flitzefingerei. Die beiden Herren haben jedoch Spaß zusammen, wie der Videoclip zu dem als Single ausgekoppelten Song zeigt: Der Ire schmeißt sich in 1a-Gitarrenhelden-Posen, der Amerikaner raucht entspannt Zigarre – und beide lachen.
Bei Too Tired darf die Bläsersektion mit swingenden Einwürfen ran, dazu liefert sich Moore nette Wechselspiele mit einem weiteren Veteran: Albert Collins. Geschrieben hat das Stück einst Johnny Guitar Watson, den genau das Schicksal ereilte, welches Lemmy von Motörhead dieser Tage für sich quasi ankündigt: Er verstarb 1996 auf der Bühne. Aber das ist eine andere Geschichte (die ihr hier lesen könnt).
Beeindruckende Gästeliste
Ein Höhepunkt der Platte findet sich in King Of The Blues, einer klassisch strukturierten Moore-Komposition mit vielen netten Licks des Meisters und herrlichen Bläsern. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Albert King, der auch namentlich im Text genannt wird, aber ausgerechnet bei der Nummer nicht mitspielt. Dafür zeigt Thin-Lizzy-Mann Brian Downey, dass er den Swing besitzt, den man für Blues braucht, der aber auch jede gute Hard-Rock-Band besser macht.
Sogar ein echter Beatle mischt mit: That Kind Of Woman stammt aus der Feder von George Harrison, der zu diesem netten Nümmerchen Slide- und Rhythmusgitarren beisteuert. Mit dem Urheber von Stop Messin‘ Around schließlich verbindet Gary Moore eine Menge: Peter Green von Fleetwood Mac nahm dereinst in Dublin den jungen Hoffnungsträger ein wenig unter seine Fittiche und beeinflusste ihn nicht unwesentlich.
Lohnender Stilwechsel
Die stilistische Umorientierung lohnt sich jedenfalls: Was ein einmaliger Ausflug sein sollte, avanciert zum größten Erfolg in der Karriere von Gary Moore und verkauft in den USA mehr als alle anderen seiner Werke. 1995 erhält er dafür eine Gold-Auszeichnung, ebenso erreicht die Single Still Got The Blues (For You) erreicht hohe Positionen und zum ersten Mal die Top 100 in den USA. Hierzulande geht die Scheibe fast eine halbe Million mal über die Tresen.
Geschmack, Stil und feurige Gitarre: Gary Moore 1990. Foto: George Bodnar
Man könnte sogar argumentieren, dass Gary Moore sich mit diesem stilistischen Wandel dem Untergang entzogen hat, dem viele Hard-Rocker und Sportgitarristen der Achtziger angesichts der Grunge-Welle entgegen sahen. Moore bleibt dem Blues fortan von wenigen Ausnahmen abgesehen treu und spielt weitere Platten in diesem Stil ein. Denn alte Liebe rostet nun mal nicht: „Durch dieses Album und den Song habe ich viele neue Fans gewonnen“, gibt er später zu Protokoll. „Aber deswegen habe ich sie nicht aufgenommen, es war die Musik selbst, die mich dorthin geleitet hat. Da fühle ich mich zu Hause.“
Zeitsprung: Am 30.9.1978 veröffentlicht Gary Moore „Back On The Streets“.
Popkultur
Zeitsprung: Am 25.3.2015 fährt James Corden Mariah Carey zur Arbeit
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 25.03.2015
von Victoria Schaffrath und Christof Leim
„Danke dir, dass du mir mit dem Weg zur Arbeit hilfst. Der Verkehr ist echt übel“, murmelt James Corden da beiläufig Richtung Beifahrersitz. „Ich weiß, es ist unerträglich“, erwidert keine Geringere als Mariah Carey. Am 25. März 2015 startet mit diesem Dialog Carpool Karaoke, die Kultsequenz aus Cordens Late Late Show. Sehen wir uns die Höhepunkte des Formats an.
Schaut euch hier alle Folgen von Carpool Karaoke an
Als James Corden am 23. März 2015 die Late Late Show von Brit-Kollege Craig Ferguson übernimmt, kennt ihn in Amerika kaum jemand. Der Schauspieler und Komödiant hatte sich zwar in Großbritannien einen Namen machen können, doch das Scheinwerferlicht in Kalifornien wirft größere Schatten. Corden weiß, dass er sich beweisen muss. So zieht er zwei Tage nach Amtsantritt ein Ass aus dem Ärmel.
Fahrgemeinschaft 2.0
Der junge Brite importiert ein Format, dass er erstmals für die britische Wohltätigkeitsveranstaltung Red Nose Day 2011 umgesetzt hatte: Da beorderte er George Michael in ein Auto, kurvte mit ihm durch London und trällerte gemeinsam mit dem Sänger dessen Hits. Michael entpuppte sich dabei als charmanter Partner, Corden als kompetenter Gastgeber. Zum Auftakt der US-Show muss also ein ähnlich hochkarätiger Gast her.
So kommt es, dass zwei Tage nach der „British Invasion“ des Abendprogramms Weltstar Mariah Carey in einen LA-typischen SUV steigt. Zunächst kokettiert sie noch, sie könne nach einer durchzechten Nacht nicht mitsingen, aber dann sprengt plötzlich ihr Schmettergesang die Autoscheiben. Dass Corden eine absolut passable zweite Stimme hinbekommt, sorgt bei Stücken wie Always Be My Baby, Fantasy, Thirsty und Vision Of Love mitunter für Ansätze von Gänsehaut.
Erfolgsformel Menschlichkeit
Der Sympath erklärt den durchschlagenden Erfolg des Segments (und demzufolge auch der gesamten Show) recht einleuchtend: „Da schwingt eine Einfachheit und Intimität mit. Einen Star solchen Kalibers in der gleichen Umgebung zu sehen, in der du und ich sonst auf dem Weg zur Arbeit singen, macht ihn menschlich.“
Logisch, dass danach nicht nur Musiktreibende auf Promotour, sondern ganze Musical-Besetzungen mit Corden „zur Arbeit fahren“ möchten. Die Videos, die im Netz häufig viral gehen, bringen so ungewöhnliche Partnerschaften wie Rod Stewart und Rapper ASAP Rocky oder Michelle Obama und Missy Elliott hervor. Ob oberkörperfreie Red Hot Chili Peppers, die Foo Fighters, Paul McCartney oder den gefiederten Elton John: Auch die großen Namen des Rock holt sich Corden gern dazu.
Bei so viel Prominenz lassen die Starallüren nicht zu wünschen übrig: Berufsprovokateur Kanye West sagt gleich mehrfach hintereinander kurzfristig ab und macht aus dem SUV mal eben eine Boeing; zwischen Corden und Dave Grohl gibt es nach der Ausstrahlung ein kleines Missverständnis. Immerhin rettet Anthony Kiedis laut eigenen Angaben während der Dreharbeiten einem Säugling das Leben. Das ist dann doch etwas mehr Aufruhr, als wir morgens auf dem Weg zur Arbeit ertragen könnten.
Zeitsprung: Am 2.3.2014 knipst eine YouTuberin David Gilmour – ohne es zu wissen.
Popkultur
Review: „Das ist los“ von Herbert Grönemeyer ist genau das Album, das wir jetzt brauchen
Herbert Grönemeyer schenkt uns auf Das ist los sinnstiftende Lieder über die Liebe und den Zusammenhalt. Ob er die Gesellschaft damit kitten kann, ist fraglich. Doch alleine der Versuch verdient Hochachtung.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr Das ist los hören:
Herbert Grönemeyer veröffentlicht keine Alben. Herbert Grönemeyer veröffentlicht Bestandsaufnahmen. Seines Lebens, aber auch von unser aller Leben. Immer wenn eine neue Platte von Deutschlands größtem und erfolgreichsten Künstler erscheint, so wirkt es, kommt sie genau zur rechten Zeit. Seine Lieder sind Salben für die Wunden, die wir uns seit seinem letzten Album zugezogen haben, zumeist stille und zurückhaltende Gebäude, in denen wir Schutz suchen können.
„Hoffnung ist gerade so schwer zu finden“ lautet dann auch der erste Satz des Albums. Er stammt natürlich aus der Lead-Single Deine Hand, mit der Grönemeyer schon vor einigen Monaten begeistern konnte. Eine einfühlsame Ode an Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt – wie viele seiner Songs sowohl im Mikrokosmos als auch im Makrokosmos zu sehen. Es geht um tatsächliche Partnerschaft, aber auch um den universellen Zusammenhalt. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass wir das als Gesellschaft dringend nötig haben.
Nur ein Gutmensch?
Fünf Jahre nach Tumult ist die Welt noch viel tumultartiger geworden. Da braucht es große Künstler, die mit Ruhe, Reflexion und Besonnenheit aufarbeiten, was da eigentlich mit uns und der Welt passiert ist in diesen irren letzten Jahren. Sicher kann man das abtun, verunglimpfen als onkelnde Ratschläge vom alten weißen Mann, als Motivationscoach mit nasaler Stimme. Damit macht man es sich aber zu einfach. Grönemeyer polarisiert, und das schon sehr lange. Die einen echauffieren sich darüber, dass er ja gar nicht singen (geschweige denn tanzen) kann, die anderen halten ihn für einen aufdringlichen Gutmenschen mit Moralkomplex und biederen Thesen. Gutmensch – wie so ein Wort überhaupt zu einer Beleidigung werden konnte, sagt ja auch sehr viel.
Manchmal spielt er seinen Kritiker*innen in die Karten auf diesem Album. Der Titelsong zum Beispiel erinnert eher an Bierzelt oder Schlagerfestival – trotz seines cleveren, defragmentierten Textes, der den Informations-Overkill der heutigen Zeit versinnbildlichen soll. Doch die großen Momente gehören eh den Balladen, das ist bei Grönemeyer schon lange so. Tau zum Beispiel, ein Lied, umrankt von Trauerflor. Der Rest ist mal flott und tanzbar, mal umgarnt von Vintage-Elekronik, mal elegisch mit Streichern.
Songs, die Mut zuflüstern
Um Tod, Verlust und Trauer geht es auch auf Das ist los. Aber nicht als Fixpunkt, sondern als Unausweichlichkeiten des Lebens. Überwiegend möchte Grönemeyer uns stärken, uns Mut zuflüstern, uns als Ganzes wieder zusammenbringen. Man darf sich fragen, wieso ihm das so wichtig ist, warum er denkt, dass ausgerechnet er als Messias zu uns singt. Man darf sich aber auch fragen, warum es sonst niemand tut. Das ist los zeigt uns, dass wir nicht aufgeben sollten, nicht verzagen sollten, nicht den Ist-Zustand beibehalten sollten. Stattdessen sollen wir „Raus in den Sturm“, wie es im dringlichen Genie heißt, rein ins Leben, in die Verantwortung.
Diejenigen, die ihn bisher schon als Gutmenschen abkanzelten, werden sich darauf stürzen und ihn in der Luft zerreißen. Dabei sind es gerade diejenigen, die hier mal genau hinhören sollten. Das ist los ist nicht das beste Grönemeyer-Album, wahrscheinlich nicht mal Top fünf. Es ist aber mal wieder mal genau das Album, was wir jetzt brauchen. Und allein dafür gebührt im Hochachtung.
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