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Popkultur

„The Downward Spiral“ von Nine Inch Nails wird 30: Protokoll eines Zusammenbruchs

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Nine Inch Nails
Foto: Mick Hutson/Redferns/Getty Images

Die zweite Platte der Nine Inch Nails wird Trent Reznor fast zum Verhängnis: Mit schroffem Industrial-Lärm erschafft er eines der wichtigsten Werke der Neunziger – und erleidet um ein Haar dasselbe Schicksal wie Kurt Cobain.

von Björn Springorum

 

Hier könnt ihr The Downward Spiral hören:

Auch 30 Jahre nach Erscheinen ist The Downward Spiral bisweilen nur sehr schwer zu ertragen. Die Vertonung eines Zusammenbruchs, die Reise durch eine labyrinthine, psychotische, brutale Abwärtsspirale bis zum unausweichlichen Ende macht Trent Reznor 1994 zum Antihelden des Pop und zur Industrial-Ikone. Vor allem aber beeinflusst die zweite Platte von Nine Inch Nails die Musikwelt der Neunziger, wie es sonst vielleicht nur Nevermind getan hat. Wie konnte das passieren?

Wie Prince, nur härter

1994 ist Nine Inch Nails bereits sechs Jahre alt. Trent Reznor gründet das Projekt 1988, als er in den Right Track Studios in Cleveland arbeitet. Damals ist er 23. Wenn niemand aufnimmt, darf er das Studio für seinen eigenen Kram nutzen. Und weil Reznor schon damals eher der Sonderling ist, der keine geeigneten Mitstreiter*innen für seine krassen musikalischen Visionen findet, macht er es eben wie Prince und kümmert sich selbst um alle Instrumente. 1989 erscheint das Debüt Pretty Hate Machine und zeigt Nine Inch Nails eher noch in der Nähe von Elektro-Rock oder dem Synth-Sound von Depeche Mode.

Das Haus der Manson-Morde

Die Videos laufen auf MTV, Reznor tourt bald schon um die Welt, zerstört Equipment auf der Bühne, schreit, wälzt sich, verletzt sich selbst. Beim Lollapalooza 1991 lieben sie ihn dafür, als Opener für Guns N’Roses in Europa hassen sie ihn. Er polarisiert, genau das will er. Und darauf baut er auf: Erst veröffentlicht er die eine oder andere EP, dann kauft der das infame Haus mit der Nummer 10050 auf dem Cielo Drive in Los Angeles – das Tate House, in dem Sharon Tate 1969 von Mitgliedern der Manson-Familie ermordet wurde. Eine kontroverse Entscheidung, die Reznor gegenüber dem Rolling Stone mit seinem „Interesse an der amerikanischen Folklore“ begründet. Eine dunkle Energie bewohnt dieses Haus auch Jahrzehnte nach den Morden, ein Dämon, der auch von Reznor Besitz ergreifen wird.

Vor allem aber wird Trent Reznor an diesem morbiden Ort zu einem ebenso morbiden Album inspiriert. Er brütet über einem Album, das den bisherigen Weg verlassen, Neuland werden soll. Dafür schwebt ihm ein radikaler neuer Sound vor. Während Reznor selbst in eine Abwärtsspirale aus Drogen und Depressionen rutscht, denkt er sich eine Mär vom Leben und Sterben eines misanthropischen Menschen aus, der gegen die Menschheit rebelliert und Gott tötet, bevor er einen Selbstmordversuch unternimmt. Ohne es zu merken, wird seine prekäre, gefährliche Lebenssituation zum Katalysator eines der wichtigsten Alben der Neunziger.

God is dead and no one cares

The Downward Spiral reißt bei Erscheinen Mauern ein, legt Nervenbahnen frei, gräbt sich tief unter die Fingernägel einer kranken Gesellschaft. Das geht natürlich nicht mit einem herkömmlichen, normalen Rock-Sound. Reznor jagt alles – Drums, Gitarren, Bass, Synthies, Gesang – durch Computerprogramme und Verzerrer, verfremdet, entmenschlicht, vergiftet den herkömmlichen Alternative-Rock-Sound dieser Zeit. Und erschafft etwas Schroffes, Garstiges, Feindliches: Industrial Rock.

In den Räumen des Tate-Anwesens stapeln sich Effektgeräte und technisches Equipment, wie man es eher bei Techno-Artists vermuten würde. Reznor glaubt an seine Vision, tüftelt wie Frankenstein an seiner Kreatur, ist kompromisslos in seiner Kunst. Das entzweit ihn irgendwann auch von Co-Produzent Flood, der jahrelang mit Reznor gearbeitet hat. The Downward Spiral kostet den Schöpfer alles, seine Gesundheit, sein psychisches Wohl, seine Freunde, fast auch sein Leben. Doch er vollendet das Album, zieht kurz darauf aus dem verfluchten Haus aus, das bald darauf abgerissen wird. Reznor ist noch mal mit dem Leben davongekommen. Doch die Dämonen, die sind bis heute auf dem Album gefangen.

Hieronymus Bosch als postindustrieller Atheist

Am 8. März 1994 erscheint die Platte nach zahlreichen Verzögerungen. Fast 119.000 Exemplare gehen allein in der ersten Woche weg – und das, obwohl frühe Testhörer*innen bei Reznors besorgtem Label Interscope von „kommerziellem Selbstmord“ sprachen. Die Kritiker*innen sehen das anders:  Robert Christgau beschriebt die Musik als „Hieronymus Bosch als postindustrieller Atheist“, was bis heute so ziemlich die beste Zusammenfassung überhaupt für The Downward Spiral ist. Die Platte ist ein harsches, zerrendes, metallisches, brutales, lautes Manifest, mehr Maschinenhalle als Rock’n’Roll. Sie wird die alternative Musikwelt für immer verändern.

Der Erfolg macht Nine Inch Nails zu Ikonen, Reznor zum Popstar, zum Posterboy. Wie Kurt Cobain wird er zum Sex-Symbol wider Willen, zur Galionsfigur einer abgefuckten Generation. Auch Reznor will das nicht, sucht Zuflucht in Drogen, wendet sich ab vom Medienrummel. Doch das Kind ist schon in den Brunnen gefallen: Nine Inch Nails legen den Blueprint der Neunziger vor, den Sound der Stunde. Wie wichtig diese Platte ist, lässt sich am ehesten daran messen, dass selbst Mötley Crüe danach eine Platte rausbringen, die so klingen sollte wie Nine Inch Nails. Mit zweifelhaftem Ergebnis.

Trent Reznor entgeht Kurt Cobains Schicksal, ist aber zahlreiche Male kurz davor. Was ihn rettet, ist sein Rückzug ins Studio, sein Vergraben unter neuen Sounds, neuem Lärm. Erst fünf Jahre wird er sich mit The Fragile zurückmelden. Und Nine Inch Nails erneut ein anderes Erscheinungsbild geben.

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Zeitsprung: Am 17.5.1965 kommt Trent Reznor von Nine Inch Nails zur Welt.

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