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Popkultur

Review: „The Tipping Point“ und die schmerzhafte Erlösung von Tears For Fears

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Tears For Fears
Foto: Frank Ockenfels

Sieben Jahre versinken Tears For Fears in The Tipping Point, ihrem ersten Album seit 17 Jahren. Während dieser Zeit zerbrechen die Achtziger-Ikonen fast an der Aufgabenstellung und sich selbst, können sich aber am Ende freischwimmen und ein großes, reifes Pop-Album vorlegen. Die Wunden, die dürften allerdings bleiben.

von Björn Springorum

Hier könnt ihr The Tipping Point hören:

Es ist das Album, das es gar nicht geben dürfte. Zumindest aus Sicht des alten Managements von Tears For Fears, jenem legendären Multi-Platin-Duo der Achtziger. Doch es gibt The Tipping Point dennoch. Was Tears For Fears mit ihrer Siebten geschaffen haben, ist ein großes Pop-Album. Kein selbstreferenzielles Alterswerk, kein beschämender Versuch, mit angesagten Produzenten die Uhren um 40 Jahre zurückzudrehen. Die Reife, die dieses Album durchzieht, ist ebenso elegant wie ästhetisch ansprechend, die makellos arrangierten, funkelnden Songs sind allesamt Beweise für das große Talent dieser Band.

Drama im griechischen Stil

Dazu wäre es fast nicht gekommen: Ihr Management drängt ihnen einige der derzeit angesagtesten Songwriter auf, will sie mit aller Macht an den Haaren in die Neuzeit zerren. Weiß der Geier, weshalb. Die Band macht widerwillig mit, leidet im ganz großen griechischen Drama-Stil, zerbricht fast daran, wechselt zu einem neuen Management und wagt den Neustart. Mit dabei: Vertraute Figuren wie Charlton Pettus sowie die Produzenten und Songwriter Sacha Skarbek und Florian Reutter.

Ein Glücksfall: Das hier ist immer noch dieses Duo aus Bath, das hier sind immer noch Roland Orzabal and Curt Smith, die den Achtzigern mit Shout, Mad World, Head Over Heels oder Everybody Rules The World vier ihrer definierenden Momente spendiert haben. Wie auch immer die Engländer die letzten 17 musiklosen Jahre verbracht haben mögen: Sie haben es nicht verlernt, Songs mit großen Gesten, umschmeichelnden Arrangements und bombastischen Melodiebögen zu schreiben. Und sie haben es sich zum Glück nicht ausreden lassen.

Drei Platten in 28 Jahren

Es war nicht das erste Mal, dass das Duo in arger Bedrängnis war: Zum Ende der Achtziger werden auch Orzabal und Smith von ihrem ausschweifenden Lebensstil eingeholt und gehen erst mal getrennte Wege. Die Trennung ist nicht von Dauer, seit rund 20 Jahren sind die beiden wieder zusammen. The Tipping Point ist zwar erst das zweite Album seit Raoul And The Kings Of Spain (1995); das scheinen aber die Vorteile eines Trademark-Sounds zu sein.

Mit Ausnahme des allzu seichten, aber immerhin lyrisch grandiosen Boyband-Szenarios Break The Man bietet The Tipping Point beste britische Pop-Unterhaltung im Namen ihrer Majestät, manchmal elektronisch stampfend und fordernd (My Demons), manchmal durchzogen von feinster Singer/Songwriter-Melancholie (No Small Thing), oft von funkelnder Intensität und flirrender Schönheit wie im umwerfenden Titeltrack oder Long, Long, Long Time, locker ihre beiden besten Songs seit den Achtzigern.

Auch textlich in der Gegenwart angekommen

Musik und Text kommen, soweit keine Überraschung, überwiegend von Orzabal, der in einigen Texten den Tod seiner Frau 2017 verarbeitet. Dazu gibt es Reflexionen über die Übel des Patriarchats, Momentaufnahmen aus einer irrsinnigen Welt und großangelegte Gefühlsstudien. Auch textlich, so scheint es, sind Tears For Fears endgültig in der Gegenwart angekommen. Als modern möchte man The Tipping Point dann aber bitte auch nicht verstanden wissen: „Wir sind echt mies darin, moderne Platten zu schreiben“, so Curt Smith.

Wir können nur hoffen, dass das auch die Managements und Labels dieser Welt endlich verstanden haben. Sieben Jahre haben Tears For Fears insgesamt in dieses Album gesteckt. Es hat sich gelohnt, das auf jeden Fall. Fragt sich nur, ob die beiden nach dieser beschwerlichen Genesis jemals wieder ein Studio von innen sehen wollen.

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