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Popkultur

Stellt Euch eine Welt ohne John Lennons „Imagine“ vor

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Foto: Bob Fries © Yoko Ono

In ihrer kurzen, atemberaubenden Karriere haben die Beatles die Möglichkeiten der Popmusik komplett revolutioniert. Sie stellten die Erwartungen der Menschen immer wieder in Frage. Das fing schon damit an, dass sie ihre eigenen Songs schrieben. Außerdem machten sie Ideen und Aufnahmetechniken populär, die bis dahin in der Sackgasse der Kunst feststeckten. Mit den Beatles wurde Popmusik erst wirklich ernst genommen und die Dinge begannen, sich zu wandeln. Aber stellt Euch vor: Wäre all das passiert ohne John Lennon und die Einstellung und Energie, die er in die Band einbrachte?

Auch wenn seine Bandkollegen über viele Talente verfügten, ist es nicht undenkbar, dass die Beatles ohne Lennons verspielte Kreativität und seine Auflehnung gegen den Status Quo vielleicht nie existiert hätten. Und ohne ein Album wie Imagine, seinem zweiten nach dem Ende der Beatles und seinem mit Abstand legendärsten, hätten Generationen von Songwritern wohl nie die Herausforderung angenommen, die Lennon stellte: absolut aufrichtig zu sein, alles in Frage zu stellen, und immer nach der Wahrheit zu suchen.


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Songs als öffentliche Therapie

Lennon war gut darin, Songs als Trojanische Pferde einzusetzen: einfache, eingängige Melodien, die der Schornsteinfeger pfeifen konnte, mit Texten über Themen, die ihn bewegten oder die dem Zuhörer einen unverdeckten Blick in seine Seele gaben. So gesehen war das 1971 erschienene Imagine die absolute Essenz von Lennon: ein Album voller Songs, die für jedermann leicht zugänglich und trotzdem einzigartig und unverkennbar John Lennon waren; insbesondere der Titeltrack – eine Kollaboration mit Yoko Ono – hat einen Bekanntheitsgrad, wie ihn normalerweise nur Hymnen erreichen. Das Album baute auf dem auf, was der Vorgänger John Lennon/Plastic Ono Band von 1970 erreicht hatte und machte Lennon zu einem Idol für die wachsende Zahl von Singer-Songwritern, die von seinen schonungslosen und verletzlichen Bekenntnissen inspiriert waren. Auch heute noch ist der Einfluss des Albums immens.

Wo John Lennon/Plastic Ono Band noch stark nach innen gewandt war und damit quasi das Konzept “Songs als öffentliche Therapie” weiterführte, welches in der Vergangenheit schon diversen Beatles-Veröffentlichungen wie There’s A Place, Help! und Julia zugrunde lag, war der Titeltrack von Imagine eine leidenschaftliche Bitte und eine Kampfansage an die Obrigkeit. Als solche ist es auch heute noch einer der unverschämtesten und ehrlichsten Songs, der je ins öffentliche Bewusstsein vordrang.

Später erinnerte sich Lennon: “Das erste Album war den Menschen zu echt, darum kaufte es niemand. Jetzt weiß ich, was man machen muss. Man muss seine politische Botschaft mit ein bisschen Honig servieren.” Der Song stellte alles, was unsere Welt prägt, in Frage – Religion, Nationen, Materialismus –, und versüßt wird Imagine nicht nur durch seine Melodie und die Produktion mit getragenem Piano und bewegenden Streichern, sondern auch durch die Idee, dass jeder, der den Song hört, in der Lage ist, sich eine bessere Welt vorzustellen. Gemeinsam schrieben Lennon und Yoko Ono noch weitere Songs, deren Wut auf die Missstände der Menschheit jeden mitreißen konnten (Happy Xmas (War Is Over) ist nur einer davon), aber ein Teil der Genialität von Imagine liegt darin, dass er zeigt, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Tief im Inneren weiß der Hörer, dass Vorstellungskraft nicht ausreicht. Der Song ist also nicht nur eine Einladung zum Nachdenken, sondern ruft auch dazu auf, aktiv zu werden.

Bei ihrer Veröffentlichung am 11. Oktober 1971 schlug die Single direkt ein und verhalf so auch dem gleichnamigen Album zu einem Platz an der Spitze der Charts. Ein weiterer Hinweis auf seine enorme Breitenwirkung sind die vielen Coverversionen: Innerhalb weniger Jahre veröffentlichten so unterschiedliche Künstler wie Diana Ross, Andy Williams und Joan Baez eigene Interpretationen. Mittlerweile ist Imagine einer von Lennons am häufigsten gecoverten Songs und unterstreicht damit seine ungebrochene Bedeutung. Die Liste der Künstler, die sich des Songs bis heute angenommen haben, liest sich wie ein Who is Who der Musikwelt und enthält Namen wie Ray Charles, Madonna, Elton John und Neil Young, um nur einige zu nennen.

Hört hier in das Album rein:

1999 nannte Broadcast Media Inc den Titel in einer Liste der am häufigsten gespielten Songs im amerikanischen Radio und TV der letzten 100 Jahre. Außerdem war Imagine ein musikalisches Herzstück der Olympischen Winterspiele 2012 in London. Während der Eröffnung wurde der Song von Emeli Sandé gesungen, aber es war die Performance im Rahmen der Abschlusszeremonie, die alle Dimensionen sprengte: Mit einem kompletten, von David Arnold arrangierten Chor und Orchester und Lennons Originalvocals steigerte sich die Show sekündlich – bis zu ihrem großen Finale, bei dem das Gesicht John Lennons in die Mitte der Bühne projiziert wurde und zahllose weiße Ballons in den Himmel stiegen. Auch bei der traditionellen Neujahrsfeier auf dem Times Square in New York ist die Ausstrahlung von Imagine ein wichtiger Bestandteil. Die Organisationen UNICEF, Amnesty International und WhyHunger setzen ihn in ihren Kampagnen ein, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter beschrieb in einem Gespräch mit NPR seinen Eindruck, dass in vielen der “etwa 125 Länder”, die er und seine Frau besucht hatten, “John Lennons Song Imagine fast den Satus einer Nationalhymne hat”.

Der Punkt, an dem man über einen Song sagt, er habe andere Künstler beeinflusst, ist bei Imagine lange überschritten. Mittlerweile kann man behaupten, dass er ein fester Bestandteil der Gesellschaft und mit ihr verwoben ist.

“Ein echter f__ing Lovesong”

Aber Imagine ist nur der Opener eines Albums, das noch viel mehr zu bieten hat. Songs wie Oh My Love, Oh Yoko! und Jealous Guy zeigen eine komplizierte und romantische Facette von Lennon und Jealous Guy ist sogar einer seiner beliebtesten Songs überhaupt.

Sich in einem Song zu entschuldigen, war nicht besonders neu, aber seine Fehler so schonungslos auf den Tisch zu legen – und das vor einem Publikum von der Größe von John Lennons – das erforderte Mut. “Ich war sehr eifersüchtig und besitzergreifend”, räumte Lennon später ein und erklärte weiter: “Nicht nur eifersüchtig auf Yoko, sondern alle Männer und Frauen… Ein sehr unsicherer Mann, der seine Frau am liebsten in einer kleinen Schatulle einschließen und sie nur zum Spielen herausholen würde… Wenn man verliebt ist, dann ist man eifersüchtig und will den anderen zu einhundert Prozent besitzen. Bei mir ist das so. Ich liebe Yoko. Ich will sie vollständig besitzen. Ich will sie bestimmt nicht erdrücken, aber genau das ist die Gefahr – dass man sie zu Tode besitzt.”

Bis heute übt die Art, wie Lennon über Liebe singt, eine magische Anziehungskraft auf Songwriter aus. Father John Misty, dessen 2015 erschienenes Album I Love You, Honeybear, einige extrem ehrliche und selbstkritische – und zweifellos von John Lennon inspirierte – Momente enthält, sagte einmal über Jealous Guy: “Das ist ein echter f__king Lovesong über Verletzlichkeit und Unsicherheit.” James Skelly, Sänger der aus Liverpool stammenden Band The Coral stellte fest: “Ich glaube nicht, dass vor ihm schonmal jemand ein Liebeslied aus dieser Perspektive geschrieben hat. Es ist so einfach, und das ist das Geniale daran.”

Bei so einem nachdenklichen und vielschichtigen Song verwundert es nicht, dass er von vielen Künstlern gecovert wurde, darunter erfahrene Interpreten wie Donny Hathaway, Rod Stewart und Bryan Ferry; Seelenverwandte wie Lou Reed und Aimee Mann; und einige andere, von denen man es vielleicht nicht erwartet hätte. Die Alternative Metal Band Deftones, der senegalesische Singer-Songwriter Youssour N’Dour und der Jazzsänger Curtis Stigers konnten sich dem Song nicht entziehen. Und warum? Weil Lennon vor allem eins hineingelegt: Wahrheit.

Bob Fries © Yoko Ono

Lennon war der Erste

Die zweite Seite der Original-LP wird von Gimme Some Truth eröffnet. Es ist ein wütender Song, der, neben den ebenfalls unmissverständlichen I Don’t Want To Be A Soldier und How Do You Sleep? Lennons Talent zeigt, Ärger in fantastische Musik zu verpacken. So viele Bands haben seitdem ihre Verstärker bis zum Anschlag aufgedreht und ihrem Unmut über die Welt Luft gemacht – aber John Lennon war der Erste.

Er war einer der ersten Popmusiker, dem das Ausmaß seines Einflusses voll bewusst war und er scheute nicht davor zurück, diesen zu nutzen. Es gibt kaum einen unverblümteren Protestsong als den brodelnden Blues von I Don’t Want To Be A Soldier. Und besonders gut funktioniert der Protest natürlich, wenn man ihn in Millionen von Haushalten tragen kann. Dieser Lennon – der Feuerfeste, mit seinem bösen Sinn für Humor, dem es völlig egal war, was das Establishment von seinen Ansichten hielt – ist der vielleicht einflussreichste. Man findet ihn in John Lydons spöttischer Art, in Liam Gallaghers selbstbewusstem Auftreten und sogar im Protest der Gewinner des LennonOno Grant For Peace Awards 2012, Pussy Riot. Abseits des Studios fanden sogar die Bed-Ins, die John und Yoko Anfang der 1970er veranstalteten, überraschende Bewunderer in Childish Gambino und Jhené Aiko, die 2013 zusammen den Song Bed Peace herausbrachten und für ihr Artwork das berühmte Foto von John und Yoko nachstellten.

Auf Imagine fand Lennon die perfekte Balance zwischen seinem einzigartigen, intelligenten Humor, seiner Weltsicht und seinem Gespür für leicht zugängliches Songwriting, dem man sich kaum entziehen konnte. In jeder nachfolgenden Generation wird es wieder junge Leute geben, die Musik lieben und sein Album entdecken und die es berührt wie nichts zuvor.

Sich eine Welt ohne Imagine vorstellen? Unmöglich.

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