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Popkultur

50 Jahre „Keine Macht für niemand“: Ton Steine Scherbens anarchistisches Manifest

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Ton Steine Scherbens
Foto: ullstein bild Dtl./Getty Images

1972 lehrt Ton Steine Scherbens Brandbrief Keine Macht für niemand Staatsdiener, Altnazis und Spießbürger das Fürchten. Auch 50 Jahre später hat das Album nichts von seiner fiebrigen Intensität verloren.

von Björn Springorum

Hier könnt ihr euch Keine Macht für niemand anhören:

Wer im Westberlin der frühen Siebziger ein junger Erwachsener ist, lebt ambivalent. Einerseits inmitten der Verlockungen des Großstadtdschungels, andererseits im Schatten der Mauer unter der US-amerikanischen Besatzungsmacht. Mit der Teilung der Stadt ziehen Kapitalisten und Spekulanten in eine Stadt ein, in der immer noch viele Nazis ihren Geschäften nachgehen. Die Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, das darf man nicht vergessen, ist damals erst 27 Jahre her. Dreck am Stecken haben hier noch eine ganze Menge.

Herolde der radikalisierten Linken

Dagegen begehrt die Jugend auf. Mit Protesten, mit Demonstrationen, mit besetzten Häusern. Und mit Musik. Weniger mittendrin und eher federführend im Westberliner Klassenkampf: Ton Steine Scherben. Die schrieben der Revolte mit Macht kaputt, was euch kaputt macht schon 1970 so etwas wie die offizielle Hymne auf den Leib geschrieben, verlegt auf dem eigenen Label David Volksmund Produktion. Die Band um Ralph Christian Möbius alias Rio Reiser wird zum Sprachrohr des Agitrock, zu den Herolden der radikalisierten Westberliner Linken.

Ton Steine Scherben gründen sich 1970 und singen an gegen ein System, das in ihren und den Augen vieler krank und überholt ist. Sie singen gegen den Muff im Elternhaus, gegen Polizeigewalt und gegen rechts, gegen gierige Politiker und den zermürbenden Trott des Alltags. Ihr Name? Laut Reiser ein Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann: „Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben.“ Wahrscheinlicher ist eine Anspielung auf die westdeutsche Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden.

Präludium für den Sturm

Schon bei ihrem ersten Auftritt auf dem Love-And-Peace-Festival auf Fehmarn fordert Reiser das Publikum auf, den Veranstalter „ungespitzt in den Boden zu hauen“. Dazu kommt es nicht, dafür zünden Besucher aber das Organisationsbüro der Veranstalter an, nachdem die sich mit den Gagen aus dem Staub gemacht haben. Ganz guter Auftakt. Und das Präludium für den Flächenbrand, den die Band im Oktober 1972 mit ihrem zweiten Album Keine Macht für niemand entfacht.

Zwischen wütend und frustriert, zwischen zynisch und verbittert pendelt Rio Reiser darauf, seine markante Stimme scharrt und singt und schreit und frotzelt. Ton Steine Scherben singen von  verkorksten Beziehungen zum Elternhaus, von langen Arbeitstagen und dem kleinen bisschen Freiheit nach Feierabend, von fetten und reichen Chefs in ihren dicken Karren – und ziemlich direkt auch davon, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Aufruhr und Revolte

Aufrührerisch ist das, und nicht zu knapp: Im Titelsong etwa heißt es: Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen – welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen. Anarchistisch und offen sozialistisch wird es in Die letzte Schlacht gewinnen wir: Wir brauchen keinen starken Mann – Denn wir sind selber stark genug – Wir wissen selber, was zu tun ist – Unser Kopf ist groß genug.

In Paul Panzer Blues gipfelt der Song in Gewaltfantasien dem eigenen Chef und der gesamten Obrigkeit gegenüber, im legendären Rauch-Haus-Song thematisiert Rio Reiser die Besetzung des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg nach dem am 4. Dezember 1971 bei einem Schusswechsel mit der Polizei erschossenen Georg von Rauch. Es sind also mehr als aus der Luft gegriffene Parolen und reichlich abgenutzte Bonmots, die Ton Steine Scherben auf Keine Macht für niemand hören lassen. Es ist die knallharte Lebenswirklichkeit an den Rändern der Westberliner Gesellschaft, der Soundtrack der Hausbesetzerszene. Keine Macht für niemand steht bald darauf an unzähligen Hauswänden. Oder, vereinfacht ausgedrückt: In der LP-Box liegt neben einem Textblatt auch eine Zwille bei. Friede den Hütten, Krieg den Palästen!

Auftragsarbeit für den Terrorismus

Das wirklich Erstaunliche (und Verstörende) ist allerdings die Aktualität, die dieses Album auch noch 50 Jahre später umweht. 1972 als Brandbrief geschrieben, als Brechstange angelegt, mit der man die alte Welt aus den Angeln hebeln wollte, sind es 2022 immer noch ganz ähnliche Themen, gegen die Punkbands ansingen. Selten aber gelingt einer Band, diese brandgefährliche Mischung aus aufgestauter Wut, verschleppter Frustration und diesem verzweifelt-fatalistischen Gefühl, endlich etwas tu zu müssen, auf einen Tonträger zu bannen. Fast schon verwunderlich, dass die Paläste damals wirklich nicht alle brennen.

Dennoch bewegen Ton Steine Scherben etwas. Sie zeigen mit dem Finger auf Täter und Schuldige, sie wühlen in den Wunden einer kaum aufgearbeiteten Vergangenheit, sie fassen die Ängste und Sorgen vieler perspektivlosen Menschen in Worte und Klänge. Historische Randnotiz: Der Song Keine Macht für niemand wird als Auftragsarbeit für die linksextreme, terroristische Bewegung 2. Juni geschrieben. Und die lehnt ihn zunächst ab, weil er ihnen nicht gefällt…

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