Popkultur
40 Jahre „Monarchie und Alltag“: Fehlfarben-Gründungsmitglied Thomas Schwebel im Interview
„Das sind Geschichten
In Büchern gelesen
Geschichten aus dem täglichen Sterben
Geschichten, die mir keiner glaubt
Das sind Geschichten
Und sie sind geklaut“
(aus: Das sind Geschichten, auf: Monarchie und Alltag, 1980)
Im Oktober 1980 veröffentlichte die Band Fehlfarben ihr Debütalbum Monarchie und Alltag und schuf damit einen Meilenstein, der die deutschsprachige Rockmusik nicht nur prägte, sondern im Grunde völlig umkrempelte. Monarchie und Alltag bewegte sich weit weg von dem, was im deutschsprachigen Rock bislang möglich gewesen war – und beeinflusste so ziemlich jede deutschsprachige Rockband abseits des Mainstreams. Von vielen wird es als das wichtigste deutschsprachige Album überhaupt angesehen.
Hier könnt ihr euch das Album anhören
40 Jahre Monarchie und Alltag
Auch 40 Jahre nach seiner Veröffentlichung klingt Monarchie und Alltag, das in den Kölner EMI-Studios aufgenommen wurde, erstaunlich frisch und zeitgemäß. Das liegt zu einem guten Teil an der schnörkellosen, zeitlosen und präzisen Sprache – und an den prägnanten Texten die längst, wie es Gründungsmitglied Thomas Schwebel im Interview nennt, ein Zitateschatz geworden sind. „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt / Den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat“ lautet eine dieser immer wieder zitierten Zeilen. Oder: „Was ich haben will, das krieg’ ich nicht / Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht“ – aus dem Song Paul ist tot.
Zum 40. Geburtstag von Monarchie und Alltag baten wir Thomas Schwebel zum Gespräch. Schwebel war Gründungsmitglied, Gitarrist, Komponist und, gemeinsam mit Sänger Peter Hein, auch Texter der Band. Nach Heins Ausstieg übernahm er Anfang der 1980er-Jahre auch den Posten als Sänger. 2006 verließ Schwebel, der neben seiner Tätigkeit als Musiker auch erfolgreich als Drehbuchautor arbeitet, die Band. Geht es nach ihm, könnte man ihn aber im Rahmen des Jubiläums wieder für ein paar Konzerte wieder mit seinen ehemaligen Kollegen auf der Bühne sehen.
von Markus Brandstetter
Vor 40 Jahren haben Sie mit Monarchie und Alltag eines der wichtigsten deutschsprachigen Alben aller Zeiten veröffentlicht. Viele bezeichnen es sogar als das wichtigste. War Ihnen damals schon klar, dass Sie etwas Nachhaltiges geschaffen haben?
Nein, natürlich nicht. Damit hat keiner gerechnet. Ich glaube unser damaliger Mitproduzent und A&R von der Plattenfirma hat schon gemerkt, dass da mehr drinsteckt als wir dachten. Wir haben das überhaupt nicht gemerkt. Wir dachten, wir werden vielleicht mehr Platten verkaufen als Hans-A-Plast, die damals die größten Fische im Teich waren. Das war unsere Hoffnung. Aber an mehr hätten wir nie im Leben gedacht. Dass wir 40 Jahre später Interviews geben und dass sich das Ding 40 Jahre kontinuierlich verkauft und diesen Status erreicht hat: Das war absolut unvorstellbar.
Wie haben Sie die Rezeption des Albums damals erlebt?
Wir waren damals schon sehr überrascht. Die Rezeption war von Anfang an sehr enthusiastisch. Da waren schon einige Texte dabei, bei denen man schon tief durchatmen musste. Trotzdem: Obwohl positive Kritiken damals sehr viel wichtiger waren als heute, hatten wir trotzdem nicht das Gefühl, dass wir jetzt die Größten wären. Da waren schon einige Sachen dabei, die erstaunlich waren – aus verschiedenen Richtungen. Es gab die alten Journalistenheinis, die wir schon kannten und die sowieso schon vorher gut über uns geschrieben haben – die aus der Szene, in der das alles entstand. Die waren enthusiastisch, aber das hat uns nicht besonders überrascht. Wir hatten auf dieser Platte den Aufkleber „Empfohlen von Stereoplay”. Der Aufkleber wurde bei Nachpressungen mit auf das Cover gedruckt, das ging unglaublich schnell. Stereoplay war damals ein Magazin für HiFi-Freaks, die sich teure Soundanlagen kauften. Da wurden Platten von Dire Straits und dergleichen besprochen – eben Alben, die ein wahnsinniges akustisches Erlebnis darstellten. Das war kurz, bevor das mit der CD anfing. Aus dieser Ecke kriegten wir eine megaenthusiastische Kritik. Das war eine völlig andere Welt als die, die wir kannten. Ich glaube, das hat viele Leute aus einer konservativeren Musik neugierig gemacht, sich mal anzuhören, was das eigentlich ist. Das hat, glaube ich, viel dazu beigetragen, dass wir aus dem Ghetto unserer kleinen Szene rauskamen. Wir waren die erste Band aus dieser ursprünglichen NDW-Szene, die es geschafft hatte, bei so einer großen Firma so viele Platten zu verkaufen. Das war glaube ich ein Grund, dass wir diese Szenen ein bisschen überwunden haben – und dass es nicht nur bei den alten Fans blieb, sondern auch viele neue Fans in anderen Bereichen angesprochen hat.
Gab es Ihrer damaligen Meinung nach auch Missverständnisse in der Wahrnehmung?
Am Anfang gab es ja eine große Diskussion, dass wir überhaupt bei einer großen Plattenfirma unterschrieben hatten. Das war damals nicht besonders beliebt. Da fing das mit den Independents gerade an, mit eigenen Firmen – und wir sind zu einer riesigen Firma, der EMI gegangen, wo auch Queen, Pink Floyd und die Beatles waren. Das war in der Szene sehr umstritten. Es wurde uns vorgeworfen, dass wir uns an die große Industrie verkauft hätten. Für ein wahnsinniges Geld hätten wir unsere Seele verkauft. Das war völliger Quatsch. Erstens haben wir überhaupt kein „großes Geld“ bekommen, am Anfang eigentlich noch gar keines. Wir haben unsere Seele auch nicht verkauft, wir konnten uns einfach nur ein besseres Studio zum Aufnehmen leisten. Und sonst … Wenn manche Leute sagen, Monarchie und Alltag wäre eine Punk-Platte, das gibt es ja immer noch, dann denkt man sich natürlich: Okay, habt ihr euch die jemals angehört? Mit Punkrock hat das wenig zu tun. Aber sonst: Wir wurden nicht schlimm katalogisiert.
Können Sie uns ein wenig vom Schaffensprozess erzählen? Sie haben das Album in den Kölner EMI-Studios aufgenommen.
Wir haben im Frühjahr 1980 vier Stücke als Demos für die Plattenfirma gemacht. Schon in dem großen Studio. Unter anderem, was wirklich genial war: Paul ist tot. Die Techniker bei der EMI damals waren ja selbst hervorragend ausgebildete Musiker, die hatten das studiert, zum Teil in den Abbey Road Studios in London. Der Techniker, den wir damals hatten, war total froh, dass er mal neben Schlager- und Big-Band- Geschichten auch mal eine Rockband hatte. Der war so begeistert von seinem spontanen Mix von Paul ist Tot, dass danach nie mehr jemand an dem Mix rumgefummelt hat. Der Sound von diesem Stück, das ja auch eines der besten Stücke der Platte ist, das hat uns so geflasht: Wir haben das an einem Nachmittag aufgenommen, am Abend dann gemischt. Das ging ratzfatz. Der Tontechniker war so begeistert von seiner eigenen Arbeit, von uns und von dem Ergebnis, dass er gesagt hat: „Da gehen wir nie wieder ran. Egal, was passiert, ob Ihr ‘ne Platte macht oder nicht – das Stück bleibt so, wie es ist. Das kriegen wir nie wieder besser hin!“ Nach zwei Monaten haben wir dann den Rest der Platte gemacht. Das war schon überwältigend in so einem großen Studio zu sein, in dem große Acts aufgenommen haben. Die EMI-Studios in Köln waren schon besonders. Ich weiß, dass die Rolling Stones da mal im Studio waren, die wurden dann von der Kantinenköchin mit Kochlöffeln dirigiert. Die Fußballnationalmannschaft war da, Howard Carpendale, die Dexys Midnight Runners waren mal am Tag nach uns da. Das war ein großer Betrieb mit einem breiten Spektrum an Musikern. Und alles traf sich in der Kantine. Das war eine tolle Zeit. Kein kleines Independent-Studio hätte uns das bieten können. Die hatten auch wirklich alle Instrumente dort. Wir kamen dahin und dort stand ein Flügel, überall lagen Instrumente herum. Deswegen ist auf dieser Platte relativ viel Zeug drauf, das wir sonst nicht hatten. Klavier, auf einem Stück Schalmeien: Wir haben Sachen benutzt, die wir da eben gefunden haben. Es war alles sehr überwältigend, aber auch sehr inspirierend.
Die Verstärker und Gitarren waren auch von dort?
Das waren die eigenen, so etwas stand da nicht rum. Man kann anhand der Bänder rekonstruieren, in welcher Reihenfolge die Stücke aufgenommen wurden. Ich weiß, dass die Stücke, die wir ganz am Anfang der Studiozeit aufgenommen haben, in der Regel nicht ganz so gut klingen wie jene, die wir am Ende machten. Im Grunde genommen hätten wir am Ende nochmal anfangen müssen und die ersten drei, vier Stücke nochmal neu aufnehmen sollen. Dann wären die auch besser geworden. Man hört an den Stücken: Je länger wir im Studio waren, desto besser wurden wir vom Sound her und vom Spielen her – und desto befreiter und lockerer war das alles. Alles in allem war das eine großartige Zeit.
Was waren denn die ersten Stücke, die Sie aufgenommen haben?
Zum Beispiel fanden wir ja Ein Jahr (Es Geht Voran) nicht so toll. Wir hatten immer das Ziel, ein Disco/Funk-Stück zu machen, aber wir fanden es in der Version zu schlapp. Das war das erste, das wir aufgenommen haben, am ersten Studiotag unserer richtig großen Session. Das Stück hat live immer mehr Biss gehabt: Wenn wir das zehn Tage später nochmal aufgenommen hätten, am Ende der Studiozeit, dann hätte das auch nochmal anders geklungen. Ob es besser gewesen wäre, kann ich auch nicht sagen: Es ist ja ein Hit geworden, insofern kann man darüber nicht streiten. Aber man hört es schon. Wir waren ganz jung und neu, waren noch nie in so einer Umgebung. Dass wir da am Anfang eingeschüchtert waren, ist völlig klar.
Weil Sie eben den Song Ein Jahr (Es Geht Voran) angesprochen haben: Das wurde ja zwei Jahre nach der Albumveröffentlichung gegen den Willen der Band als Single veröffentlicht – und wurde dann zu einem kommerziellen Erfolg.
Als die Single veröffentlicht wurde, sah die Band schon ganz anders aus, da waren einige bereits ausgestiegen. Ich selbst fand das nicht so schlimm, es ist schon legitim, dass das ausgekoppelt wurde. Ursprünglich hatten wir, weil wir von der Version nicht begeistert waren, schon den Gedanken, das Stück gar nicht mit auf die Platte zu nehmen. Da meinte der A&R von EMI aber: „Doch auf jeden Fall, das ist ein Hit“. Er hat das früh erkannt. Da waren wir nicht so angetan. Aber dass es dann später als Single kam, fand ich damals nicht so daneben. Das war ja auch ganz gut, als es in den Charts war: Da hat man nochmal ein anderes Publikum erreicht. Das hätten wir mit einem anderen Stück vielleicht nicht geschafft.
Nicht nur die Texte, auch die Musik auf Monarchie und Alltag ist sehr präzise. Besonders prägend für die Platte war Ihr Gitarrensound. Was waren zu dieser Zeit Ihre Einflüsse – musikalisch wie auch textlich?
Die Einflüsse waren wahnsinnig vielfältig. Es gab in der Post-Punk-Zeit viele Gitarrenhelden, die ganz anders waren als die der 1960er-Jahre. Da gab es Andy Gill von Gang of Four, der ein super Vorbild war. Bernard Summer von Joy Division, Keith Levene von Public Image Ltd. – auch Robert Smith war ein großer Einfluss. Es sind ja auch Sounds auf der Platte, die The Cure ähnlich sind. Und dann war da Nile Rodgers von Chic, das war meine persönliche Vorliebe, nicht die vom Rest der Band. Die wusste teilweise gar nicht, wer Nile Rodgers war. Das sind die Einflüsse bei den Gitarren gewesen. Es gibt auf der Platte kein einziges richtiges Gitarrensolo, nur Rhythmus. Das war zu dieser Zeit auch sehr angesagt.
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Fehlfarben haben etwas in die deutschsprachige Musik gebracht, das von vielen vermisst wurde und das es so nicht gab. Was würden Sie sagen war das genau – und wo wollten Sie textlich hin?
Peter Hein und mir – wir haben ja beide die Texte geschrieben – war schon in den Bands, in denen wir vorher waren, klar: Wir müssen auf Deutsch singen, damit wir verstanden werden. Weil das künstlich ist, wenn man als Deutscher auf Englisch textet. Wir wollten gleichzeitig aber auch nicht wie Udo Lindenberg klingen, der damals der einzige war, der deutschsprachige Rockmusik gemacht hat. Davon wollten wir uns schon abgrenzen, weil es bei ihm eine komische Kunstsprache war. Das hätte man auch gar nicht imitieren können. Es sollte kurz und knapp sein, ohne zu dieser Zeit modischen Straßenslang und ganz simpel von unserer Umgebung erzählen. Ich glaube, das ist uns auch gelungen, sonst hätten sich nicht so viele Leute mit den Texten identifizieren können. Es tauchen ja viele Zeilen aus den Songs immer wieder auf, sind fast schon Sprichwörter geworden: „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt“, „Was ich haben will, das krieg’ ich nicht“ – das ist mittlerweile schon ein Zitateschatz. Das war eben möglich, weil wir so simpel, klar und eindeutig wie möglich über uns schreiben wollen. Keine Kunstwelten. Lindenberg hatte ja immer Kunstfiguren, Rudi Ratlos zum Beispiel: Das war uns völlig fremd, sowas wollten wir überhaupt nicht machen. Auch ausgehend von den englischen Bands, die unsere Vorbilder waren.
Ist diese textliche Reduktion und Präzision auch der Grund, warum das Album so gut gealtert ist?
Ich glaube schon. Wenn man eine ganz normale Sprache spricht, die nicht in der Zeit verwurzelt ist, hat man bessere Chancen. Klar, bei Udo Lindenberg klingt manches nach 1970er-Jahre-Jugendsprache, mit Worten, die heute kein Mensch verwendet. Bei Hip-Hop passiert das auch bereits: Es kommen Worte vor, die man heutzutage gar nicht mehr kennt oder die man vielleicht als peinlich empfindet. Unsere Abgrenzung davon war schon schlau: Dadurch ist nicht eindeutig erkennbar, dass es sich um 1980 handelt. Die Texte hätten auch 2007 geschrieben werden können. Der Sound der Platte ist eindeutig 1980, der Klang, die Gitarren, die Produktion, das hört man einfach. Aber in den Texten eben nicht – und da bin ich stolz drauf, dass das auf allen Fehlfarben-Platten, auch auf den späteren, so gelungen ist.
Peter Hein meinte mal, die Reputation von Monarchie und Alltag sei eine Bürde gewesen, eben weil man immer wieder daran gemessen wurde. War das für Sie ähnlich?
Ja, das ist schon so. Das überschattet alles andere. Als Band, als Musiker, als Autor denkt man sich ja, dass die anderen Platten genauso gut sind und dass man auch mal über die sprechen sollte. Das wird meiner Meinung nach zu wenig getan. Es wirkt manchmal so, als hätten wir nur Monarchie und Alltag gemacht – und der Rest wäre nicht wirklich bemerkenswert. Wir haben aber einige Alben rausgebracht, die auf ihre Art nicht viel schlechter sind. Die beiden Alben, die direkt nach Monarchie und Alltag kamen – 33 Tage in Ketten und Glut und Asche – sind beides tolle Platten, die immer mehr ihre Anhänger finden. Ich würde mich freuen, wenn die Band mehr noch als Band wahrgenommen würde, die 30, 40 Jahre lang gute Platten gemacht hat und nicht nur als die Band von Monarchie und Alltag. Die Zuschauer in den Konzerten bestätigen das einem immer wieder: Dass sie Stücke von anderen Platten genauso erwarten. „Mühlstein“ hat Peter das damals genannt, glaube ich: Ein Mühlstein um den Hals.
Da wäre dieses Jubiläum gleich ein guter Anlass, auch in die weitere Diskografie einzutauchen, sofern man das bislang nicht hinreichend getan hat.
Ja und das wäre mein Wunsch, auch an die Firma. 2021 feiert das zweite Album auch sein 40-jähriges Jubiläum. Es gibt mittlerweile immer mehr Leute, die schreiben, dass es nicht viel schlechter ist als Monarchie und Alltag. Sie war damals sogar erfolgreicher als Monarchie und Alltag. Es wäre toll, wenn das passieren würde – mal sehen, ob das klappt.
Gibt es ein Album, das sie zu Unrecht als besonders vernachlässigt sehen?
Das dritte Album ist mein persönlicher Favorit. Weil wir da nur noch eine ganz kleine Band waren – und mit wahnsinnig viel Aufwand und Genauigkeit lange daran gearbeitet haben. Musikalisch ist das, glaube ich, die beste Platte. Die kam damals raus, als sich die Neue Deutsche Welle erledigt hatte und von einem Tag auf den anderen völlig in sich zusammenbrach und plötzlich alle Flops hatten. Auch wesentlich erfolgreiche Bands als wir verkauften plötzlich keine Platten mehr. Unsere Platte ist im Vergleich sogar noch ganz gut angenommen, aber nicht so gut, wie wir uns das erhofft hatten. Die kam ein bisschen zum falschen Zeitpunkt. Die erschien 1983, da dauert es noch ein bisschen zum Jubiläum.
Bedeuten Ihnen solche Jubiläen eigentlich etwas?
Nicht so wahnsinnig viel, aber wenn es dazu dient, dass Leute sich wieder etwas anhören, was unter den Tisch gefallen ist, fände ich das gut. Ich persönlich sitze aber nicht vor dem Kalender und denke mir: „Wow, vor 40 Jahren ist Monarchie und Alltag rausgekommen“. Da ist das relativ wurscht, da die Platte ohnehin ihren Status hat. Ich hoffe es für andere Platten, dass so ein Jubiläum zu einer Neubewertung geführt.
Blicken Sie manchmal auf ihr eigenes Werk zurück – oder ist das für Sie gegessen?
Das ist gegessen. Man kann stolz drauf sein und man muss dankbar sein für den großen Erfolg. Das ist etwas, was nicht viele Leute schaffen. Ich bin darüber sehr glücklich und es berührt mich immer zutiefst, wenn mich Leute aus völlig anderen Zusammenhängen darauf ansprechen, wie sehr sie Fehlfarben mochten und wie viel es ihnen bedeutet hat. Das ist Wahnsinn, wer hat sowas schon? Dagegen tritt alles andere zurück und man kann einfach sagen: „Tolle Sachen haben wir offensichtlich gemacht. Da können wir stolz drauf sein und sind es auch“.
Sie sind 2006 aus der Band ausgestiegen, waren gute zehn Jahre später für einige Jubiläumsshows aber wieder mit dabei. Gibt es diesbezüglich wieder solche Pläne – auch wenn das mit dem Livespielen dank der Covid-19-Pandemie ja vielleicht noch eine Weile auf Eis liegt?
Es gab diesbezüglich Pläne, es hätte dieses Jahr Konzerte gegeben. Mal sehen: Ich glaube schon, dass dieser Coronadreck diesbezüglich zu einer Neubewertung führt. Wenn es klappen würde, anlässlich des verspäteten Jubiläums auf die Bühne zu gehen – was ja hoffentlich nächstes Jahr der Fall sein könnte – dann hätte ich tierischen Bock, da wieder mit dabei zu sein. Ich war 2017 bei der Jubiläumstour dabei und das hat schon mordsmäßig Spaß gemacht. Corona hat uns auch gezeigt, wie fragil das alles ist und wie schnell das alles vorbei sein kann, was wir immer für selbstverständlich genommen haben: Dass man auf Konzerte gehen kann. Das ganze Leben ist durch Konzerte bestimmt. Ich kann mich an meine ganze Jugend anhand von Konzerten erinnern. Das so eine Welt von einem Tag auf anderen völlig weg ist und man nicht weiß, wenn es wiederkommt: Das war schon ein Schock. Wenn man irgendwann mal wieder auf die Bühne kann, möchte ich mir das nicht entgehen lassen!
Zehn Post-Punk-Klassiker: Wie Punk erwachsen wurde und den Rock befreite

Popkultur
Zeitsprung: Am 24.9.1991 zelebrieren die Red Hot Chili Peppers „Blood Sugar Sex Magik“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 24.9.1991.
von Christof Leim
Kontrollierter Wahnsinn: Als die Red Hot Chili Peppers sich auf die Essenz ihres Sounds besinnen, passt plötzlich alles zusammen. Mit Blood Sugar Sex Magik schafft das kalifornische Quartett 1991 den höchst erfolgreichen Spagat zwischen hartem Groove und großen Songs. Eine Geschichte über Funk, Punk, Drogen und die Reduktion aufs Wesentliche.
Hört hier in Blood Sugar Sex Magik rein:
Klickt auf „Listen“ für das ganze Album.
1991 war ein wichtiges Jahr für harte Musik. Alternative und Crossover vertreiben damals den pompösen Hard Rock der Achtziger vom Thron, eine Zeitenwende, die vor allem drei wichtige Werke begleiten: Nevermind von Nirvana inspiriert all das schöne Geschrammel der Neunziger. Metallica schießen mit ihrem schwarzen Album den Metal in den Mainstream, was viele ihrer Kollegen zu härteren Sounds im Untergrund inspiriert. Für den groovigen Stoff mit Crossover-Qualitäten schließlich legt vor allem Blood Sugar Sex Magik von den Red Hot Chili Peppers einen immens wichtigen Grundstein. Alle drei Platten erscheinen innerhalb von wenigen Wochen, zwei sogar am gleichen Tag, und allesamt werden sie zu Millionensellern. Dies ist die Geschichte des verrücktesten, wildesten und buntesten Albums der drei.
Strategisch platzierte Socken
Bis zu diesem Album hatten die 1983 in Los Angeles gegründeten Red Hot Chili Peppers als wildes Punk-Funk-Acid-Rock-Quartett lediglich Achtungserfolge einfahren können, immerhin aber mit der Angewohnheit geglänzt, sich nur mit einer Socke zu kleiden – und zwar nicht an den Füßen. Sänger Anthony Kiedis und Bassist Michael „Flea Balzary” kennen sich schon aus der High School und legen mit Gitarrist Hillel Slovak die stilistischen Grundlagen, die harten Rock mit Funk und schrägen Tönen kombiniert. Leider gehören harte Drogen bei der durchgeknallten Bande zum Alltag: Slovak stirbt am 25. Juni 1988 mit 26 Jahren an einer Heroin-Überdosis. Das wiederum stürzt Drummer Jack Irons in eine tiefe Depression. Er verlässt die Band und taucht erst Jahre später wieder bei Pearl Jam auf. Für ihn kommt Chad Smith.
Immer gut gekleidet und ernsthaft bei der Sache: Die Red Hot Chili Peppers
Die Gitarre übernimmt der gerade mal 18-jährige John Frusciante, ein begnadeter Musiker und großer Peppers-Fan, aber auch ein schwieriger Charakter, wie sich noch rausstellen sollte. Über sich selbst sagt er: „Bevor ich zur Band gekommen bin, war ich kein Funk-Gitarrist. Wie ich gut mit Flea zusammenspiele, habe ich komplett von Hillel gelernt – und das habe ich dann auf den Kopf gestellt.“ Mit Smith und Frusciante steht das Line-up, mit dem die Red Hot Chili Peppers ihre größten Erfolge feiern würde. Auf dem vierten Album Mother‘s Milk (1989) zündet das zunächst nicht, vielleicht auch, weil Produzent Michael Beinhorn (Soundgarden) der Scheibe einen breiten, verzerrten Gitarrenton mit wenig eigener Note verordnet.
Der wahre Pfeffersound
Erst zwei Jahre später findet der Vierer seinen Sound: Vorher mögen sie ungestüm geklungen haben, später zu poppig und beliebig. Blood Sugar Sex Magik jedoch explodiert punktgenau, knackig, groovig, wild, aber doch melodisch lecker. Das liegt vor allem an Produzent Rick Rubin, der das tut, womit er noch vielen Musikern helfen sollte: Er reduziert die Band auf ihre Essenz. Zudem schätzen die Peppers ihn im Gegensatz zu seinen Vorgängern genug, um ihn nach Ideen und Rat zu fragen, wenn es nicht weiter geht. Wie Kiedis in seiner Biografie Scar Tissue schreibt, hilft Rubin oft bei den Schlagzeugarrangements, Gitarrenmelodien und sogar Texten. Das Ergebnis zeichnet sich insbesondere durch einen wesentlich aufgeräumteren, gerade zu furztrockenen Klang aus, der auf Reverb und Distortion verzichtet. Zum anderen entdecken die vier Musiker die Welt der Melodien und Hooklines. Kiedis erinnert sich: „Wir waren nie so produktiv wie mit Rick. Meistens haben wir den ganzen Tag gejammt, irgendwann kam er dann vorbei, legte sich stundenlang auf‘s Sofa und machte Notizen.“ Die Maxime lautet klar: Weniger ist mehr. „Sein wichtigster Einfluss lag darin, uns zu sagen, was wir nicht machen sollten“, fasst Flea zusammen. „Er hat uns beigebracht, uns auf den Song zu fokussieren.“ Vor allem bei Frusciante rennt Rubin offene Türen ein: Der Gitarrist spielt fast clean und sagenhaft reduziert, aber nie zu wenig oder gar zu viel.
Losgelassen
Blood Sugar Sex Magik erscheint am 24. September 1991, am gleichen Tag wie Nevermind, und stellt satte 17 Songs lang eine offensichtliche Weiterentwicklung des Chili-Sounds dar. Inhaltlich dreht sich alles um Sex, Drogen, Tod, aber auch Hedonismus, Lust und Ausgelassenheit. Die Sause beginnt mit dem vehementen The Power Of Equality, das auf einem bemerkenswert einfachen und komplett unverzerrten Riff basiert, das wie ein Sample durchläuft und zusammen mit der ballernden Rhythmusfraktion eine vehemente Wirkung entfaltet. Zusammen erinnert das an die Unnachgiebigkeit von Hip Hop-Grooves und sollte typisch für Crossover werden. If You Have To Ask lässt mit furztrockenem Midtempo-Rhythmus unerbittlich jeden Kopf nicken, mit knackig akzentuierter Gitarre links im Mix und mitreißenden Bassläufen rechts. Kiedis kommt mit Sprechgesang aus, im Chorus tönt ein Falsett-Background mit Ohrwurmqualitäten, und Frusciante spendiert ein fuzzbetontes Solo aus der Hendrix-Schule.
If You Have To Ask wird als letzte von fünf Singles veröffentlicht und sollte fortan an so ziemlich jeder Tour zum Einsatz kommen. In eine ähnliche Kerbe schlagen viele der Nummern, etwa Mellowship Slinky In B Major oder der herrliche Off-Beat-Stampfer Funky Monks. Hier lohnt es sich, den clever verzahnten Einsätzen von Bass und Drums Gehör zu schenken. Doch die Chili Peppers wissen neuerdings auch mit Melodie umzugehen: Das akustische Breaking The Girl könnte genauso gut von Led Zeppelin stammen. Kiedis singt dazu von seinem unsteten Liebesleben und der Befürchtung, als Womanizer in Einsamkeit zu enden. Der Song wird die vierte Single und verkauft dank der einprägsamen Gesangsmelodie ausgesprochen gut. Ganz zart klingt auch I Could Have Lied, eine Akustiknummer über die kurze Beziehung des Sängers zur irischen Musikerin Sinéad O’Connor.
Nina Hagen hilft
Doch das Quartett langt auf der Scheibe vor allem kräftig hin: So sorgt Suck My Kiss für richtig Druck. Erwartungsgemäß handelt das ebenfalls ausgekoppelte Stück von geschlechtlichem Nahkampf und gehört zu den bekanntesten Nummern der Band. Noch dicker kommt‘s mit der Vorabveröffentlichung Give It Away: Wer hier nicht hüpft, kopfnickt oder zumindest den Fuß bewegt, kommt vermutlich lebenslang mit Yoga-Ambient-Sounds aus. Die Nummer basiert auf einem zappeligen Bass-Riff von Flea und schiebt in der Strophe wie ein Traktor. Entstanden war die Nummer aus einer Jam-Session, der Kiedis spontan die Zeile „Give it away, give it away, give it away, give it away now“ beisteuerte. Wie er es schafft, dabei das „R“ zu rollen, obwohl in der Zeile keines vorkommt, wird wohl ein Mysterium bleiben. Textlich stand hier übrigens die deutsche Punk-Ikone Nina Hagen Pate, die ihrem zeitweiligen Lover Kiedis neue Einblicke in den Wert von Selbstlosigkeit und der Nutzlosigkeit materieller Besitztümer eröffnete. In den Strophen singt der dann noch über seinen langjährigen Kumpel River Phoenix, über Bob Marley und natürlich über Sex. Im Mainstream findet Give It Away zunächst kaum Beachtung. Angeblich ließen mehrere Radiostationen durchblicken, dass die Band sich doch bitte wieder melden solle, wenn es eine Melodie in dem Song gäbe. Ein Sender aus Los Angeles namens KROQ beginnt allerdings, das Lied gleich mehrmals am Tag zu spielen und sorgt damit für den Durchbruch. Noch heute gehört Give It Away zu den beliebtesten Nummern im Werk der Band.
Die von Rick Rubin heraufbeschworene Macht der Reduktion zeigt sich schließlich im Titelstück Blood Sugar Sex Magik, das groovt wie Hölle. Es fehlt nichts, es ist alles da und lässt die Köpfe nicken. Man kann sich fast vorstellen, dass das sogar den Jungs von AC/DC gefallen könnte.
Die Brücke zur Hitsingle
Doch wirklich durch die Decke geht es mit Under The Bridge, der Megaballade und zweiten Single des Albums. Dabei hegt die Band zunächst so große Zweifel am Potenzial der Nummer, dass Mitarbeiter von Warner Records ein Peppers-Konzert besuchen, um die beste Auskopplung zu finden. Ausgerechnet bei Under The Bridge verpasst Kiedis seinen Einsatz – und das gesamte Publikum übernimmt. Der Sänger entschuldigt sich hinterher, doch die Warner-Leute lachen nur: „Wenn jeder einzelne Zuschauer einen Song singt, dann ist das unsere nächste Single.“ Die Entscheidung zahlt sich aus: Ab Mai 1992 kann man Under The Bridge auf MTV und im Rockradio nicht aus dem Weg gehen. Das Ding explodiert, und die Red Hot Chili Peppers haben es endgültig an die Spitze und in den Mainstream geschafft.
Die Nummer ist aber auch zu schön: Hinter der bittersüßen Melodie steckt ein Gefühl der Einsamkeit, das Kiedis zu Beginn der Aufnahmen beschleicht, weil er sich – mittlerweile clean von Drogen – von den dauerkiffenden Flea und Frusciante entfremdet fühlt. Lediglich seine Heimatstadt scheint noch sein Freund zu sein, was ihn an seine schlimmsten Junkie-Zeiten und die gescheiterte Beziehung zur britischen Schauspielerin Ione Skye erinnert: „Ein wundervolles Mädchen. Doch anstatt bei ihr zu sein, habe ich unter einer Brücke gestanden und mir mit irgendwelchen verdammten Gangstern Heroin gespritzt.“ Der Song bleibt besinnlich und endet auf Rubins Anraten mit einem epischen Chor, den Frusciantes Mama Gail und ihre Freunde einsingen. Wo genau die besagte Drogen-Brücke allerdings steht, hat Kiedis nie verraten, zu sehr beschämt und schmerzt ihn diese Episode. Aus Interviews und Hinweisen in Kiedis Autobiografie Scar Tissue hat der Autor Mark Haskell Smith jedoch geschlossen, dass es sich um die Brücke im übel beleumdeten MacArthur Park in Downtown Los Angeles handeln soll. Wer übrigens regelmäßig auf Partys an der Akustikgitarre brilliert, sollte Under The Bridge lernen und mal die Strophe von Green Days When I Came Around darüber singen. Die passt nämlich auch – zwei Songs in einem, sehr praktisch.
Die restlichen sechs Stücke der Platte bieten dann mehr vom gleichen Stoff. Interessant ist zumindest das lyrische Konzept hinter The Greeting Song, für den Rubin einen Text ausschließlich über Autos und Mädels fordert. Was für Mötley Crüe ein normales Tageswerk darstellt, findet bei Kiedis jedoch überhaupt keinen Anklang. Den Abschluss bildet They‘re Red Hot, ein von Blues-Urvater Robert Johnson adaptierter Ragtime, den die Band morgens um zwei auf einem Hügel in der Nähe des Studios aufnimmt.
Probleme auf Tour
Nach Veröffentlichung geht es natürlich auf die Straße: Die Blood Sugar Sex Magik-Tour zieht äußerst erfolgreich durch volle Hallen und sorgt durch die Wahl der Vorgruppen – Pearl Jam, The Smashing Pumpkins und Nirvana – für Sternstunden des Alternative Rock. Alle drei Support Acts sollten binnen Jahresfrist selbst zu Stars des Genres werden. Doch für John Frusciante ist das alles zu groß, zu erfolgreich, zu viel. Der exzentrische Gitarrist verärgert seinen Sänger, weil er während eines TV-Auftritts bei Saturday Night Live – angeblich – absichtlich schief spielt und singt. Am 7. Mai 1992 schmeißt Frusciante nach einer Show im japanischen Saitama dann endgültig hin.
„Wir haben die ganzen Achtziger damit verbracht, irgendwie ein paar Platten zu verkaufen“, erinnert sich Kiedis später. „Sobald John dabei war, hat das auch geklappt, aber er hat das anders wahrgenommen als der Rest. Wir waren dicke Freunde, aber letztlich endete das alles im Streit wie bei einem Liebespaar. John stand damals vor einer sehr düsteren und verdrogten Phase seines Lebens, und das kann keiner aufhalten. Wenn die Seele das verlangt, passiert es.“ Während Frusciante für sechs Jahre von der Bildfläche verschwindet und droht, ein weiteres Heroinopfer zu werden, macht die Band kurzzeitig mit dem Gitarristen Arik Marshall weiter, engagiert aber schon im September 1993 Dave Navarro von Jane‘s Addiction. Erst Ende der Neunziger stößt Frusciante wieder zur Band und bleibt nochmal zehn Jahre. Californication (1999) und weitere Bestseller etablieren die Chili Peppers als eine der größten Rockbands der Welt mit 80 Millionen verkauften Alben weltweit. Die ehemalige kalifornische Chaotentruppe gewinnt sogar sieben Grammys und wird 2012 in die Rock And Roll Hall Of Fame aufgenommen. Den Grundstein für diesen Siegeszug haben sie mit Blood Sugar Sex Magik gelegt.
Zeitsprung: Am 10.8.1984 veröffentlichen die Red Hot Chili Peppers ihr Debüt.
Popkultur
Zeitsprung: Am 23.9.1930 wird der Hohepriester des Soul geboren: Ray Charles.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 23.9.1930.
von Jana Böhm und Christof Leim
Am 23. September 1930 erblickt Raymond Charles Robinson das Licht der Welt, bis es für ihn im Alter von sieben Jahren durch eine Glaukom-Erkrankung für immer erlischt. Seine Mutter hält ihn zur Unabhängigkeit an, denn als blinder Schwarzer Mensch ist man im Amerika der Dreißiger Jahre verloren. Ray verinnerlicht die Worte seiner Mutter. Der Multiinstrumentalist wird zum Hohepriester des Soul und sein musikalischer Einfluss prägend für Blues, Country und Soul-Musik. Blicken wir auf sein beeindruckendes Leben zurück.
Hört euch hier Ray Charles’ Greatest Hits an:
Als Raymond Charles Robinson im September 1930 in Albany, Georgia auf die Welt kommt, ist der Staat von der Rassentrennung zerfurcht. Die Schwarze Bevölkerung hat wenig Rechte und lebt in meist sehr ärmlichen Verhältnissen. Ray und seine Mutter Aretha ziehen bald nach Greenville in Florida, dort wächst er dann zusammen mit seinem jüngeren Bruder George auf.
Das Schicksal schlägt zu
Mit Rays fünftem Lebensjahr legt sich ein Schatten über sein Leben, der bald zu tiefster Dunkelheit wird. Durch ein angeborenes Glaukom, auch Grüner Star genannt, beginnt er, sein Augenlicht zu verlieren. Im selben Jahr muss Ray hilflos mit ansehen, wie sein jüngerer Bruder George ertrinkt. Trotz der Armut und herben Schicksalsschlägen drängt seine Mutter ihn zur Selbstständigkeit, denn ihr ist sehr wohl bewusst, dass man schwarz, blind und hilflos in diesem Land kaum eine Chance hat. „Lass dich durch nichts und niemandem zu einem Krüppel machen“, impft sie ihm immer wieder ein. Mit sieben Jahren ist Ray Charles vollständig erblindet.
Die Musik gibt dem jungen Ray Charles Halt. Beim Singen von Gospels in der Kirche fühlt er sich sicher. An einem alten Klavier im Red Wing Café eröffnet ihm der Besitzer, der alte Wylie Pitman, eine neue Welt. Ray lernt schnell, selbst zu spielen. „Klavierspielen kann man lernen, aber nicht das Gefühl dafür. Das ist da oder nicht. Ich glaube, dass ich damit geboren wurde“, erzählt er Jahrzehnte später. Eine umfassende musikalische Ausbildung wird ihm an der St.-Augustine-Schule für Gehörlose und Blinde zuteil. Ray lernt, Musik zu lesen und Frederic Chopin, Ludwig van Beethoven und Johann Strauss zu spielen. Er besucht die Schule bis zum Tod seiner Mutter. Ihr Tod bringt Ray seelisch ins Wanken.
Der eigene Stil
Als er fünfzehn Jahre alt ist, verlässt der Junge die Schule. Er will professioneller Musiker werden. Zuerst macht er sich im nahegelegenen Jacksonville einen Namen, dann in Orlando, Florida. Ray gilt als ein vielseitiger Arrangeur, Pianist und Saxofonist, der neben Blues, Jazz, Boogie-Woogie und Swing auch Hillbilly drauf hat. Charles imitiert den sanften Gesang von Größen wie Nat King Cole und Charles Brown. Einen eigenen Gesangsstil entwickelt er erst über ein Jahrzehnt später.
1947 zieht Ray Charles nach Seattle, er verspricht sich bessere Karrierechancen an der Westküste. In der neuen Heimat beginnt Raymond Charles Robinson an seiner Show Business-Persönlichkeit zu feilen. Um nicht mit dem Boxer „Sugar“ Ray Robinson verwechselt zu werden, nennt er sich fortan nur Ray Charles und beginnt, stets eine schwarze Sonnenbrille zu tragen, die zu seinem Markenzeichen wird. Außerdem und viel wichtiger: Als Mitglied des Maxin Trios nimmt er seine erste Schallplatte auf. Die Single Confession Blues erreicht 1949 Platz zwei der Rhythm & Blues-Hitparade. Im selben Jahr ändert die Band ihren Namen in Ray Charles Trio und mausert sich ein Jahr später zum Ray Charles Orchestra.
Der Durchbruch
1952 erhält der aufstrebende Musiker einen Vertrag bei Atlantic Records, dem bis dato größten Rhythm & Blues-Label. Mit seiner Band findet er nun auch seinen eigenen Stil. Er wird zum Prediger der Lebenslust, auf die Melodie eines alten Gospelsongs schreibt er I’ve Got A Woman – ein Lied über die Liebe. Das kommt bei vielen schwarzen Gläubigen nicht besonders gut an, man wirft ihm sogar Gotteslästerung vor. Doch Ray Charles hat damit Erfolg, sogar die Weißen finden seine Musik gut, und das ist damals eine Seltenheit.
Ray Charles Welthit „What’d I Say“
Mit What’d I Say landet er einen Welthit, Klassiker wie Hit The Road, Jack und I Can’t Stop Loving folgen. Ab 1955 beginnt Charles im Stile der Gospelgruppen mit weiblichen Backgroundstimmen zu experimentieren und ergänzt seine Truppe um einen Frauenchor: die Raeletts. Der eigene Stil ist gefunden: eine schroffe Stimme, ein ausdrucksstarkes Piano, hervorragende musikalische Begleitung und Frauengesang im Hintergrund.
Prediger der Lebenslust
Das Ekstatische seiner Auftritte spiegelt sich in Rays Privatleben wieder: Den vielen Frauen kann er einfach nicht widerstehen. Zwar ist Ray verheiratet und hat drei Kinder, doch mit all den Geliebten setzt er mindestens neun uneheliche Kinder in die Welt. Man kann sagen, Ray Charles genießt das Leben in vollen Zügen und ist auch Alkohol und Marihuana nicht abgeneigt. In den Fünfzigern gerät er jedoch an härteren Stoff. Heroin wird ihm zum Verhängnis und führt in den kommenden zwanzig Jahren auch mehrfach zu Verhaftungen. Ab 1970 lebt er clean.
Ray Charles wird als erster Kulturschaffender in die Georgia Music Hall Of Fame (1979) aufgenommen. Außerdem ehren ihn die Blues Hall Of Fame und die Rock And Roll Hall Of Fame geehrt. Seine musikalischen Einflüsse sind stilprägend für die Entwicklung von Rhythm And Blues, Blues, Country und Soul.
1980 setzt der Weltstar seinem Ruhm noch einen drauf: Mit seiner Rolle im legendären Film Blues Brothers erreicht er im Jahre 1980 eine neue und junge Generation von Fans. 2004 stirbt Ray Charles in Beverly Hills. Niemand Geringeres als Frank Sinatra erweist ihm die letzte Ehre.
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Zeitsprung: Am 26.3.1944 wird Soul-Legende Diana Ross geboren.
Popkultur
„Tage wie diese“ von den Toten Hosen: Als sich Angela Merkel bei Campino entschuldigte
Im Jahr 2011 passiert den Toten Hosen etwas, wovor sich jeder Musiker fürchtet: Sie möchten ein neues Album schreiben — und ihnen fällt absolut nichts ein. Doch aus der Kreativlosigkeit der Düsseldorfer entsteht unter anderem ihr größter Hit: Tage wie diese. Das ist die Geschichte der Nummer. Eine Telefonat mit Angela Merkel ist auch dabei.
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Scheiss Wessis von den Toten Hosen anhören:
Im Demostadium heißt der Song noch Kreise drehen. Am Text kann man es ablesen: „Wir lassen uns treiben, tauchen unter, schwimmen mit dem Strom / Drehen unsere Kreise, kommen nicht mehr runter, sind schwerelos“. Hosen-Gitarrist Kuddel nimmt das Stück im Jahr 2010 zuhause auf und lässt sich dafür von Black Betty inspirieren, einem Worksong des 20. Jahrhunderts — allerdings in der Version der Siebziger-Rockband Ram Jam. Begeistert ruft er Sänger Campino an, der Kreise drehen ebenfalls mag. Doch gleich am nächsten Tag klingelt Kuddel noch einmal durch. Sein Sohn Tim findet das Lied nicht gut. Auch bei Tochter Chelsea springt der Funke nicht über. Enttäuscht legen die Hosen das Stück beiseite. Doch im Sommer 2011 geht Campino mit einer alten Freundin schwimmen — und ihr kommen die zündenden Ideen.
Campino und Birgit Minichmayr: eine alte Freundschaft ebnet den Weg zum größten Hit
Bereits im Jahr 2006 hatten Campino und Birgit Minichmayr gemeinsam auf der Bühne des Berliner Admiralspalastes gestanden. Der Anlass: Rainer Maria Brandauers Inszenierung von Bertold Brechts Dreigroschenoper, in der Campino den Mackie Messer gegeben hatte und Minichmayr dessen Partnerin Polly. Seitdem sind die beiden in gutem Kontakt geblieben und nun, da die Hosen mit dem Songwriting für das Album zu ihrem 30. Jubiläum im Morast feststecken, ruft Campino seine Kollegin Minichmayr zur Hilfe. Er bittet sie darum, sich das neue Material einmal anzuhören. Zügig treffen sich die beiden in Österreich. Campino bringt eine CD mit den neuen Ideen mit. Kreise drehen möchte er Minichmayr eigentlich gar nicht vorspielen, doch als sie den Song hört, lobt sie ihn. Das sei das bisher beste Stück und man müsse nur noch ein wenig am Text schrauben. So passiert es dann auch.
Als Campino und Minichmayr fertig sind, heißt das Stück Tage wie diese. Minichmayr hat das Potenzial des Songs erkannt, den die Hosen beinahe aussortiert hätten. Nach der Veröffentlichung wird das Stück schnell zum Selbstläufer. Platz eins in den Single-Charts, drei Wochen lang die Pole Position in den Airplay-Charts, „Hit des Jahres“ bei der Echo-Verleihung 2012, Deutscher Musikautorenpreis 2013: Tage wie diese schlägt unerwartet heftig ein. Es soll der bekannteste Song der Toten Hosen werden. Was diesmal anders ist? Vielleicht zum allerersten Mal sei es egal, ob das Lied von den Hosen komme oder nicht, mutmaßt Campino in einem Interview. Bisher hätten viele Fans die Songs der Band gemocht, weil sie Anhänger der Hosen seien. An Tage wie diese fänden auch Nicht-Hosen-Fans Gefallen — obwohl der Song von den Hosen komme. Es sei ein großes Glück, nach 30 Jahren Bandgeschichte noch solch einen Hit zu landen, findet er. Er wisse nicht, ob die Hosen in jungen Jahren mit so viel Erfolg zurechtgekommen wären.
Tage wie diese: ein Song begeistert Deutschland
Die Beliebtheit des Songs bekommen die Hosen gleich in mehrfacher Hinsicht zu spüren. Zum einen klingelt die Kasse; zum anderen kommt es zu mehreren Coverversionen. Eine der neuesten (von 2023) stammt von der US-amerikanischen Sängerin Anastacia.
Schon vor Jahren hatte Campino den Text des Songs ins Englische übersetzt. Best Days heißt die US-Variante und sie ist auf Anastacias Album „Our Songs“ zu finden. Auch Schlager-Megastar Helen Fischer singt Tage wie diese im Rahmen ihrer Sommertour 2013. Eine Veröffentlichung ihrer Version auf CD unterbinden Campino und Co. allerdings. Eigentlich hatten sie ja auch der CDU verboten, den Song zu nutzen …
Beste Feinde: Die Toten Hosen und die CDU
Nach 40 Jahren Bandgeschichte haben sich die Toten Hosen einen Ruf erspielt. Als Krachmacher der Nation kennt man sie vor allem als Punk-Vertreter und Störenfriede, die sich auf und abseits der Bühne gerne gesellschaftskritisch äußern. Ein einziges Campino-Interview reicht, um zu wissen: CDU-Fan ist er nicht. Dennoch singt die Union am 22. September 2013 in ihrer Berliner Zentrale ausgerechnet den Hosen-Song Tage wie diese, um ihren Erfolg bei der jüngsten Bundestagswahl zu feiern. Kanzlerin Angela Merkel weiß zu jener Zeit noch nicht einmal, dass es sich um ein Lied der Toten Hosen handelt.
Es ist schon ein skurriles Bild: CDU-Fraktionschef Volker Kauder gibt mit einem Mikro in der Hand Tage wie diese von den Toten Hosen zum Besten; Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Armin Laschet wippen (mehr oder weniger) im Takt mit. Viele Deutsche dürften sich über diesen Auftritt im September 2013 gewundert haben, steht die CDU doch nicht unbedingt für die Werte, die Campino und Co. üblicherweise propagieren. Entsprechend verärgert ist die Band über die eigenwillige Nutzung ihres Songs. „Uns persönlich kam die Darbietung eher wie ein Autounfall vor“, schreiben die Düsseldorfer nach der CDU-Performance in einem Statement auf ihrer Facebook-Seite. „Nicht schön, aber man schaut trotzdem hin.“ Darüber hinaus sei das grausam vorgetragene Lied aber immer noch die beste Leistung, die die CDU in letzter Zeit hervorgebracht habe. Deutliche Worte.
Anruf von Angela — Als die Kanzlerin Sorry sagte
Die Verärgerung der Toten Hosen entgeht Angela Merkel nicht — weshalb sie ein paar Tage später zum Telefonhörer greift, um sich zu entschuldigen. „Lieber Herr Campino, ich rufe an, weil wir ja am Wahlabend so auf ihrem Lied herumgetrampelt sind“, sagt sie zu dem Sänger. Sie fände Tage wie diese sehr schön, doch Campino müsse sich keine Sorgen machen, dass der Song nun die nächste CDU-Hymne werde. Außerdem hätten die Hosen die Nutzung des Liedes zwar für Wahlkampfveranstaltung untersagt, doch Siegesfeiern seien ja kein Wahlkampf. Am Ende bleibt sie eben doch Politikerin.
Diese Geschichte ist eine von vielen aus dem Buch Die Toten Hosen – über 40 Jahre Punkrock: Von Pionieren des Punks zur Kultband von Timon Menge. Die Anekdotensammlung erscheint am 24. Oktober 2023 im Riva Verlag.
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