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Popkultur

Die musikalische DNA von Alice in Chains

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Grunge, das ist ein ziemlich überdehnter Begriff. Denn was haben Nirvana, Soundgarden und Alice In Chains schon außer ihrer Heimat gemeinsam? Alle drei Bands rebellierten auf ihre Art gegen die vorangegangenen Generationen und setzten sich vom Zeitgeist ab. Nur, um ihn neu zu definieren. Alice In Chains sind vielleicht das beste Beispiel für eine Band, die sich in dieser Schublade niemals wohl fühlte, weil sie nie dorthin gehörte. Fehl am Platz zu sein ist nicht ohne Grund eines der großen Themen dieser Band um den Gitarristen und Sänger Jerry Cantrell, die 1996 wegen der Drogenabhängigkeit ihres Sängers Layne Staley nur noch unregelmäßig spielen konnten und 2002 seinen Tod miterleben mussten.


Hört euch hier einen Vorgeschmack der musikalischen DNA von Alice in Chains an:

Für die ganze Playlist klickt auf „Listen“.

Die Musik von Alice In Chains ist selbst in ihren fröhlichsten Momenten von einer Melancholie durchtränkt, die Ihresgleichen sucht. Vor allem aber bezieht sie sich anders als viele andere Bands ihrer Generation deutlich aus einer anderen Tradition als viele ihrer Zeitgenossen. Mike Inez, der 1993 Mike Starr am Bass ersetzte, brachte es 2013 in einem Interview auf den Punkt: „Bevor wir auftauchten, gab es keinen Grunge, weil das Wort noch nicht erfunden war“, sagte er erbost. „Davor wurden wir als Alternative Rock, als Alternative Metal oder als Metal oder Rock bezeichnet. Dabei gaben wir einen Scheiß drauf – wir waren eine Rock’n‘Roll-Band!“ Absolut richtig.

Dass Schlagzeuger Sean Kinney auf die Wurzeln seiner Band in der Seattler Metal-Szene hinweist, ist dennoch nicht verkehrt. Cantrell drückte es diplomatisch aus: „Wir sind viele verschiedene Dinge… Ich weiß nicht genau, was den Mix ausmacht, aber da ist Metal, Blues, Rock’n‘Roll und vielleicht ein wenig Punk drin.“ Schauen wir uns diesen Mix doch mal genau an und werfen einen Blick auf die musikalische DNA von Alice In Chains!


1. Guns N’ Roses – Welcome to the Jungle

Irgendwo zwischen Metal, Blues, Rock’n‘Roll und ein bisschen Punk sind auch Guns N‘ Roses angesiedelt, die für die Geschichte von Alice In Chains von großer Bedeutung waren. Von anderer Bedeutung allerdings, als es sich zuerst denken lässt. Alice In Chains nämlich würden diesen Namen nicht tragen, wäre die Band von Axl Rose nicht gewesen. Aber der Reihe nach: Johnny Bacolas von der Band Sleze, denen Layne Staley als Sänger vorstand, und Russ Klatt, der Frontmann von Slaughter Haus 5 sponnen während eines Konzerts im Backstage rum, als ihnen ein VIP-Pass in die Finger kam, auf den die Worte „Welcome to Wonderland“ geschrieben waren.

Von da führte das Gespräch zu Alice im Wunderland und schlussendlich zum Vorschlag Alice In Chains. „Steck sie in Ketten und so!“, soll Klatt gescherzt haben. Gesagt, getan. Um die Anspielung auf Sado-Maso-Praktiken nicht allzu deutlich zu machen, nannte sich Sleze in Alice N’ Chains um. Den Namen übernahm Staley nach Ende der Band für sein neues Projekt mit Jerry Cantrell, Sean Kinney und Mike Starr. Aus dem ‚N‘“wurde wieder ein „in“, denn schließlich waren Guns N‘ Roses mittlerweile weltbekannt…


2. Hanoi Rocks – Taxi Driver

Dass Guns N‘ Roses aber neben den Namenswirrungen auch musikalisch ihren Einfluss auf die damals frische Band – die sich zwischenzeitlich unter anderem Fuck genannt hatte – ausübte, zeigte sich mehr als deutlich auf deren Live-Setlist. Und das nicht erst, als die beiden gemeinsam auf Tour gingen, nein. Zum Repertoire der jungen Band gehörten neben diversen Coverversionen ebenfalls ein Stück von den Finnen Hanoi Rocks, die ihrerseits als einer der Haupteinflüsse für Guns N‘ Roses zählen. Deren Sänger Michael Monroe half Axl, Slash und ihren Mitstreitern sogar mehr als einmal im Studio aus.

Welcher Hanoi Rocks-Song aber hatte es den jungen Alice In Chains nun angetan? Es war Taxi Driver vom Album Lean On Me! Bei ihrem ersten Auftritt widmete Staley ihre Version des Rockabilly-Glam-Hybrids dem Hanoi Rocks-Drummer Razzle, der 1984 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Typisch Alice In Chains: Selbst wenn sie für beste Unterhaltung sorgen, steckt immer noch ein Quäntchen Tragik mit drin. Ihr ambivalentes Auftreten sollte der Band schnell die Zuschreibung „Glam Metal“ einfahren. Eine zweifelhafte Ehre…


3. Slayer – Seasons in the Abyss

Denn sicherlich waren Alice In Chains dem Glam nicht abgeneigt. Im Gegenteil! Ihre Vorstellung von Metal war eine andere, geprägt wurden sie unter anderem von den Big Four: Metallica, Anthrax, Megadeth und Slayer. Ohne Metallica, dafür mit einem Haufen Scherereien ging es 1991 auf die legendäre Clash of the Titans-Tour. Zwischen Anthrax, Megadeth und Slayer fühlte sich die Band zwar bestens aufgehoben, die Reaktionen der Fans aber waren verhalten. Das hinderte sie nicht, im Folgejahr Tom Araya für einen Song ihres Überalbums Dirt ins Studio zu holen. Mittlerweile bei Fans als Iron Gland bekannt, zeigt das 43-sekündige Stück die böseste Seite der Band…

1995 versuchten es Alice In Chains und Slayer erneut, wieder gingen sie auf eine gemeinsame Tour. Doch bis zum heutigen Tag scheint es sich die Fanbase der Thrash-Legenden mit den Seattler Kollegen schwer zu tun, auch wenn es heutzutage besser sei, wie Kerry King noch 2015 beobachtete. „Mehr als damals noch sind sie offen für Qualitätsmusik“, sagte er mit Blick auf die Slayer-Fans und schaute dabei auch auf die Clash of the Titans-Tour zurück. „Ich verste‘’s schon, letztlich war es ein Thrash Metal-Festival und sie sind höchstens Hard Rock. Aber sie sind großartig und haben sich damit arrangiert.“ So haben Slayer der jüngeren Band vor allem Durchhaltevermögen gelehrt.


4. Ozzy Osbourne – No More Tears

Slayer war nicht die einzige Band aus dem naheliegenden Metal-Universum, mit der sich Alice In Chains stets prächtig verstanden. Auch mit der Black Sabbath-Frontröhre Ozzy Osbourne sollte es gemeinsam auf Tour gehen. Doch ein Unglück ihres eigenen Frontmanns machte dem Quartett einen Strich durch die Rechnung: Staley brach sich die Fuß. Ziemlich ironisch, hatte Ozzy diese Tour doch mit dem Titel No More Tours übersehen… Doch zum Glück handelte es sich um kein schlechtes Omen. Oder zumindest noch nicht…

Dennoch sahen sich Alice In Chains nur ein Jahr später mit einem Einschnitt konfrontiert. 1993 verließ Mike Starr die Band, angeblich um sich seiner Familie zu widmen. Ein Jahr später sprach Staley noch von „verschiedenen Prioritäten“, doch Jahre später deutete Starr in mehreren Interviews an, die Band habe ihn wegen seines Drogenkonsums gefeuert. So oder so: Ersatz fanden Cantrell und seine Gruppe in Mike Inez, der zuvor bei welchem legendären britischen Metal-Gott am Bass stand? Ihr ahnt es sicherlich…


5. Pantera – This Love

Der Verlust Starrs war für die Band offenkundig zu verkraften. Gemeinsam mit Inez konnten sie Welterfolge einfahren. Doch ab 1996 war die kurzzeitige Glückssträhne endgültig vorbei. Staleys eigene Drogenprobleme erschwerten die Arbeit mit dem Ausnahmesänger, im Studio oder gar auf Tour war die Band nur selten anzutreffen. Der Zustand des bisweilen auch mit Mad Season und Class of ’99 aktiven Staleys verschlechterte sich zunehmend, bis er schließlich am 19. April 2002 völlig ausgemergelt in seinem Bett tot aufgefunden wurde, nachdem er zwei Wochen zuvor dort verstorben war. Mit ihm ging eine der größten Stimmen der Rock-Geschichte.

Nach dem traurigen Abschied ließen sich die verbliebenen Mitglieder nur selten gemeinsam auf der Bühne sehen. Ging das überhaupt, Staley ohne Alice In Chains? Das wäre doch wie John ohne Paul, wie Sabbath ohne Ozzy, wie… Pantera ohne Dimebag Darrell! Auch der Gitarrist starb eines unglücklichen Todes. Gedacht wurde ihm von Cantrell, Kinney und Inez gemeinsam mit Phil Anselmo, der mit ihnen und Guns N‘ Roses-Bassist Duff McKagan bei einem Konzert ihren Hit Would? performte. Darrell und Cantrell waren glühende Fans voneinander. „Die Schichtungen und das ehrliche Gefühl, das Cantrell da [auf Dirt] hinkriegt ist so viel mehr wert als jemand, der fünf Millionen Töne spielt.“ Dabei hatte er selbst doch erst vorgemacht! Das beweisen Songs wie This Love vom Pantera-Klassiker Vulgar Display of Power. Wenig Schnickschnack, viel Gefühl.


6. Soundgarden – Black Hole Sun

À propos: Wo wir This Love hier gerade laufen lassen… Die ruhigen Parts könnten doch genauso gut von Soundgarden stammen, oder? Na ja, okay, überstrapazieren wollen wir die Parallele nicht, und dennoch: Den einen Grunge-Sound gab es nie und selbst Bands, die nicht zu dieser diffusen Bewegung gezählt wurden, hätten sich neben ihren – vermeintlichen – Hauptvertretern zweifelsohne gut gemacht. Grunge, das war eine Erfindung der Presse, um Bands aus dem Umkreis von Seattle zu kategorisieren und kaum mehr. Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden gehörten wider Willen ebenso dazu wie Alice In Chains.

Doch gibt es natürlich viele Verbindungen zwischen diesen Bands – klar, wohnten sie doch Tür an Tür! Das erste Demo-Tape von Alice In Chains, die sogenannten Treehouse Tapes, fand beispielsweise seinen Weg zum Soundgarden-Management, vertreten durch Kelly Curtis und Susan Silver. Sie leiteten es prompt an Columbia Records weiter, der Rest ist Geschichte. Für ihre Debüt-EP holten Alice In Chains dann allerdings neben Mark Arm von Mudhoney auch Chris Cornell ins Studio, der auf Right Turn zu hören ist. In den Linernotes sind die beiden übrigens als Alice Mudgarden genannt!


7. Nirvana – Come As You Are

Es gibt auch zwischen Alice In Chains und Nirvana eine Verbindungslinie, sie ist eher tragischer Natur. Nachdem Kurt Cobains Band mit Nevermind alle Rekorde brach und damit auch den Weg für den kommerziellen Erfolg von Alice In Chain‘ Debüt Sap frei machte, erschoss sich Cobain nur zwei Jahre später am 5. April 1994. Acht Jahre später sollte ihm Staley auf den Tag genau folgen, als er den Kampf gegen seine eigenen Dämonen verlor. Heroin war ihr beider Laster, auf ihre jeweils eigene Art gingen sie daran zugrunde.

In einem Fan-Q&A erinnerte sich Mike Inez an die eher zaghaften Berührungspunkte der Bands in der Seattler Szene. „Soundgarden waren so eine Band, ganz weit oben, im Regen, am Kiffen und Riffen, bis sie ihren ganz eigenen Sound perfektioniert hatten“, sagte er. „Das Gleiche gilt für die Typen von Nirvana und Pearl Jam.“ Von einer Szene kann also nicht die Rede sein, von gegenseitigem Respekt aber schon. Und obwohl sich Jerry Cantrell überrascht zeigte, dass Nirvana vor Pearl Jam in die Rock’n‘Roll Hall of Fame aufgenommen wurden, erinnerte sich aber an Cobain als eine einzigartige Persönlichkeit. „Er war so ein süßer Kerl, und eine echt authentische Seele, ein unglaublich begabter Künstler.“ Come As You Are! Das verbindet mehr als jede Genrebezeichnung…


8. Neil Young – The Needle and the Damage Done

„It‘s better to burn out than to fade away“, sang Neil Young – noch so eine Gemeinsamkeit der vielen Bands, die unter dem Begriff Grunge kategorisiert wurden – einst in Hey Hey, My My (Out of the Blue). Kurt Cobain schrieb die Zeile in seinen Abschiedsbrief, Layne Staley wurde ein anderes Young-Zitat zugeordnet. Im Winter 1996 brachte der Rolling Stone eine Titelstory, die mit dem Slogan „The Needle & the Damage Done: Alice In Chains‘ Layne Staley“ überschrieben war. Eine Katastrophe für ihn, aber auch die Band: Plötzlich stand der Kampf ihres Sängers mit dem Heroin im Mittelpunkt. Kein Wort mehr über die Musik!

Die Young-Zeilen „I hit the city and I lost my band“ sollten sich dennoch (wie so oft) als prophetisch erweisen. Doch ironischer Weise ging es erst nach dem Rolling Stone-Cover so richtig mit Staley bergab. Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung der Geschichte spielte er sein letztes Konzert mit Alice In Chains und verlor nicht nur seine Band, sondern auch sich selbst für die kommenden sechs Jahre aus den Augen. Anders als Cobain verbrannte er nicht lichterloh, sondern verblasste langsam und quälend. Als Staley starb, ging keine Massenhysterie um die Welt, sondern nur ein ratloses Schulterzucken. Ein unfaireres Ende hätte es für ihn nicht geben können.


9. Comes With The Fall – Rockslide

Wie geht es weiter, wenn ein Bandmitglied stirbt? Viele Bands mussten sich diese Frage stellen. Nicht alle waren so konsequent wie etwa Led Zepplin, für die der Tod John Bonhams das Ende ihrer Band besiegelte. Doch Alice In Chains wagten sich nur zögerlich wieder an die Oberfläche. 2006 kamen sie aber wieder auf Füße. Neben ihrem gemeinsamen Song mit Phil Anselmo in Andenken an Dimebag Darrell spielten sie auch ein gemeinsames Stück mit Ann Wilson und William DuVall, dem Sänger der Band Comes With The Fall. Es sollte ein schicksalsträchtiger Auftritt werden und DuVall die drei verbliebenen Alice-Mitglieder noch lange begleiten.

Kennengelernt hatten sich Cantrell und DuVall, der die Band 2006 ebenfalls für eine Reunion-Tour begleitete, bereits 2000, als Comes With The Fall den Support für Cantrells Solo-Projekt stellten. Schon damals sang DuVall die Parts von Staley, wenn Cantrell die Stücke seiner zu diesem Zeitpunkt in der Schwebe befindlichen Band anstimmte. Zum Casting musste er dennoch, bevor er 2008 als offizielles Bandmitglied bestätigt wurde – obwohl er nur einen Versuch brauchte. Nachdem er mit Alice In Chains gemeinsam Love, Hate, Love sang, drehte sich Kinney zu seinen Kollegen um und meinte trocken: „Na, da ist die Suche dann auch schon wieder vorbei.“ Einige Fans reagierten erbost auf die Neubesetzung. „Wir wollen das feiern, was wir gemacht haben, und die Erinnerung unseres Freundes wahren“, entgegnete Cantrell. „Es geht nicht darum, Abschied zu nehmen zu vergessen. Sondern sich zu erinnern und weiterzumachen.“ Schön gesagt!


10. Godsmack – I Stand Alone

Das Vermächtnis Staleys wird schließlich nicht dadurch geschmälert, dass DuVall bei Alice In Chains anheuerte. Im Gegenteil. Denn erstens ist DuVall ein ganz anderer Sänger als sein Vorgänger und andererseits ermöglicht das neue Line-Up einer neuen Generation, das Werk der Band und damit auch Staleys Schaffen zu entdecken. Anfang der Nullerjahre machte sich eine neue Welle von Bands auf, den Sound von Bands wie Pearl Jam, Nirvana oder eben auch Alice In Chains ein neues Gewand zu verpassen. Puddle of Mudd, Staind, Creed und – urgs – Nickelback wurden schnell zur „Post-Grunge“-Bewegung ausgerufen, obwohl sie wenig gemein hatten. Die Geschichte wiederholte sich.

Mit Godsmack nahm zu dieser Zeit eine Band Fahrt auf, die sich schon 1995 gegründet hatte. Der Name konnte doch kein Zufall sein, oder? Da gibt es doch diesen Song auf Dirt… „Wir kannten den Alice In Chains-Song, aber dachten gar nicht daran“, winkte Sänger Sully Erna ab. Stattdessen entstand der Name, als sich Erna über jemanden mit einem Herpesbläschen am Mund lustig machte und am nächsten Morgen mit einem eben solchen aufwachte. „Es sah aus, als hätte Gott mir aufs Maul gehauen, weil ich jemanden verspottet hatte!“ Wäre das geklärt. So oder so nannte Erna bei einer Gedenkveranstaltung zu Ehren Staleys diesen als seinen Lieblingssänger. „Er war es, der mich zum Singen brachte!“ Mit Godsmack fand er eine Band, die zudem noch den Metal-Sound mitbrachte, der schon immer ein Teil von Alice In Chains‘ musikalischer DNA war.


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