Popkultur
Die musikalische DNA von Bob Marley
Wer Reggae sagt, meint in den meisten Fällen Bob Marley. Kaum jemand hat in der Musikgeschichte ein ganzes Genre dermaßen dominiert wie der Jamaikaner. Das ist einerseits schade, weil Reggae noch viel mehr zu bieten hat als die Musik des Rastafaris. Es ist zugleich jedoch nur die logische Konsequenz seines Schaffens. Gemeinsam mit den Wailers war Marley dabei, als der neue Sound in Jamaika seinen Anfang fand und trug ihn in die Welt hinaus.
Leicht hatte er es dabei nicht immer, denn außerhalb seines eigenen Landes wurde der Offbeat-basierte Sound nur zögerlich aufgenommen. Marley wurde stattdessen zu einer internationalen Ikone des Undergrounds und der Gegenkultur. Seine Musik war ein hoffnungsvoller Protest gegen das Übel in der Welt. Doch Reggae entstand nicht im luftleeren Raum und auch Marley konnte auf eine ganze Reihe von wegweisenden Musikern zurückblicken, die ihn entweder inspirierten oder auf seiner Reise unterstützten. Ein Blick auf seine musikalische DNA verrät uns, wer.
Hör dir hier Bob Marley musikalische DNA als Playlist an während du weiterliest:
1. The Drifters – This Magic Moment
Schon früh begann sich der junge Marley für Musik zu interessieren. „Wie alles angefangen hat, weiß ich nicht“, gab er in einem Interview zu. „Aber ich weiß, dass meine Mutter Sängerin war. Meine Mutter ist sehr spirituell, wie eine Gospel-Sängerin. Sie schreibt Songs. Ich habe zuallererst sie singen gehört und fing so an, Musik zu lieben.“
Mit Neville „Bunny“ Livingston fand er einen Freund, der genauso musikversessen war wie er selbst. Gierig sogen die beiden Teenager jeden neuen Sound auf. Bunny bastelte sich aus Kupferdrähten, einer Sardinenbüchse und einem Bambusrohr eine Gitarre, mit der die beiden ihre ersten Songs spielten. Wo ein Wille ist, da ist schließlich auch ein Weg! Neben Calypso, Ska und Rhythm and Blues stand die Musik der Vokalgruppe The Drifters hoch in Marleys Kurs. „Mein größter Einfluss waren die Drifters – Magic Moment, Please Stay, sowas. Also dachte ich mir, ich sollte eine Gruppe zusammentrollen.“
2. Fats Domino – Be My Guest
Gesagt, getan. Zuerst versuchte sich Marley mit seinen Kollegen noch am Ska-Stil, der sich in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren in Jamaika ausprägte. Mit dem Ska schuf sich Jamaika ein ganz eigenes Musikgenre, das regionale Stile wie Mento und Calypso mit dem Rhythm and Blues-Sound des schwarzen Amerikas vereinte. Insbesondere die Musik von New Orleans-Musikern wie Fats Domino war beliebt. Songs wie Be My Guest bildeten mit ihren synkopierten Gitarrenakkorden die Blaupause für die unwiderstehlichen Ska-Grooves.
Im Rhythm and Blues fand die jamaikanische Bevölkerung eine Musik, die viel eher zu ihnen sprach als der weiße Rock eines Elvis Presley. Über Transistorradios und die ersten Soundsystems verbreitete er sich über die ganze Insel, bis irgendwann jede noch so obskure Platte totgespielt war. Mit dem Aufkommen von Ska fand die Unabhängigkeitserklärung Jamaikas im Jahr 1962 ihren perfekten Soundtrack: Die Stimmung war ausgelassen, eine neue kulturelle Identität begann sich zu bilden.
3. Skatalities – Freedom Sounds (Live)
Songs wie Freedom Sounds von den Skatalities drückten den Spirit dieser Zeit am besten aus. Die Skatalities gehören zu einer der bekanntesten Gruppen der ersten Ska-Welle und rekrutierten ihre Mitglieder aus der regionalen Musikszene. Als veritable Supergroup waren sie sich aber keineswegs zu schade, um mit einem Haufen unerfahrenen Burschen ins Studio zu gehen, um deren erste Single mit dem Titel Simmer Down aufzunehmen.
Wer diese Burschen waren? Nun, sie nannten sich die Wailers und wurden von Peter Tosh, Bunny Wailer und einem gewissen Bob Marley angeführt. Mit dem Song wollte die junge Band die „rude boys“ in den Ghettos Jamaikas dazu auffordern, ihr gewalttätiges Treiben zu überdenken. Ob’s geholfen hat? So oder so hätte Marley wohl kaum einen passenderen Einstieg feiern können. Mit den Skatalities im Rücken und der Vision einer friedlicheren Welt startete er seine Karriere auf dem richtigen Fuß. Nur musikalisch sollte er sich noch etwas umorientieren.
4. Toots & The Maytals – Do The Reggay
„Reggae begann mit Fats Domino“, soll Marley einmal gesagt haben. Tatsächlich lässt sich eine direkte Verbindungslinie vom Sound des Rhythm and Blues aus New Orleans über den Ska-Hype hin zur Entstehung des Genres ziehen. Wie aber genau entstand der Reggae? Musikhistoriker sind sich uneinig, verbrieft sind allerdings die Wurzeln des Genres im Ska und dem Rocksteady sowie die erste populäre Nennung in einem Song von Toots & The Maytals.
Do The Reggay erschien 1969 und brachte bereits alle Zutaten mit, die den Sound für Jahrzehnte prägen sollten. Reggae ging die Dinge ruhiger an als die frenetischen Ska-Rhythmen und ließ die grellen Bläser weg. Stattdessen traten Gitarre und gelegentlich auch Orgeln in den Vordergrund. Der Gospel-inspirierte Sound von Toots & The Maytals wird Marley auch an die Songs erinnert haben, die ihm seine Mutter als Kind vorgesungen hatte. Er jedenfalls war absolut begeistert vom Reggae und ging schon bald mit den Wailers und dem Produzenten Leslie Kong ins Studio, um seine neue musikalische Vision dort umzusetzen.
5. Eric Clapton – I Shot The Sheriff
Das Wort „Reggae“ wird in Europa und den USA auch gerne mal als Sammelbegriff für sämtliche jamaikanische Musik verwendet und selbst gefuchste Musiknerds wären vermutlich aufgeschmissen, wenn sie spontan den Unterschied zwischen Calypso und Mento erklären sollten. Nein, Reggae hat es nach wie vor nicht leicht und auch der internationale Siegeszug des Genres dank Marley selbst musste hart erkämpft werden.
Auf seinem Weg kam Marley von unerwarteter Seite Hilfe zu. Was fand so ein bleicher Brite wie Eric Clapton bitte am Reggae-Sound? Vielleicht mochte die „Slowhand“ ja den entspannten Grundton des Genres. So oder so markiert seine Coverversion von I Shot The Sheriff einen Schlüsselmoment in der Geschichte des Genres und somit der Karriere Marleys: Clapton eröffnete beiden ein völlig neues Publikum, das danach vermehrt zum Original griff. Es scheint ganz so, als hätte Marleys friedliebende Message ihm ein paar Karmapunkte eingespielt.
6. The Impressions featuring Curtis Mayfield – People Get Ready
Nach der Auflösung der Wailers im Jahr 1974 war Marley an einem Scheidepunkt angekommen. Der irrsinnige Erfolg des Clapton-Covers schien eine Fügung des Schicksals zu sein: Marley zog nach England. Dort nahm er die Alben Exodus und Kaya auf, die ihm ganze vier Hits bescherten. Der vielleicht nachhaltig bekannteste davon ist sicherlich One Love. Den Song hatten die Wailers bereits 1965 aufgenommen und dabei glatt unterschlagen, wer große Teile des Songs ursprünglich geschrieben hatte: Curtis Mayfield, Mastermind der Band The Impressions.
One Love ist nicht das einzige Stück, das sich die Wailers bei den Impressions geliehen hatten. Dass die Wailers sich bei der in fünfziger und sechziger Jahren extrem erfolgreichen Vokalgruppe bedienten, lag auf der Hand. Einerseits vereinte die Band den Sound von Gruppen wie den Drifters mit sanften Ryhthm and Blues-Grooves, wie sie dem Ska nahe standen. Andererseits gehörte Mayfield der schwarzen Bürgerrechtsbewegung an und legte somit eine ganz ähnliche Einstellung an den Tag wie Marley und seine Kollegen. Immerhin übrigens holte Marley sein Versäumnis später nach: Die Version auf Exodus nennt Mayfield als Co-Songwriter.
7. James Brown – Say It Loud – I’m Black and I’m Proud
Mayfield wurde nach dem Ende der Impressions als einer der Pioniere des neuen Soul-Genres als Solo-Künstler weltweit bekannt. Nicht nur sein Einfluss aber reichte bis nach Jamaika, auch der „Soul Brother No. 1“ James Brown war bei den Wailers beliebt, wie auch ihren frühen Aufnahmen anzuhören ist. „Oh, das ist, was wir damals alle gehört haben“, sagte Marleys Witwe Rita in einem Interview.
„Es war unser täglich Brot in dem Sinne als dass wir dachten, dass wir eines Tages in allen diesen Radiostationen gespielt würden und glaubten, dass unsere Musik eines Tages in Amerika gespielt würde. Das war in den frühen Sechzigern unser Traum. Bob Marley und die Wailers hörten Curtis Mayfield und die Impressions, und James Brown. Jede Nacht hörten sie sich diese Typen an und versuchten, genauso zu klingen.“ Mehr noch war Brown wie Mayfield auch eine wichtige politische Bezugsperson. Im Song Black Progress zitiert Marley nicht ohne Grund die ikonische Zeile „We rather die on our feet than keep livin’ on our knees“ aus dessen Say It Loud – I’m Black And I’m Proud.
8. Miles Davis – Blue In Green
Obwohl sich Marley überwiegend mit dezidiert schwarzen Musikstilen auseinandersetzte, machte sein Wirken auch nicht vor weißen Musikern Halt. „Bob Marley war der Angelpunkt meines Interesses für schwarze amerikanische Musik und Jazz“, gab etwa Sting zu Protokoll. Jazz ist ein gutes Stichwort, denn auch für das Genre interessiert sich Marley nachhaltig. Dabei ging es ihm nicht nur um den beschwingten Big Band-Sound früherer Zeiten, sondern auch zeitgenössische Interpretationen des traditionsreichen Genres.
So richtig leicht fiel es dem Jamaikaner aber keinesfalls, sich mit Jazz anzufreunden. „Ich konnte es einfach nicht verstehen“, schmunzelte er in einem Interview. „Nach einer Weile aber kapierte ich, worum es ging und ließ mir von Joe Higgs und Seeco Patterson einiges beibringen. Ich habe Ganja geraucht und dann begriff ich Jazz. Ich habe versucht, mich in eine Stimmung zu versetzen, in welcher der Mond blau schimmert, und wollte die Gefühle nachvollziehen, die in Jazz ihren Ausdruck finden.“ Ob dabei auch Miles Davis auf dem Plattenteller rotierte? Ein Song wie Blue In Green scheint allein dem Titel nach schließlich perfekt für eine melancholische Räuchersession auf der heimischen Couch geeignet…
9. Mulatu Astatke – Yèkèrmo Sèw
Im Laufe seiner Karriere setzte sich Marley auch zunehmend mit der Musik des afrikanischen Kontinents auseinander, den er selbst als Wiege der Menschheit betrachtete. Sein Sehnsuchtsland war Äthiopien, wo Mulatu Astatke in den siebziger Jahren den sogenannten Ethio-Jazz etablierte. Astatke hatte in Großbritannien und den USA studiert und dort auch sein musikalisches Handwerk gelernt, schuf aber einen ganz eigenen Sound, der die Klänge seines Heimatlands miteinbezog.
Für einen Rastafari wie Marley hatte Äthiopien einen besonderen Stellenwert: In seinem Glauben handelt es sich dabei um das Heilige Land. 1978 besuchte er es erstmals in seinem Leben, zu einer Zeit also, als Astatke gerade mit dem Ethio-Jazz einen neuen Sound schmiedete, der nicht unähnlich dem Reggae der schwarzen Diaspora eine Stimme verlieh. Die Alltagsrealität im Heiligen Land sah aber düsterer aus, als die wortlose Musik Astatke klang: Ein Bürgerkrieg tobte, als Marley dort die Rastafari-Community im Städtchen Shashemene besuchte. Es hat seiner Faszination keinen Abbruch getan und 2005 orderte seine Witwe sogar eine Umbettung seiner leiblichen Überreste nach Äthiopien an.
10. Lee “Scratch” Perry & The Upsetters – Enter The Dragon
Marley starb jung und doch ist sein Erbe größer als das mancher anderer Stars seiner Zeit. Obwohl er auf immer das Gesicht des Reggae-Sounds bleiben wird, so waren seine Einflüsse doch ebenso vielseitig wie sein eigenes Schaffen. Als Reggae-Pionier hat er auch an der Entstehung von anderen Sounds seinen Anteil gehabt. Als Produzenten wie King Tubby und Lee „Scratch“ Perry den Sound des Genres im Studio auf seine Bass- und Rhythmuselemente eindampften und somit den Dub schufen, war Marley live dabei.
Dub revolutionierte die Musikgeschichte, indem es noch vor den großen Krautrock-Produzenten wie Conny Plank das Studio zum eigentlichen Instrument erhob. Dub-Musik war explizit für die Benutzung auf den mobile Soundsystemen in Jamaika gedacht, wo die Platten für ein tanzwilliges Publikum aufgelegt wurden. Mit Lee „Scratch“ Perry und seiner Band Upsetters hatte Marley selbst für eine kurze Zeit zusammengearbeitet und blieb ihm bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden. Gemeinsam nahmen sie in Perrys legendärem Black Ark-Studio im Jahr 1978 ein paar Demos auf, zu denen Perry auch eigens ein paar Dub-Versionen bastelte. Zwei musikalische Visionen, harmonisch miteinander vereint.
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Popkultur
Zeitsprung: Am 21.9.1993 erscheint Nirvanas drittes und letztes Album „In Utero“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 21.9.1993.
von Christof Leim und Timon Menge
Im Jahr 1993 haben Nirvana die Schnauze voll vom Superstar-Dasein. Sie möchten nicht länger auf ihren Megahit Smells Like Teen Spirit reduziert werden und stattdessen ein authentisches, rohes Album aufnehmen. Das Ergebnis: In Utero.
Hört hier in In Utero rein:
Mit ihrem dritten Album verfolgen Nirvana ein klares Ziel: In Utero soll sich deutlich von seinem eingängigen Vorgänger Nevermind abheben und die Extreme der Band in den Vordergrund rücken. „Einige Songs klingen härter, andere noch radiotauglicher“, gibt Songwriter, Sänger und Gitarrist Kurt Cobain im Vorfeld der Aufnahmen zu Protokoll. „Das Album wird nicht so eindimensional wie Nevermind.“
Produziert wird die Platte von Steve Albini, der bereits Erfahrung mit der US-amerikanischen Punk- und Indieszene hat. Das Album trägt zunächst den Arbeitstitel I Hate Myself And I Want To Die, benannt nach einem Stück, das während des Aufnahmeprozesses entsteht. Eigentlich hat Albini keine Lust auf Nirvana und bezeichnet sie als „R.E.M. mit Fuzzbox“. Den Job habe er nur aus Mitleid mit der Band angenommen. Seine Meinung ändert sich im Zuge der zweiwöchigen Aufnahmephase im Pachyderm Studio in Cannon Falls, Minnesota, wo die Musiker sich unter dem Namen The Simon Ritchie Bluegrass Ensemble eingemietet haben. „Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr meine Bewunderung für diese Band zugenommen hat“, korrigiert er sich. Kurt Cobain und er teilen sogar eine gemeinsame Leidenschaft: Telefonstreiche. So rufen sie während der Sessions zum Beispiel Pearl Jam-Frontmann Eddie Vedder an und geben sich als Produzent Tony Visconti aus.
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Eigentlich soll In Utero bereits im Sommer 1992 eingespielt werden, doch die Bandmitglieder leben zu jener Zeit in verschiedenen Städten, was eine Zusammenkunft erschwert. Außerdem erwarten Cobain und seine Partnerin Courtney Love ihre gemeinsame Tochter Frances Bean. Die Plattenfirma DGC wird ungeduldig und veröffentlicht kurzerhand Incesticide, eine Compilation mit B-Seiten, Studio-Outtakes und raren Songs.
Vom Umfeld der Band hält Produzent Albini nicht viel, wie der NME in diesem Artikel berichtet. „Alle Personen, die an Nirvana beteiligt waren und nicht zur Band gehörten, waren Arschlöcher“, schimpft er. Tatsächlich stehen die Parteien während der Albumproduktion auf Kriegsfuß: auf der einen Seite Albini und die Band, auf der anderen Seite das Management und die Plattenfirma. Mehrfach stellen Albini und Nirvana klar, dass sie während der Arbeiten nicht gestört werden möchten, doch immer wieder erscheinen DGC-Abgesandte und möchten Zwischenstände hören — ein Verhalten, dass Albini bestraft, indem er alle Nichtmusiker eiskalt ignoriert. Für seine Arbeit erhält der Produzent stolze 100.000 US-Dollar, weigert sich aber, zusätzliche Royalties anzunehmen und bezeichnet derartige Beteiligungen als „Beleidigung für den Künstler“. Stark.
Als das Material fertig ist, halten Management und Plattenfirma es für unzureichend und werfen der Band und Albini vor, ein Album aufgenommen zu haben, das nicht veröffentlicht werden kann. Der Gesang sei nicht zu hören, das Schlagzeug viel zu laut und zu überladen mit Effekten. Zwar sind auch Nirvana selbst der Überzeugung, dass die Scheibe kein kommerzieller Erfolg werden kann, haben mit dieser Vorstellung aber keine großen Schwierigkeiten.
Die konservativen US-amerikanischen Einzelhandelsgiganten Wal-Mart und Kmart finden In Utero inhaltlich zu heiß, weshalb sie eine alternative Version fordern. Der Song Rape Me wird zu Waif Me umbenannt, die Cover-Collage von Kurt Cobain wird retuschiert und zeigt nun Frösche statt Babys und Föten. An den Song All Apologies legt R.E.M.-Produzent Scott Litt Hand an und befreit ihn von strittigen Textzeilen. Die Band stimmt den Änderungen zu, weil Cobain und Bassist Krist Novoselić in ihrer Kindheit nur zwei Möglichkeiten hatten, an neue Musik zu kommen: bei Wal-Mart und Kmart. Dass In Utero gleich auf Platz eins der Billboard-Charts landet und innerhalb der ersten Woche 180.000 Mal über die Ladentheke geht, erwartet niemand. Bis heute verkaufen sich mehr als 15 Millionen Exemplare des Albums.
In Utero zeigt Nirvana von ihrer aggressivsten Seite. Ob Scentless Apprentice, eine Vertonung des Romans Das Parfüm von Patrick Süskind, oder Pennyroyal Tea, eine Anspielung auf das als Abortivum benutzte (also einen Schwangerschaftsabbruch induzierende) Küchenkraut Polei-Minze – Nirvana wühlen in menschlichen Abgründen, dass es wehtut. Die Songs stammen alle von Kurt Cobain; lediglich Scentless Apprentice wird als Gemeinschaftswerk angegeben und maßgeblich von Dave Grohl beeinflusst, der das Riff und einige Drum-Parts für das Stück liefert. Marigold, der erste und einzige Song, den Grohl im Alleingang schreibt, schafft es zwar nicht auf das Album, wird aber als B-Seite für Heart-Shaped Box verwendet. Auch auf dem Foo Fighters-Livealbum Skin And Bones ist er zu hören. Das Cover gestaltet Cobain gemeinsam mit Robert Fisher, der schon das legendäre Nevermind-Artwork realisiert hat (alles dazu hier).
Mit Heart-Shaped Box (1993) und All Apologies/Rape Me (1993) flankieren zwei erfolgreiche Singles das Album. Letzteres zieht den Ärger zahlreicher Feministinnen auf sich, bis Cobain klarstellt, dass es sich um einen Anti-Vergewaltigungssong handelt. Hätte man auch so drauf kommen können. Überhaupt: Rape Me liefert Diskussionsstoff. Schon bei den MTV Music Awards 1992 lehnt der Musiksender die Aufführung des Songs vor einem größeren Publikum ab. Stattdessen soll die Band Smells Like Teen Spirit spielen, ein Stück, das Kurt Cobain selbst nicht mehr hören kann. MTV droht sogar damit, Amy Finnerty zu entlassen, eine enge Freundin des Frontmanns und Mitarbeiterin des Senders. Man einigt sich auf die damals aktuelle Single Lithium, doch Cobain lässt es sich nicht nehmen, den Auftritt mit den ersten Takten von Rape Me zu beginnen. Kurz bevor MTV zur Werbung schaltet, geht er wie besprochen in Lithium über, und die MTV-Verantwortlichen kommen mit einem ordentlichen Schreck davon. Die legendäre Performance endet mit Novoselić, der sich sein Instrument ins Gesicht schlägt (zu sehen hier – aua!), und ironischen Grüßen von Cobain und Grohl an Axl Rose.
Die Message von Nirvana, eingefangen in einem Pressefoto.
Legendär sind auch die Entstehungsgeschichten zu Cobains Songs. So gibt seine Witwe Courtney Love zu Protokoll, dass er Heart-Shaped Box innerhalb von fünf Minuten in einem Kleiderschrank geschrieben habe. Die Inspiration für die Nummer, die ursprünglich Heart-Shaped Coffin heißen soll, liefert eine herzförmige Schachtel, der Sänger von seiner Partnerin erhält. Love behauptet, der Text handele von ihrer Vagina. Für die Geduldigen hält In Utero einen Hidden Track namens Gallons Of Rubbing Alcohol Flow Through The Strip bereit, der etwa 20 Minuten nach All Apologies einsetzt. Sowas gibt’s heute gar nicht mehr. Der verborgene Song ist ein spontaner Jam, der im Januar 1993 in Rio de Janeiro entsteht.
Im Anschluss an die Albumveröffentlichung gehen Nirvana mit dem heutigen Foo Fighters-Mann Pat Smear an der zweiten Gitarre auf die Welttournee, in deren Rahmen auch das Livealbum MTV Unplugged in New York (1994) entsteht. Am 1. März 1994 spielen Nirvana in München ihr letztes Konzert. Die dritte In Utero-Single Pennyroyal Tea (1994) wird kurz nach Auslieferung an den Handel zurückgezogen, weil Kurt Cobain sich am 5. April 1994 das Leben nimmt. Nur wenige hundert Exemplare gelangen in den Verkauf und sind bis heute gefragte Sammlerstücke. In Utero setzt damit ein krachiges, schräges, selbstbewusstes Ausrufezeichen an das tragische Ende von Nirvana.
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Zeitsprung: Am 18.11.1993 nehmen Nirvana ihr legendäres „MTV Unplugged“ auf.
Popkultur
Zeitsprung: Am 20.9.1973 verschwindet die Leiche von Byrds-Gitarrist Gram Parsons.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 20.9.1973.
von Christof Leim
Die vielversprechende Karriere von Gram Parsons endet leider typisch für viele der zu wilden Musiker der Siebziger: Der Country Rock-Pionier und zeitweilige Byrds-Gitarrist stirbt im September 1973 mit nur 26 Jahren an einer Überdosis. Sein Leichnam soll nach Louisiana zu seiner Familie überführt werden, doch seine Kumpels haben da ganz andere Pläne – immerhin aus ehrenhaften Gründen…
Hört hier in Sweetheart Of The Rodeo rein, Parsons Album mit The Byrds:
Unter Eingeweihten genießt Gram Parsons einen hervorragenden Ruf: Als Gitarrist hat er seit Ende der Sechziger maßgeblich die Genres Country und Rock zusammengebracht. Einem größeren Publikum wird er wegen seinen kurzer Zeit bei den Byrds bekannt, deren Album Sweetheart Of The Rodeo (1968) er prägte. Nach einem ebenfalls kurzen Intermezzo bei den Flying Burrito Brothers startet er eine Solokarriere und hängt mit vielen hochkarätigen Freunden rum, etwa mit einem gewissen Keith Richards in dessen Villa im französischen Villa Nellcôte. Für sein Soloalbum GP entdeckt Parsons die Sängerin Emmylou Harris.
Gram Parsons auf dem Cover seines Soloalbums „GP“
Oft und gerne verbringt der Musiker seine Zeit im Joshua Tree National Park östlich von Los Angeles. Am 17. September 1973 begibt sich der Gitarrist mit ein paar Freunden wieder dorthin, um sich vor einer anstehenden Tour noch ein wenig zu erholen. Und selbstredend wird ordentlich gefeiert: Gram Parsons trinkt Alkohol in rauen Mengen und wirft Drogen ein, dass es nur so eine Art hat. (Später sagt sogar Keith Richards, dass sein Kumpel es hätte besser wissen müssen, was die Kombination von Opiaten und Schnaps angeht.)
Es kommt, wie es kommen muss: Der erst 26-Jährige erleidet nach einem Schuss Morphin eine Überdosis. Seine geschockten Freunde können ihn nicht wiederbeleben, kurz nach Mitternacht des 19. September wird Gram Parsons für tot erklärt.
Bis hierhin klingt das wie eine typische Live-fast-die-young-Geschichte des Rock’n’Roll, aber dann wird es bizarr: Schon vor seinem Tod hatte Parsons erklärt, dass seine Asche über die Felsformation Cap Rock im geliebten Joshua Tree Park verstreut werden soll. Allerdings plant seine Familie, ihn nach Hause, nach Louisiana zu bringen. Deswegen befindet sich der Sarg mit dem Leichnam am 20. September am Los Angeles Airport.
Von den Überführungsplänen halten Parsons Kumpels Phil Kaufman und Michael Martin nichts. Sie wollen dem Verstorbenen lieber seinen letzten Wunsch erfüllen, zumal zum privaten Familienbegräbnis in New Orleans kein einziger Wegbegleiter aus der Musikwelt eingeladen wurde. Die beiden verfolgen also noble Beweggründe für die folgende Aktion, doch vielleicht, ganz vielleicht schießen sie ein bisschen über das Ziel hinaus.
Kaufman und Martin fahren in einem Leichenwagen am Flughafen vor, erzählen dort einem Mitarbeiter ein Märchen von „geänderten Plänen“ und laden den Sarg ein. Die entsprechenden Papiere unterschreiben sie mit „Jeremy Nobody“. Auf dem Weg ins 150 Meilen entfernte Joshua Tree kaufen sie mehrere Liter Benzin und halten an einer Bar, um auf ihren Freund zu trinken. Am Ziel angekommen, schleppen sie ihre Fracht bis Cap Rock, angeblich sogar im Mondschein (wenn schon, denn schon). Dort öffnen sie den Sarg, in dem der nackte Leichnam von Gram Parsons liegt, schütten das Benzin darüber und werfen ein brennendes Streichholz hinein. Den resultierenden Feuerball kann man über Kilometer sehen.
Das erregt die Aufmerksamkeit der Polizei, die die beiden Kollegen jedoch nicht zu fassen bekommt. Erst zwei Tage später werden sie gestellt. Allerdings gibt es verblüffenderweise kein Gesetz, dass den Diebstahl eines Leichnams verbietet. Kaufman und Martin erhalten eine kurze Bewährungsstrafe und müssen eine Stange Geld zahlen für die Entwendung des Sarges. Von ihrem Freund bleiben nur 16 Kilogramm an verbrannten Überresten zurück, die schlussendlich in New Orleans ihre letzte Ruhe finden.
Kaufman und Martin verteidigen sich damit, nur den letzten Wunsch Parsons ausgeführt zu haben. Das ist ehrenvoll. Und eigentlich bietet diese Episode ein aufsehenerregenderes Ende für die Lebensgeschichte des Musikers als eine einsame Überdosis in einem Hotelzimmer.
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Zeitsprung: Am 10.11.1969 erscheint „Ballad Of Easy Rider“ der Byrds.
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Zeitsprung: Am 18.9.1978 veröffentlichen die Kiss-Musiker am gleichen Tag Soloalben.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 18.9.1978.
von Christof Leim
Wenn schon dicke Hose, dann richtig: Ende der Siebziger läuft es bei Kiss. Die Schminkemonster sind vor allem in den USA zu einem Phänomen geworden, das wirklich jeder kennt. Insbesondere der legendäre Konzertmitschnitt Alive! von 1975 hat die Truppe zu Stars gemacht. In den fünf Jahren nach der ersten Probe der Urbesetzung sind sechs Studioalben und zwei Liveplatten erschienen, dank üppiger Verkäufe, ausverkaufter Hallen und eines lukrativen Merch-Imperiums inklusive Kiss-Comics haben die vier New Yorker Millionen auf dem Konto. Und erst einer von ihnen ist über 30. Allerdings lässt die Stimmung in der Band zu wünschen übrig…
Hört hier in die vier Kiss-Soloalben rein:
Kiss mögen 1978 auf ihrem kommerziellen Höhepunkt angekommen sein, doch Paul Stanley, Gene Simmons, Ace Frehley und Peter Criss streiten sich über die kreative Ausrichtung, Kontrolle und Drogenkonsum, und vermutlich haben sie nach etlichen Jahren ununterbrochenen Arbeitens einfach die Nase voll voneinander. Um die Spannungen zu entschärfen, fassen die Kollegen zusammen mit ihrem Manager Bill Aucoin den Entschluss, dass jeder der Musiker völlig frei und unabhängig von den anderen ein Soloalben veröffentlicht. So lautet zumindest die am häufigsten kommunizierte und durchaus einleuchtende Begründung. Tatsächlich sieht manchen Quellen zufolge der Plattenvertrag von 1976 solche Einzelveröffentlichungen explizit vor.
Gene, Ace, Paul und Peter können so ihre musikalischen Vorlieben ausleben und komponieren, was immer sie wollen. Die Ergebnisse fallen durchaus unterschiedlich aus: Paul Stanleys Solowerk klingt am meisten nach den Kiss der Siebziger, vielleicht sogar noch ein bisschen dramatischer. Gene Simmons lässt die Beatles, Siebziger-Disco-Funk und Disney-Soundtracks durchklingen. Auf seiner Scheibe, der „buntesten“ der vier, spielen Joe Perry von Aerosmith, Donna Summer und seine Freundin Cher mit. Bei den Background-Vocals singt auch eine unbekannte Schauspielerin namens Katey Sagal, die später als Peggy Bundy aus Eine schrecklich nette Familie berühmt werden sollte.
Ace Frehley haut ein kräftiges Hard Rock-Scheibchen raus und kann sogar entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten als Sänger punkten. Mit seinem Cover der Siebziger-Disco-Nummer New York Groove, im Original von der Band Hello, schafft er als einziger einen Single-Hit. Drummer Peter Criss hingegen überrascht mit vergleichsweise entspannten Nummern zwischen Soul und frühem Rock’n’Roll.
Natürlich hauen Kiss für die ganze Aktion mit beiden Händen auf die Sahne: Alle vier Soloalben erscheinen unter großem Getöse am gleichen Tag, dem 18. September 1978. Das hat es bis dahin nicht gegeben, und nachher auch nicht. Jede Platte ziert ein ähnliches Cover, nämlich ein Gemälde des jeweiligen Musikers im vollen Make-up.
Das Label fährt dazu eine megafette Werbekampagne für einen siebenstelligen Dollar-Betrag und stellt von jeder Platte über eine Million Exemplare in die Läden. Das heißt, die Alben erhalten quasi von Tag eins an eine Platinauszeichnung. Ein voller Erfolg? Nicht ganz.
Denn „Platin ausliefern“ und „Platin verkaufen“ sind zwei verschiedene Dinge. Da der Markt ohnehin von Kiss-Produkten überflutet ist, kommen viele der Soloalben nach einer Weile wieder zurück zum Label oder landen preisreduziert auf Wühltischen. Insgesamt sollen sich die vier Scheiben zusammen so gut verkauft haben wie das letzte Studiowerk Love Gun von 1977. Das lief allerdings beachtlich gut, und in Sachen PR und öffentlichkeitswirksamer Kackehauerei liegen Kiss mit der Aktion natürlich weit vorne. Und schlecht sind die Platten tatsächlich nicht…
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