Popkultur
Die musikalische DNA der Beatles
Es ist doch verblüffend, wie wenig Zeit es manchmal braucht, um die gesamte Welt zu verändern. Die Beatles zumindest schafften es in nur einem Jahrzehnt. 1960 als bescheidene Skiffle-Band gegründet, die ihre ersten Erfolge im Hamburger Nachtleben feierte, wurde aus den vier Pilzköpfen John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr, der 1962 Pete Best am Schlagzeug ablöste, die größte Band der Welt. Wenn nicht sogar die größte Band aller Zeiten. Das alles wäre aber wohl kaum möglich gewesen, hätten die Fab Four nicht auch ihre eigenen Vorbilder genau studiert. So genau, dass es auch mal Plagiatsvorwürfe hagelte. Werfen wir also einen Blick auf die musikalische DNA einer Welt, die in nur zehn Jahren Geschichte für Jahrhunderte schrieb und heute selbst auf den Dancefloors nachhallt.
Zieh dir hier die Playlist in deinen Account und lies weiter:
1. Buddy Holly And The Crickets – That’ll Be The Day
Die ersten vierzig ihrer Songs seien von Buddy Holly beeinflusst gewesen, gab Paul McCartney einst zu Protokoll. Das erstreckte sich nicht allein auf stilistische Aspekte. „Buddy Holly war der erste aus England, von dem wir mitbekamen, dass er zugleich sang und spielte – nicht nur Geschrammel, richtige Licks!“, sagte John Lennon einst. Er selbst lernte als erstes einen Buddy Holly-Song, den 1957 veröffentlichten „That’ll Be The Day“, welcher zugleich der erste von den Beatles aufgenommene Song war. Oder richtiger: Der erste von den Quarrymen, wie sich die Gruppe damals noch nannte, aufgenommene Song. Buddy Hollys Band The Crickets übrigens haben wir auch den Namen Beatles zu verdanken: So wie der nämlich eine Doppelbedeutung hat, einerseits ein Insekt bezeichnet und andererseits auf einen britischen Lieblingssport verweist, machten die Käfer aus Liverpool klar, was ihre Musik ausmacht: Beat, Beat, Beat!
2. Carl Perkins – Blue Suede Shoe
Ähnlich wichtig für die Existenz der Beatles war selbstverständlich Elvis Presley. Vielleicht sogar ein bisschen wichtiger als selbst Buddy Holly. „Ohne Elvis gäbe es die Beatles nicht“, sagte John Lennon einmal. Auf den King konnten sich die Fab Four geschlossen einigen, den Rockabilly-Sänger Carl Perkins liebten sie indes nicht weniger. Der schrieb „Blue Suede Shoe“, ein Rock’n’Roll-Standard, das von Elvis Presley ins Fernsehen gebracht wurde. Besonders an dem Song war die unerhörte Mischung aus Blues-, Country- und Pop-Elementen. Angeblich hat Presley seine weitaus erfolgreichere Cover-Version aufgenommen, um Perkins nach einem Unfall aus der Patsche zu helfen. Mit Erfolg, denn „Blue Suede Shoe“ bleibt bis heute der erfolgreichste Song des stets elegant gekleideten Musikers, der im Jahr 1998 verstarb. Letztlich sagte Paul McCartney über Perkins sogar dasselbe wie Lennon über Elvis: „Gäbe es Carl Perkins nicht, die Beatles würden nicht existieren!“ Zwei gute Existenzgründe, möchten wir meinen.
3. Chuck Berry – You Can’t Catch Me
„Gitarrengruppen sind auf dem absteigenden Ast, Mr. Epstein“, lautete die Absage des Labels Decca an den Beatles-Manager Brian Epstein. Die Musikgeschichte bewies das Gegenteil, der letzte Lacher gehörte einer kleinen Gitarrengruppe aus Liverpool, die weltberühmt wurde. Ihr Gitarrensound wäre sicher nichts ohne Chuck Berry gewesen, der von den Fab Four nahezu religiös verehrt wurde. So sehr, dass sich dessen Anwälte zu einer Klage genötigt sahen. Nicht etwa, weil die Beatles den US-amerikanischen Rocker gestalkt hätten, sondern weil „Come Together“ von ihrem Album Abbey Road sich großzügig bei dessen „You Can’t Catch Me“ bedient hatte, einerseits musikalisch und andererseits mit den Lyrics („Here come ol’ flattop, he come groovin’ up slowly“, heißt es bei den Beatles, „Here come a flattop, he was movin’ up with me“ bei Berry.) Nicht die einzige Leihgabe, die John Lennon im Song unterbrachte: Der Titel ist dem Slogan der Gouverneurskampagne des berühmten Psychologen und LSD-Psychonauten Timothy Leary entnommen, für den Lennon das Stück ursprünglich komponiert hatte.
4. Rory Storm & The Hurricanes – Bye Bye Love
Rory Storm & The Hurricanes sind nicht mehr als eine Fußnote der Musikgeschichte. Wie die Beatles waren des 1972 verstorbenen Rory Storm eine Skiffle-Band aus Liverpool, sie spielten ebenso wie die Beatles im Rahmen einer Hamburg-Residency im legendären Kaiserkeller und veröffentlichten Anfang der sechziger Jahre ein paar nur mäßig erfolgreiche Singles. Ein rumpliger Mitschnitt eines Auftritts der Band aus dem Jahr 1960 bei der Partyreihe Jive Hive in der St. Luke’s Hall in Crosby wurde dennoch 2012 erstmals veröffentlicht. Warum? Weil es bei diesen oberflächlichen Parallelen nicht blieb: Derjenige, der hier so ungelenk zu The Everly Brothers‘ „Bye Bye Love“ – ein Favorit der Fab Four – auf das Schlagzeug eindrischt, sollte 1962 den vorigen Beatles-Drummer Pete Best ersetzen: Ringo Starr. Ein bisschen konnte er sich in den Folgejahren schon verbessern.
5. The Byrds – The Bells Of Rhymney
In der relativ kurzen Liste weltberühmter Akkorde dürfte der Auftakt von „A Hard Day’s Night“ wohl noch vor dem Wagnerschen Tristanakkord stehen. Zu seiner Zusammensetzung hat sich eine Art kleine Beatles-Foschung entwickelt, obwohl das Geheimnis mittlerweile als gelüftet gelten kann. Seine klanglichen Qualitäten verdankt er einer 12-saitigen Rickenbacker-Gitarre, die George Harrison mit Wucht anschlägt. „A Hard Day’s Night öffnete uns ziemlich die Augen“, erinnerte sich das The Byrds-Mitglied Chris Hillman im Jahr 2003. Vor allem, weil Bandkollege Richard McQuinn die Gitarre Harrisons sah und seine 12-saitige Gibson sofort gegen eine Rickenbacker umtauschte. „Der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt“, notierte Hillman dazu. Die schrieb sich auch bei den Beatles weiter, die die Byrds als beste US-amerikanische Band ihrer Zeit priesen und sich sogar ein paar Ideen von ihnen liehen. Ein McGuinn-Riff aus dem Song „The Bells Of Rhymney“ ließ Harrison auf Rubber Soul im Stück „If I Needed Someone“ wieder auftauchen.
6. Ravi Shankar – Raga Madhu-Kauns
Einen noch entschiedeneren Einfluss auf die Beatles hatte McQuinns Faible für die indische Sitar. Harrison drückte mit dem Instrument Songs wie „Norwegian Wood (This Bird Has Flown)“, „Love You To“ oder „Within You, Without You” seinen unverkennbaren Stempel auf. 1966 reiste er sogar für sechs Wochen nach Indien, um sich vom Maestro Ravi Shankar im Sitarspiel unterrichten zu lassen. Indische Musik und Philosophie prägte die Beatles so maßgeblich, dass sie sich vor White Album-Zeiten sogar einen Guru suchten: Maharishi Mahesh nahm die vier für drei Monate in seinem Ashram unter seine Fittiche. Eine produktive Zeit, in welcher viele Songs des selbstbetitelten Albums geschrieben wurden. Na gut, Starr hielt es nur für zehn Tage und McCartney immerhin einen ganzen Monat dort aus, eine wichtige Zeit war es dennoch, nicht allein in musikalischer Hinsicht.
7. The Beach Boys – God Only Knows
1966 war ein entscheidendes Jahr für die Popmusik und insbesondere die Kunst des Pop-Albums. Mit Revolver von den Beatles und Pet Sounds von The Beach Boys erschienen zwei bahnbrechende LPs, die das Genre revolutionieren und Maßstäbe setzen sollten. „God Only Knows“, der achte Track auf Pet Sounds, wird auch heute noch in vielen Listen als der beste Song aller Zeiten geführt. Dabei war er zu seiner Zeit alles andere als gewöhnlich: Vom Titel – 1966 wurde Gott nicht gern in der säkulären Popmusik erwähnt – über die irrwitzige Instrumentierung mit unter anderem Cembalo, Glocken und einer Kontrapunkt spielenden Streichersektion war „God Only Knows“ sogar ziemlich unkonventionell – und damit eine Inspiration für die Beatles, welche Pet Sounds als direkten Einfluss auf Sgt. Pepper’s Lonvely Hearts Club Band nannten. Eine produktive Konkurrenz, die umgekehrt genauso Früchte trug: Beach Boys-Mastermind Brian Wilson schaute sehr genau auf das Treiben der experimentierwütigen Pilzköpfe. Für Pet Sounds nämlich stand die Beatles-LP Rubber Soul aus dem Vorjahr Pate.
8. Bob Dylan – Rainy Day Women #12 & 35
„And when I touch you, I feel happy inside / It’s such a feeling that my love / I get high / I get high / I get high”, singen die Beatles auf “I Want To Hold Your Hand”. Dachte zumindest Bob Dylan im Jahr 1964 und musste von einem verschüchterten John Lennon korrigiert werden: „I can’t hide“, heißt es natürlich. Nachdem die Beatles zu Hamburger Zeiten ziemlich unbeeindruckt von Marihuana waren, brachte sie Dylan beim ersten gemeinsamen Treffen in einer wilden gemeinsamen Nacht aber auf den Geschmack. Paul McCartney war von der Erfahrung tief beeindruckt.
Schaut euch hier eine Live-Version an und lest weiter:
„Zum ersten Mal habe ich denken können, richtig denken“, sagte er später dazu. „Everybody must get stoned“, forderte Dylan auf seinem Durchbruchsalbum Blonde On Blonde wohl also nicht zu Unrecht. Mit dem High-Sein machte die Band bekanntermaßen noch mehr Erfahrungen. Im Folgejahr mischte der Zahnarzt John Riley seinen Gästen Lennon und Harrison LSD in den Kaffee. Kein Wunder, dass die Musik der Fab Four danach zunehmend psychedelischer wurde.
9. Karlheinz Stockhausen – Gesang der Jünglinge
Einer Legende zufolge lernte John Lennon Yoko Ono durch eine ihrer Ausstellungen kennen und Ono hatte nicht den blassesten Schimmer, wer der neugierige Engländer oder gar seine Band waren. Einer anderen Legende nach kannte sie die Beatles sehr gut und fragte für ein Buchprojekt bei Paul McCartney handgeschriebene Lyrics an. So oder so: Der Rest ist Geschichte, über die selbst heute noch viel diskutiert wird. Ob Lennon ohne Ono die Beatles verlassen oder gar noch am Leben wäre hin oder her: Beeinflusst von der Japanerin, welche selbst an den Aufnahmen beteiligt war, wandte sich die Band mit „Revolution 9“ der Avantgarde zu. Neben musique concrète und Edgar Varèse gaben sowohl Lennon als auch McCartney – der bereits auf „Tomorrow Never Knows“ wild experimentiert hatte – die Tape-Manipulationen Karlheinz Stockhausens als Inspiration an. Sein „Gesang der Jünglinge“ stand maßgeblich Pate für die verqueren Vocal-Cut-Ups von „Revolution 9“.
10. Paul McCartney & Wings Vs. Timo Maas & James Teej – Nineteen Hundred And Eighty Five (Radio Edit)
Kaum eine Band, die nicht die Beatles als Einfluss zitieren würde. Doch selbst abseits des Pop- und Rock-Geschehens ist das Erbe der Fab Four nach wie vor präsent. Im März 2016 tauchte zum Record Store Day eine mysteriöse, auf 100 Stück limierte Platte im Londoner Plattenladen Phonica auf, welche im Internet mittlerweile für hunderte von Euros gehandelt wird und sogar ein offizielles Release erfahren hat.
Schaut euch hier das offizielle Video an:
Darauf zu hören ist der Edit eines Paul McCartney-Stücks, welches dieser 1974 mit seiner Band Wings aufgenommen hatte. Eine Dancefloor-Interpretation von einem Post-Beatles-Stück? Unwahrscheinlich, eigentlich aber genau richtig: Der Beat war schließlich schon immer essentieller Bestandteil ihrer Musik, die Solo-Unternehmungen mit eingeschlossen. Warum nicht also auch ein House-Beat? Wie alle vier Beatles nach der Auflösung der Band im Jahr 1970 ihre eigenen Wege gingen, so hört auch ihr Werk nicht auf zu wirken – und zwar überall!
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Popkultur
Zeitsprung: Am 1.4.2008 feuern Velvet Revolver ihren Sänger Scott Weiland.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 1.4.2008.
von Christof Leim
Das sah schon nach „Supergroup“ aus, was sich da 2002 zusammenbraute: Drei Musiker von Guns N’ Roses und der Sänger von den Stone Temple Pilots gründen Velvet Revolver. Doch sechs Jahre später ist der Ofen aus und Scott Weiland raus. Vorher gab es noch eine lahme Platte, Streit im Internet und die ganz kalte Schulter.
Hört euch hier das Velvet-Revolver-Debüt Contraband an:
Natürlich hat die ganze Welt mit Spannung zugehört, als Slash, Duff McKagan und Matt Sorum zusammen mit dem Gitarristen Dave Kushner und dem Frontmann der Stone Temple Pilots, Scott Weiland, eine Band gründen. Beim Debüt Contraband von 2004 kommen nicht ganz unerwartet zwei musikalisch benachbarte Welten zusammen: Classic Rock und alternative-lastiger Grunge-Sound. Die Scheibe wird zum Erfolg, doch der Nachfolger Libertad bleibt 2007 weit hinter den Erwartungen zurück.
Ein Bild aus besseren Zeiten: Velvet Revolver live 2007. Foto: Kreepin Deth/Wiki Commons.
Den weltweiten Touren der Band tut das keinen Abbruch, diverse Aufenthalte in Entzugskliniken, Visa-Probleme und kurzzeitige Verhaftungen durchkreuzen einige Pläne allerdings schon. Als Velvet Revolver im Januar 2008 ihre Rock’n’Roll As It Should Be-Tour durch Europa starten, hängt der Haussegen bereits schief. Am 20. März 2008 verkündet Weiland sogar auf offener Bühne in Glasgow: „Ihr seht hier etwas Besonderes: Die letzte Tour von Velvet Revolver.“
Längt beschlossene Sache
Was er nicht weiß: Seine Kollegen haben da längst beschlossen, ohne ihn weiterzumachen, wie Slash später in einem Interview eröffnet. Das liegt unter anderem daran, dass Weiland ständig die Fans ewig lang warten lässt, und das können die Guns N’ Roses-Jungs nach dem Dauerdrama mit dem notorisch verspäteten Axl Rose nicht mehr akzeptieren. Slash, der zottelhaarige Gitarrengott, berichtet auch, dass die Bandmitglieder während der UK-Shows so gut wie kein Wort mit ihrem Sänger wechseln. „Wir haben ihm die kalte Schulter gezeigt, dass es nur so eine Art hatte.“
Kein einfacher Zeitgenosse: Scott Weiland. Credit: CRL.
Nach dem Debakel von Glasgow, das in einer halbherzigen Performance gipfelte, tragen die Musiker zudem ihren Zank in die Öffentlichkeit: Drummer Matt Sorum veröffentlicht ein Statement, das ohne Namen zu nennen deutlich mit dem Finger auf Weiland zeigt. Der wird in seiner Antwort ein gutes Stück bissiger und ziemlich persönlich. Dass das alles nicht weitergehen kann, liegt auf der Hand. Am 1. April 2008 schließlich verkünden Velvet Revolver offiziell, dass Scott Weiland nicht mehr zur Band gehört.
Wie sich rausstellt, endet damit auch die Geschichte dieser Supergroup, sieht man von einer einmaligen Live-Reunion am 12. Januar 2012 bei einem Benefizkonzert ab. Denn leider können die Herren jahrelang keinen geeigneten Nachfolger finden, obwohl Könner wie Myles Kennedy von Slashs Soloband und Alter Bridge, Sebastian Bach (ehemals Skid Row), Lenny Kravitz und Chester Bennington (Linkin Park) als Kandidaten gehandelt werden. Slash und McKagan kehren schließlich zu Guns N’ Roses zurück, während Weiland bis 2013 bei den Stone Temple Pilots singt und anschließend mit seiner eigenen Band The Wildabouts unterwegs ist. Am 3. Dezember 2015 wird er tot in deren Tourbus gefunden. Rest in peace.
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Zeitsprung: Am 15.5.1995 klicken bei Scott Weiland zum ersten Mal die Handschellen.
Popkultur
„The Record“: Was kann das Debüt der Supergroup Boygenius?
Supergroups kennt man ja eher von Männern. Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus, die drei prominenten Damen hinter Boygenius, ändern das. Ihr Debüt The Record klingt zumeist sanft, verträumt, melancholisch, bricht aber manchmal wie entfesselt los. Indie-Album des Jahres? Gut möglich.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr euch The Record anhören:
Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus sind jede für sich Ikonen, einflussreiche Künstlerinnen, die es mit unter 30 zu prominenten Figuren gebracht haben. Bei Boygenius bündeln die drei ihr kreatives Genie in einem Trio, das es in der Indie-Welt so noch nicht gegeben hat – und das ist angenehmerweise mal keine hohle PR-Übertreibung. Jede von ihnen kann als Stimme ihrer Generation gewertet werden, jede von ihnen gehört zu einer neuen Ära von selbstbestimmten Künstlerinnen, die auf ihre Weise den Boys-Club der Rockmusik unterwandern, aushöhlen, obsolet machen wollen.
Wie einst Nirvana
Das tun Boygenius auf ihrem Debüt The Record nicht etwa laut, schrill, wütend. Sondern mit Sanftmut, melancholischer Ruhe und bockstarken Songs. Ist doch eh cleverer und nachhaltiger, das geballte Talent sprechen zu lassen, das die drei Künstlerinnen auch im Verbund auf wundersame Weise zu kanalisieren wissen. Und dann sind da eben noch die subtilen kleinen Spitzen, die Hinweise: Auf dem Cover ihrer ersten EP, die bereits 2018 erschien und ein langes Schweigen einläutete, sitzen sie genau so da wie Crosby, Stills & Nash auf ihrem Debüt. Und auf dem Rolling-Stones-Cover Anfang des Jahres stellen sie die Pose des Nirvana-Covershoots von 1994 nach. Kurt Cobain hätte das gefallen.
Warum wir eine reine Girl-Supergroup gebracht haben, wird schnell klar: Wo männliche Supergroups dann eben doch irgendwann an den exorbitanten Alpha-Male-Egos zerschellen wie Hagelkörner auf Asphalt, gehen Bridgers, Baker und Dacus die Sache beeindruckend egalitär und basisdemokratisch an. Niemand drängt sich in den Vordergrund, weil alle gleichberechtigt sind. Keine Frontfrau, keine Divaallüren. „Wir ziehen uns gegenseitig hoch“, so sagte Bridgers damals dem Rolling Stone. „Wir sind alle Leadsängerinnen und feiern uns gegenseitig dafür.“ Männer bekommen das eben irgendwie deutlich schlechter hin, ist einfach so.
Die Avengers der Indie-Welt
Das alles wäre natürlich nicht viel wert, wenn The Record nicht alle hohen Erwartungen spielend überflügeln würde. Es ist ein Album, um es kurz zu machen, das einem den Glauben an die Zukunft der Gitarrenmusik zurückbringt. Es ist mal laut, mal ahnungsvoll, mal zart, mal ruppig. Vor allem aber ist es ein homogenes, reifes Werk, das in seiner Lässigkeit die Jahrzehnte transzendiert. Offenkundig sind die Einflüsse der „Avegners der Indie-Welt“, wie eine enge Freundin der Band das mal auf den Punkt brachte: Classic Rock, die Laurel-Canyon-Szene, Grunge, der Folk von Crosby, Stills & Nash, von denen sie gleich auch die verschiedenen Gesangsharmonien haben.
Eins der ganz großen Highlights ist $20, ein furioser Rocker mit schroffer Lo-Fi-Gitarre, der sich plötzlich öffnet und von allen drei Stimmen ins Ziel getragen wird. Die Mehrheit des Materials ist ruhig, verträumt, am ehesten trifft es wohl lakonisch. Emily I’m Sorry etwa oder das kurze Leonard Cohen, inspiriert von einer unfreiwilligen Geisterfahrt der Drei auf einer kalifornischen Interstate. Die Ausbrüche wie Anti-Curse, in denen Baker von einer Nahtoderffahrung im Pazifik singt, läuten deswegen umso lauter, dringlicher. Dynamik ist König, das wissen die drei. Oder besser Königin.
Musste Rick Rubin draußen bleiben?
Sie wissen eh sehr viel. Wie schwer sie es haben würden, zum Beispiel. So kamen sie überhaupt erst auf ihren Namen Boygenius: Nach zahlreichen schlechten Erfahrungen mit vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden männlichen Kollaborateuren, die von der ganzen Welt gefeiert werden, nannten sie sich selbst so, um sich Mut zuzusprechen. Ob das auch für Rick Rubin gilt? Aufgenommen haben sie zumindest in dessen Shangri-La Studio in Malibu. Aber er hat keinen Recording Credit und durfte vielleicht nur kiffend im Garten sitzen. Vorstellbar.
The Record ist ein geniales Debüt. Es ist aber mehr, ein Instant-Klassiker, ein Album, das sich einreiht in die großen Singer/Songwriter-Momente der letzten 50 Jahre. Es ist radikal ehrlich, direkt, ungefiltert, unaufgesetzt und das Testament großen Willens. Alle Songs hätten auch auf den jeweiligen nächsten Alben der drei Solitärinnen auftauchen können. Aber dann würde ihnen etwas fehlen. The Record ist ein Album voller Risse, durch die das Licht hineingelangt, um bei Leonard Cohen zu bleiben. Ein heilsames Stück Musik, durchwirkt von Insider-Jokes, kleinen Hieben geben das Patriarchat und jeder Menge Beweise für diese besondere Freundschaft. Das wird Grammys hageln.
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Popkultur
Zeitsprung: Am 31.3.1958 veröffentlicht Chuck Berry „Johnny B. Goode“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 31.3.1958.
von Christof Leim
Das sind die Grundlagen des Rock’n’Roll, liebe Brüder und Schwestern. Hier kommt viel der großartigen Krachmusik her, die wir im Zeitsprung feiern: Am 31. März 1958 veröffentlicht Chuck Berry den Klassiker Johnny B. Goode. Keine drei Minuten lang ist das Ding, Bluesschema in A, dazu ein flotter Backbeat und eine heiße Leadgitarre, und ab geht die Revolution. Bei Songs wie diesem haben sie alle zugehört, die Beatles, die Stones und AC/DC.
Geschrieben hatte Chuck Berry die Nummer bereits 1955 über einen „country boy“, einen Jungen vom Lande, der nicht richtig lesen und schreiben kann, aber so mühelos Gitarre spielt, als müsse er nur eine Glocke läuten. Und eines Tages wird sein Name auf allen Plakaten stehen… Wie sich später herausstellt, singt Berry hier über sich selbst. Darauf weist alleine schon der Titel hin, denn der Musiker wurde in der Goode Avenue in St. Louis geboren. Nur anfangs diente sein Pianist Johnnie Johnson als Namenspate für den Song. Der spielt jedoch nicht mal mit; bei den Aufnahmen am 6. Januar 1958 in den Chess Studios in Chicago haut Lafayette Leake in die Tasten. Den Bass bedient der nicht ganz unbekannte Blueser Willie Dixon. Das markante Eingangslick leiht sich Chuck Berry vermutlich bei Ain’t That Just Like A Woman, einer Nummer von Louis Jordan aus dem Jahr 1946, und zwar Note für Note, wie man hier hören kann. Die Originalversion der Single samt Text findet ihr hier.
Urvater des Rock’n’Roll: Chuck Berry
Aus dem Stand ein Hit
Johnny B. Goode wird zum Hit beim Publikum, und zwar unabhängig von der Hautfarbe, was Ende der Fünfziger keinesfalls als selbstverständlich gesehen werden kann. Der Track erreicht Platz zwei in den Billboard Hot R&B Sides Charts und Platz acht in den Hot 100 Charts. Wo der Unterschied zwischen diesen Hitparaden liegt, wissen wir nicht, aber fest steht: Mit der Nummer ging was. Um das zu erreichen, muss Berry eine kleine Änderung im Text vornehmen: Ursprünglich singt er von einem „little coloured boy“, ändert das aber in „little country boy“, um auch im Radio gespielt zu werden. Keine einfachen Zeiten für einen Schwarzen als Rockstar.
Die Goldene Schallplatte an Bord der Raumsonde Voyager. Johnny fliegt mit.
Heute gilt Johnny B. Goode als der wichtigste Chuck-Berry-Song. Er wird mit Preisen geehrt und in Bestenlisten aufgenommen, nicht zuletzt wird er 1977 mit der Voyager in den Weltraum geschossen. An Bord dieser Raumsonde befindet sich nämlich eine goldene Schallplatte mit Audioaufnahmen von der Erde, etwa der Stimme eines Kindes, Klassik von Johann Sebastian Bach – und eben Rock’n’Roll von Chuck Berry.
Da kommt noch mehr
Vier weitere Stück schreibt der Sänger und Gitarrist im Laufe der Jahre über den Charakter Johnny B. Goode: Bye Bye Johnny, Go Go Go, Johnny B. Blues und Lady B. Goode. Außerdem nennt er ein Album und dessen 19-minütiges instrumentales Titelstück danach: Concerto In B. Goode. Einen weiteren Popularitätsschub erhält das Lied 1985 durch Film Zurück in die Zukunft mit Michael J. Fox.
Die Liste der Coverversionen ist endlos und streift alle möglichen Genres, sie reicht von Jimi Hendrix, AC/DC und Judas Priest über NOFX und LL Cool J bis zu Motörhead und Peter Tosh. Und vermutlich fetzt noch heute irgendwo eine halbstarke Nachwuchskapelle bei ihrer dritten Probe durch das Bluesschema in A.
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Zeitsprung: Am 7.9.1955 macht Chuck Berry den „Duck Walk“. Später freut sich Angus.
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