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Popkultur

Erykah Badu: Mutter des Neo-Souls und mystische Geburtshelferin einer neuen Generation

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Erykah Badu
Foto: VALERIE MACON/AFP via Getty Images

Erykah Badu ist keine Person – sie ist eine Erscheinung. Der Mitbegründerin des Neo-Souls gelingt es schon seit Beginn ihrer Karriere, auf transzendentale Weise über jeder Kritik zu schweben, egal, ob es dabei um ihre Musik, ihren Look oder ihre Weltsicht geht. Ihre kompromisslose Liebe zur Kunst hat sie in den letzten Jahrzehnten zur Geburtshelferin vieler Nachwuchskünstlerinnen wie Solange Knowles, SZA oder Ari Lennox werden lassen, die sich von Badus unvergleichlichem, vielschichtigen Gesang inspirieren lassen.

von Sina Buchwitz

Hört hier die größten Hits von Erykah Badu:

Rau. Mühelos. Verspielt. Es gibt viele Adjektive, die Erykah Badus Stimme und ihr Auftreten gleichermaßen beschreiben. Als die Texanerin 1997 mit Baduizm ihr Debüt gibt, erreicht es in weniger als vier Wochen Platinstatus: Die Musikwelt ist von ihrem funkigen Soul und ihrem exzentrischen Gesang verzaubert. In ihren Songs erzählt sie zu skizzenhaften Melodien wortreiche Geschichten in einer Geschwindigkeit, die bis dahin vor allem Rappern vorbehalten war.

Himmelhohe Harmonien und beißender Sarkasmus

Diese Storys, die auf dem ersten Album teils noch wirr erscheinen, sprechen auf dem zweiten Album Mama’s Gun (2000) eine deutlichere, wenn auch nicht weniger dicht gepackte Sprache. Es sind Titel wie der 10-minütige Fan-Favorit Green Eyes, die Badus Kombination aus cleveren Lyrics und unverkennbarem Gesangsstil zu ihrem Vermächtnis werden lassen.

Sanft verpackt die Sängerin hier ihre Lyrics in himmelhohe Harmonien, die sie um eine jazzige Produktion wickelt. Wer auf den Text achtet, wird jedoch schnell dem beißenden Sarkasmus gewahr, der Badus eigentliche Eifersucht über die neue Liebschaft ihres Ex-Partners freilegt. In den kommenden Jahren wird ihr emotionaler, genuiner Gesangsstil häufig mit Billie Holiday verglichen und unzählige Male adaptiert.

Are you afraid of change?

Auch, als der R&B Anfang der 2000er einen heftigen, kommerziellen Boom erlebt, lässt sich die „Mother of Neo-Soul“ nicht beirren. Ihr drittes Album Worldwide Underground, auf dessen Cover der Satz „Neo-Soul is dead, Are you afraid of change“ prangt, beherbergt Titel wie das 10-minütige Kernstück I Want You. Kritiker*innen loben sie für die „unkommerziellste R&B-Veröffentlichung“ des Jahres.

In (bisher) 24 Jahren Karriere veröffentlicht Erykah Badu nur sieben Alben. Dennoch gelingt es ihr, ein ganzes Genre zu definieren und Künstler*innen bis heute zu beeinflussen. Diese Autorität rührt nicht zuletzt aus ihrem wertfreien, aber messerscharfen Blick auf die Veränderungen in der Musikwelt. So staunte zum Beispiel der junge Produzent Zach Witness nicht schlecht, als Badu 2015 nach einem Gespräch über Instagram plötzlich für eine spontane Zusammenarbeit auf seiner Matte stand. Heraus kam ein Mixtape namens But You Can’t Use My Phone, das Drakes Mammut-Erfolg Hotline Bling in insgesamt elf Songs auf kreative Weise wiederverwertet. Zach bezeichnet die Künstlerin seitdem als zweite Mutter.

Badu, die Geburtshelferin

Mutterschaft spielt in Badus Leben und künstlerischem Schaffen von Beginn an eine große Rolle. So inspiriert sie nicht nur junge Musiker*innen zu einer Gesangskarriere, sondern ist auch selbst Mutter von drei Kindern. Ihr Sohn Seven, der aus ihrer Beziehung mit dem Künstler André 3000 stammt, wurde im Dezember 1997, zeitgleich mit Badus Debütalbum, geboren. Der Spagat zwischen Familie und Karriere scheint ihr jedoch nie schwer gefallen zu sein: „Aufgewachsen bin ich unter Müttern, unter starken Frauen. Ich komme aus einer langen matriarchalen Traditionslinie“, sagt sie in einem Interview.

Diese weibliche Energie gibt sie seit geraumer Zeit auch an andere Frauen weiter. Als Doula begleitet sie werdende Mütter bei der Geburt; bereits mehr als 40 Frauen hat sie so emotional unterstützen können. „Es ist einfach, eine Schwangere zu finden, die mich braucht. Es passiert einfach. Ich habe Geburten zuhause, in Krankenhäusern und im Wald begleitet. Es kommt ganz auf die Person und ihre Geschichte an. Es ist so, wie Bruce Lee sagt: Sei Wasser und ohne Form“, erklärt Badu 2018 in einem Interview mit Vulture.

Badu, das mystische Einhorn

Es ist der Hang zum Mysteriösen, das Ungreifbare, das einige ihrer Anhänger*innen dazu verführt, Badu zur mystischen Figur zu stilisieren. Ihre Präsenz habe eine magisch-verwirrende Wirkung auf Männer, erzählt man sich. Badu füllt diese Rolle nur zu gern aus: Auf Konzerten huldigt sie stets den Kindern Afrikas, treibt mit einem Bündel Ähren die schlechten Energien aus und schmückt ihr Heim mit unzähligen Heilkristallen und Buddha-Statuen.

Im Interview erklärt sie mit einem Augenzwinkern: „Manche Leute reden über mich, als wäre ich eine Sexgöttin, ein magisches Geschöpf, ein Einhorn. Das ist zum Teil das, was Menschen von mir wahrnehmen. Ich empfinde das nicht als Abwertung. Selbst wenn es da mal eine sexistische Komponente gibt – ich finde das alles höchst amüsant. Es heißt, dass man machtvoll ist. Auf liebevolle Weise.“

Badu, die Kompromisslose

Diese mütterliche, radikal bedingungslose Liebe wurde der Sängerin in der Vergangenheit schon mehrfach zum medialen Verhängnis. Ihr offen bekundetes Mitgefühl für Figuren wie R. Kelly oder sogar Hitler stößt trotz Badus Erklärungsversuchen auf wenig Verständnis: „Ich bin eine Beobachterin, die gute und schlechte Dinge erkennt. Wenn man dann etwas Gutes über jemanden sagt, denken die Leute, man hätte sich für eine Seite entschieden. Ich entscheide mich aber für keine Seite. Ich sehe alle Seiten gleichzeitig.“

Der aktuell vielverwendete Begriff der „wokeness“, der ein erhöhtes Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände und Rassismus bezeichnen soll, wurde durch Badus Song Master Teacher erst popularisiert, bevor er ein Eigenleben entwickelte. Für die Sängerin bedeutet er „einfach, auf alles zu achten, sich nicht auf die eigene Sichtweise oder die eines anderen zu verlassen, zu beobachten, sich weiterzuentwickeln und Dinge zu eliminieren, die sich nicht mehr weiterentwickeln. Es bedeutet nicht, andere zu verurteilen.“ Eben ein (zu) milder Blick auf die Dinge, wie ihn nur die kompromisslose Liebe einer Mutter zustande bringen kann.

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Popkultur

Zeitsprung: Am 30.9.1978 veröffentlicht Gary Moore „Back On The Streets“.

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Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 30.9.1978.

von Christof Leim und Tom Küppers

Als Gary Moore am 30. September 1978 Back On The Streets veröffentlicht, hat er schon einige Bands hinter sich. Die Platte erscheint unter eigenen Namen, doch er kann auf helfende Freunde zählen. Insbesondere die Herren Lynott und Downey, zwei alte Bekannte aus Dublin, mischen mit.


Hört hier in Back On The Streets rein:

Klickt auf „Listen“ für das ganze Album.

Dass bei Gary Moore etwas mit Musik gehen würde, zeichnet sich schon früh ab: Mit zehn bekommt er seine erste Gitarre in die Finger, schon im Alter von 16 Jahren wird er 1968 von der Dubliner Band Skid Row rekrutiert (nicht verwandt oder verschwägert mit den gleichnamigen Hardrockern aus New Jersey). Nach dem Ende dieser Truppe gründet er die kurzlebige Gary Moore Band und veröffentlicht 1973 das Quasi-Soloalbum Grinding Stone. 1974 hilft er kurzfristig auf der Bühne und im Studio bei Thin Lizzy aus und betätigt sich parallel bei den Jazzrockern Colosseum II. Als Lizzy Anfang 1977 vor einer gemeinsamen US-Tour mit Queen ohne Gitarrist dastehen, springt Gary wieder ein.



Insbesondere mit Lizzy-Frontmann Phil Lynott versteht sich Moore auf künstlerischer und persönlicher Ebene hervorragend. Doch das Angebot fest bei der seinerzeit populärsten irischen Band einzusteigen, lehnt der Gitarrist noch ab. Zum einen will er seine Colosseum II-Kollegen trotz kommerziellen Misserfolgs nicht im Regen stehen lassen, zum anderen steckt er zu diesem Zeitpunkt schon in den Vorbereitungen für sein erstes „richtiges“ Soloalbum.



Back On The Streets wird im Frühjahr 1978 unter der Aufsicht des legendären Hardrock-Produzenten Chris Tsangarides eingespielt. Neben Studiogrößen wie dem späteren Toto-Schlagzeuger Simon Phillips gastiert mit Phil Lynott und Trommler Brian Downey die Rhythmussektion von Thin Lizzy gleich auf mehreren Stücken. Und auch kompositorisch hinterlässt Lynott deutliche Spuren: Abgesehen von einer gelungenen Neueinspielung des Lizzy-Hits Don’t Believe A Word in balladesker Form profitiert Moore zwei weitere Male von den schöpferischen Fähigkeiten seines Freundes.



Fanatical Fascists zeigt sich von der wuchtigen Simplizität des aufkeimenden UK-Punk inspiriert, für den Lynott große Sympathien hegt. Für die größere Überraschung sorgt Parisienne Walkways: Der gemeinsam von Lynott und Moore geschriebene Schmachtfetzen entpuppt sich als Hit, der im vereinigten Königreich bis auf Position acht der Single-Charts vordringt. Bis heute fesselt die Nummer durch ihre wunderbaren Gitarrenlinien, 2014 trägt sie den japanischen Eiskunstläufer Yuzuru Hanyu gar zum Punkte-Weltrekord im Kurzprogramm. Und selbstverständlich profitiert auch das am 30. September 1978 veröffentlichte Back On The Streets-Album in Sachen Verkaufszahlen von diesem kommerziellen Überraschungserfolg.

Eine weitere denkwürdige (weil einzigartige) Performance gibt es im Januar 1979 im Rahmen der BBC-Sendung The Old Grey Whistle Test zu bestaunen. Für diesen Anlass rekrutiert Moore mit Lynott, Lizzy-Klampfer Scott Gorham, Keyboarder Don Airey und Trommel-Gott Cozy Powell eine All-Star-Truppe ersten Kalibers. Die Interpretationen des Titelsongs von Back On The Street und Don’t Believe A Word sind absolut mitreißend, bei letzterem lässt sich Gary selbst von einer gerissenen Saite nicht aufhalten.



Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Gitarrist allerdings bereits wieder mit Thin Lizzy im Studio, um als festes Bandmitglied deren Album Black Rose: A Rock Legend (1979) einzuspielen. Jedoch verlässt er die von Drogenproblemen geplagte Band im Sommer während einer laufenden US-Tournee wieder. Von dem Moment an widmet er sich fast ausschließlich seinen musikalischen Alleingängen, mit denen er in den kommenden Jahrzehnten so wohl im Hard Rock als auch im Blues epochale Gitarrengeschichte schreiben wird.

Zeitsprung: Am 30.5.1980 landet Gary Moores G-Force auf dem Rockplaneten.

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Popkultur

„Monsters Of California“: Alles über den UFO-Film von Blink-182-Sänger Tom DeLonge

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Tom DeLonge HEADER
Foto: Christopher Polk/Getty Images

Blink-182-Fans wissen: Frontmann Tom DeLonge hat nicht nur ein Faible für Rock, sondern auch für Roswell. Schon seit vielen Jahren interessiert er sich für UFOs, außerirdische Lebensformen und alles, was damit zu tun hat. Mit Monsters Of California bringt er bald seinen ersten Film raus. Und darin geht es natürlich um …

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch Nine von Blink-182 anhören:

… genau. In Monsters Of California hängt der Teenager Dallas Edwards am liebsten mit seinen verpeilten Freund*innen herum. Eines Tages findet die südkalifornische Clique zufällig einige Unterlagen von Dallas’ Vater, die darauf schließen lassen, dass er beruflich mit mysteriösen und paranormalen Ereignissen zu tun hat. Die Jugendlichen verknüpfen ihre Erkenntnisse miteinander, stellen Theorien auf — und werden auf einmal von uniformierten Männern mit Maschinengewehren umstellt. Spätestens jetzt wissen sie, dass etwas Großem auf der Spur sind. Doch sie haben natürlich noch keine Ahnung, wie groß ihre Entdeckung wirklich ist …

Tom DeLonge: Pop-Punk-Ikone und UFO-Fan

Die meisten kennen Tom DeLonge als Sänger und Gitarrist der erfolgreichen Pop-Punks Blink-182. Doch der Kalifornier ist auch ein ausgewiesener Alien-Fan, der sich in seiner Freizeit ausgiebig mit UFO-Sichtungen, Area-51-Theorien, außerirdischen Lebensformen und paranormalen Aktivitäten beschäftigt. (Mit dem Song Aliens Exist vom Blink-182-Album Enema Of The State brachte er DeLonge beiden Leidenschaften 1999 unter einen Hut — und genau diese Nummer ist natürlich auch im Trailer von Monsters Of California zu hören.) Immer wieder hinterfragt und forscht er im Namen der Wissenschaft nach Aliens und sucht Erklärungen für diverse Verschwörungstheorien. Schräg, oder?

DeLonges Engagement geht so weit, dass er am 18. Februar 2017 zum Beispiel den „UFO Researcher of the Year Award“ von OpenMindTV verliehen bekam. 2015 erzählte er in einem Interview von einer mutmaßlichen Begegnung mit Außerirdischen — während eines Camping-Trips nahe der sagenumwobenen Area 51. „Mein ganzer Körper hat sich angefühlt, als sei er statisch aufgeladen gewesen“, versicherte der Sänger. Auch Freunde von ihm könnten über Begegnungen mit Aliens berichten. Außerdem verfüge er über Regierungsquellen und auch sein Telefon sei aufgrund seiner Forschungen schon abgehört worden. Wenn er meint …

Monsters Of California: Wann startet der erste Film von Tom DeLonge?

In den USA läuft Monsters Of California am 6. Oktober 2023 an, doch wann der Streifen in Deutschland erscheinen soll, ist bisher nicht klar. So oder so: Der Trailer verspricht mindestens einen unterhaltsamen Kinobesuch — nicht nur für Blink-182-Fans.

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blink-182: Alle Studioalben im Ranking

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Popkultur

Zeitsprung: Am 29.9.1986 trumpfen Iron Maiden erneut auf mit „Somewhere In Time“.

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Foto: Cover

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 29.9.1986.

von Christof Leim

In den Achtzigern stürmen Iron Maiden von einem Triumph zum nächsten. Dabei reiben sie sich fast bis zur Überlastung auf, halten aber konsequent Kurs und Niveau und entdecken neue Sounds. Am 29. September 1986 erscheint Somewhere In Time – und Eddie wird zum Cyborg.

Hier könnt ihr das Album hören:

Die Geschichte von Somewhere In Time beginnt mit völliger Erschöpfung. Kann nach einer Welteroberung schon mal passieren: 1984 hatten die fünf Briten auf der World Slavery Tour elf Monate lang in 28 Ländern auf vier Kontinenten gespielt – und zwar satte 193 Shows vor geschätzten 3,5 Millionen Fans. Der Preis: Bruce Dickinson (Gesang), Steve Harris (Bass), Dave Murray (Gitarre), Adrian Smith (Gitarre) und Nicko McBrain (Schlagzeug) sind fix und fertig. Deshalb fordern die Musiker sechs Monate Pause. Daraus werden zwar nur vier, doch zum allerersten Mal seit Jahren steht die Maiden-Maschine ein Weilchen still. 

Neues Spielzeug

Die Konsequenzen hört man: Harris, Smith und Murray experimentieren mit Gitarrensynthesizern, mit denen sich Keyboardsounds über die Gitarre und den Bass erzeugen lassen. Dickinson indes zweifelt an seiner Motivation und will musikalisch in eine andere Richtung. Er komponiert vor allem akustisches (also stromloses, ruhiges) Material, das von den Kollegen und dem Produzenten aber abgelehnt wird. Der Sänger zeigt sich verletzt, freut sich aber darüber, für eine Weile „nur“  singen zu müssen. Für ihn springt Adrian Smith in die Bresche und liefert im Alleingang mehrere fertige Tracks, die auf einhellige Begeisterung stoßen und Somewhere In Time maßgeblich prägen sollten.

Futuristische Fahrzeuge, klassische Patronengurte: Iron Maiden auf dem Pressefoto für „Somewhere In Time“ – Foto: Aaron Rapoport/Promo

Erst im Januar 1986 geht es zurück ins Studio, genauer: in mehrere Studios. Drums und Bass nehmen Iron Maiden in den Compass Point Studios auf den Bahamas auf, in dem auch AC/DC Back In Black eingespielt hatten. Gitarren und Gesänge bringen die Musiker in den Wisseloord Studios im niederländischen Hilversum auf Band, abgemischt wird schließlich in den Electric Lady Studios in New York. Damit wird Somewhere In Time nicht nur zum teuersten Album der bisherigen Bandkarriere, sondern auch zum technisch ambitioniertesten. Wie für die Beständigkeit in der Maiden-Welt der Achtziger typisch, ändert sich an der sonstigen Formel wenig. Die Produktion übernimmt ein weiteres Mal Stammproduzent Martin Birch.

Fünf Minuten mindestens

Somewhere In Time erscheint am 29. September 1986 und steigt in Großbritannien auf Platz drei ein. In den USA schafft die Band mit Platz elf ihre bis dato beste Platzierung. Auf dem Cover prangt natürlich das unvergleichliche Iron Maiden-Monster Eddie in einem aufwändigen Science-Fiction-Gemälde. Schon im Intro der ersten Nummer, dem vom Film Blade Runner inspirierten Quasi-Titelstück Caught Somewhere In Time aus der Feder von Steve Harris, hören die Fans die besagten Gitarren-Synthesizer. Doch am grundsätzlichen Stil von Iron Maiden hat sich nichts geändert. Es galoppiert der Bass, wie es sich gehört, die Gitarren riffen, und Dickinson lässt seine Sirenenstimme aufheulen. Wo Iron Maiden drauf steht, ist Heavy Metal drin, vermutlich bis ans Ende aller Tage. Allerdings klingt Somewhere In Time insgesamt weniger rau, sondern bei gleichem Energieniveau erwachsener, vielschichtiger und, wenn mal so will, futuristischer.

Von den acht Songs fällt keiner kürzer aus als fünf Minuten aus, das Gros stammt von Steve Harris, drei Beiträge kommen von Adrian Smith. Dazu gehört die erste Single Wasted Years, in der Maiden so eingängig klingen wie es nur geht, ohne ihren eigenen Sound zu verlieren. Der Text erzählt von Heimatlosigkeit und Entfremdung – ein klarer Kommentar zur endlosen World Slavery Tour. Als Wasted Years drei Wochen vor dem Album als Single ausgekoppelt wird, sieht man auf dem Cover das Cockpit einer Zeitmaschine, in deren Armaturenbrett sich der Kopf von Eddie spiegelt. Der Grund: Sein neues Aussehen sollte nicht vor Erscheinen des Albums verraten werden, schließlich hat das Maskottchen mittlerweile Kultstatus erreicht.

Auf der Vorabsingle durfte Eddie sich noch nicht ganz zeigen…

Filme und Bücher als Inspiration

Das folgende Sea Of Madness, ein dramatischer Uptempo-Banger, stammt ebenfalls von Smith, setzt aber keine besonderen Akzente. Für Heaven Can Wait, einen Harris-Song über eine Nahtoderfahrung, rekrutieren Maiden die Gäste einer Kneipe, um die „Oh-Oh“ -Fußballchöre im Mittelteil einsingen zu lassen.

Das ebenso harte wie vertrackte The Loneliness Of The Long Distance Runner basiert nicht nur im Titel auf einer Kurzgeschichte des britischen Autoren Alan Sillitoe. Stranger In A Strange Land hingegen geht direkt ins Ohr und wird deshalb als zweite Single ausgekoppelt. Inspiriert wurde Adrian Smith hierfür durch ein Gespräch mit einem Arktisforscher, der einen gefrorenen Körper im Eis gefunden hatte. Vom gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Robert A. Heinlein hingegen leiht sich Smith lediglich den Titel. 

Egal, wo und wann: Eddie ist immer cool

Die Credits für Deja-Vu teilt sich Harris mit Dave Murray, der im Schnitt für jedes zweite Album einen Song beisteuert. Alexander The Great stammt vom Bassisten alleine und reiht sich mit einer Spielzeit von achteinhalb Minuten in den Reigen der großen Maiden-Epen ein, diesmal mit explizit historischem Bezug.

Ein Cover wie ein Bildband

Ein sicherer Hit ist zweifelsfrei das Artwork der Platte: Hier steht Eddie als Weltraum-Terminator mit Cyborg-Auge und Laserpistolen in einer futuristischen Stadt, die vor Details nur so überquillt. Der Künstler Derek Riggs, der Künstler hinter diesem Werk, erinnert sich an den Arbeitsauftrag: „Wir haben uns eigens in Amsterdam getroffen und drei Tage lang über das Cover gesprochen. Sie wollten eine Kulisse wie in Blade Runner, eine Science-Fiction-Stadt.“ Um das zu erreichen, erschafft Riggs eine Skyline mit Werbeslogans und Firmennamen, die er größtenteils erfindet, um Copyright-Probleme zu vermeiden. Dabei dreht er richtig auf und auch ein wenig durch. 

Immense Detailfülle und jede Menge versteckte Späßchen: Das Artwork aus der Feder von Derek Riggs

Wer genau hinguckt, kann unter anderem erkennen: den Sensenmann und die Katze mit Heiligenschein von Live After Death, den abstürzenden Himmelsstürmer aus Flight Of Icarus, ein Flugzeug über der „Aces High Bar“ , das „Ancient Mariner Seafood Restaurant“, ein Straßenschild zur „Acacia Avenue“ , ein Konzertposter mit dem Ur-Eddie, die Dame aus Charlotte The Harlot, die Tardis aus Doctor Who, Batman, eine Uhr, die zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt, das „Phantom Opera House“ , den Ruskin Arms Pub (eine der ersten Spielstätten der Band) sowie die exakt gleiche Straßenlaterne wie auf dem Cover des Debüts. Irgendwo steht sogar auf Japanisch „Pickelcreme“ , auf Russisch „Joghurt“  und in Spiegelschrift „Dies ist ein sehr langweiliges Gemälde“. Drei Monate sitzt Derek Riggs an dem Werk, mitgezählt eine mehrwöchige Zwangspause, weil er irgendwann Halluzinationen bekommt und aussetzen muss. Kurzum: Das Cover ist Wahnsinn. Und absolut großartig.

…und die Rückseite ist genauso bombastisch.

Auf die Straße. Natürlich.

Natürlich geht es für die fünf Musiker umgehend auf Konzertreise: Der Somewhere On Tour getaufte Trek zieht von September 1986 bis Mai 1987 um die Welt, mit dabei ein überdimensionaler Cyborg-Eddie, der über die Bühne spaziert, zwei riesige Podeste rechts und links in Form von Monsterkrallen, eine aufwändige, sehr helle Lightshow sowie ein pulsierendes Leuchtherz als Teil von Bruces Bühnenoutfit. 

Somewhere On Tour: Dave Murray schreddert, Eddie guckt kritisch – Foto: Ebet Roberts/Redferns/Getty Images

So stressig und geradezu selbstmörderisch wie zwei Jahre zuvor auf der World Slavery Tour sollte es jedoch nicht mehr werden, auch die Zeiten, in denen Iron Maiden jedes Jahr ein Album und eine Welttour hinlegen, sind mit Somewhere In Time vorbei. Doch die Metal-Weltherrschaft der Achtziger haben Iron Maiden da längst inne.

Zeitsprung: Am 28.4.1988 starten Iron Maiden ihre Welttournee in einem Kölner Club.

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