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Popkultur

Zeitsprung: Am 8.3.1995 verstirbt Helloween-Drummer Ingo Schwichtenberg.

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Ingo Schwichtenberg
Foto: Krasner/Trebitz/Redferns/Getty Images

"Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 8.3.1995.

von Matthias Breusch und Christof Leim

Ingo Schwichtenberg, Gründungsmitglied der Hamburger Metal-Band Helloween, gehört zu den tragischen Figuren der deutschen Musikgeschichte. Am 8. März 1995 nahm sich „Mr. Smile“ das Leben. Vorangegangen war ein quälender Abstieg.

Ein frühes Meisterwerk zum Reinhören: Helloweens Keeper of the Seven Keys, Pt.I:

Ingo Schwichtenbergs Stern als Schlagzeuger geht vergleichsweise spät auf. Mit 15 Jahren spielte er Klarinette im Schulorchester, als er dem wackligen Drummer des Ensembles spontan die Stöcke aus der Hand nimmt und sich selbst hinter die Kessel setzt. Damit hat er seine Berufung gefunden. Er entpuppt sich als Naturtalent.

Weg mit dem „a“!

Noch im selben Jahr kaufen ihm seine Eltern eine erste eigene „Schießbude“. Kurz darauf trifft er in der Nachbarschaft seines Viertels auf den zwei Jahre älteren Kai Hansen, einen ambitionierten Sänger und Gitarristen. Gemeinsam mit Bassmann Markus Großkopf und Gitarrist Michael Weikath werden sie zur Keimzelle jener Band, die ab 1984 Helloween heißen sollte. Auf Ingos Konto geht auch die Idee, das „a“ des Kostümfests Halloween in ein „e“ zu tauschen. Von den Kollegen wurde er wegen seiner stets positiven Art „Mr. Smile“ getauft.

Nach den Scorpions und Accept reifen Helloween zum kommerziell erfolgreichsten deutschen Heavy-Act der Achtziger mit maßgeblichem Einfluss auf diverse Subgenres der Krachmusik. Die Klassikeralben Keeper Of The Seven Keys: Part I & II avancieren 1987 und 1988 weltweit zur Blaupause für zahllose Nachahmer. Helloween gelten als Miterfinder des orchestralen Power Metal und des melodischen Speed Metal. Basis für die Glaubwürdigkeit ihrer gewitzt inszenierten Hochgeschwindigkeitsnummern: Ingos live ermüdungsfrei auf den Punkt genagelte Double-Bassdrums.

Eine Band auf Eis

Den höchsten Gipfel ihrer Karriere besteigen Ingo und Helloween 1988 auf dem dominierenden europäischen Freiluftfestival des Jahrzehnts, dem Monsters Of Rock im britischen Castle Donington. Dort teilen sie vor über 100.000 Zuschauern die Bühne mit Kiss, Guns N’ Roses und Iron Maiden. Allerdings verlässt Ingos Freund Kai Hansen im Januar 1989 die Band. Speziell von diesem Einschnitt soll sich Ingo nie erholt haben. Im selben Jahr gerät die Band zudem durch den Wechsel der Plattenfirma erst juristisch und zunehmend auch existenziell in schwieriges Fahrwasser.

Bis 1992 liegt die Karriere von Helloween praktisch auf Eis, Anwälte haben das Sagen. Ihr Ex-Label Noise Records aus Berlin wirft der Band und ihrer Londoner Management-Company Sanctuary vor, den Deal einseitig ohne stichhaltige Gründe gekündigt zu haben, bevor sie mit dem Branchenriesen EMI einen neuen Vertrag eingegangen sind. Ingo, der als Energiebündel die Bühne liebt und die Konzertreisen vermisst, entwickelt im „Hausarrest“ starke Depressionen und greift in großen Mengen zu Alkohol, Marihuana und Kokain.

Schwieriger Stilwechsel

1991 und 1993 erscheinen mit Pink Bubbles Go Ape und Chameleon zwei Alben, mit denen Helloween die Unterstützung vieler Fans verlieren. Vor allem Chameleon, dessen Instrumentierung mit Bigband-Blechbläsern der gelernte Klarinettist als das Tüpfelchen auf dem „i“ empfunden haben muss, sprengt die Toleranzgrenzen der konservativen Szenewächter. Es geht trotz exzellenter Kompositionen wie Music, I Believe und Crazy Cat komplett unter, die Truppe wird für ihren Stilwechsel in Kritiken verhöhnt. Die Platte enthält mit Step Out Of Hell aus der Feder von Hansen-Nachfolger Roland Grapow sogar ein Stück über Schwichtenbergs Alkohol- und Drogenprobleme.

Leider schafft es der Drummer aus dieser Abwärtsspirale nicht mehr heraus: Während der Chameleon-Tour verschlechtert sich sein psychischer Zustand zusehends. Dem Druck, in einer technisch anspruchsvollen Formation jeden Abend ans Limit gehen zu müssen, ist er immer weniger gewachsen. Während einer Show im japanischen Hiroshima bricht er schließlich zusammen. In der Folgezeit wird festgestellt, dass er an angeborener Schizophrenie leidet.

Rest in peace

Die Band entscheidet sich 1993 „schweren Herzens“ dazu, nicht mehr mit ihm weiterzuarbeiten, weil Ingo wenig von Therapien hält, seine Medikamente gegen schizophrene Ausfälle nicht nimmt und seinen Drogenkonsum nicht reduziert. Er sei davon überzeugt gewesen, er könne sich selbst am besten helfen und habe ärztlicher Hilfe stets misstraut. Am 8. März 1995 nimmt sich Ingo Schwichtenberg im Alter von nur 29 Jahren das Leben. Er wird in der Nähe der Hamburger S-Bahn-Haltestelle Friedrichsberg von einem Zug erfasst.

Helloween widmen Ingo das Album The Time Of The Oath (1996), sein Freund Kai Hansen den Song Afterlife vom Gamma-Ray-Werk Land Of The Free (1995). Sänger Michael Kiske, der mit den Keeper-Alben zu Metal-Weltruhm aufstieg, erinnert auf seiner ersten Soloplatte Instant Clarity mit dem Text der Ballade Always an Ingo Schwichtenberg. Metal-Fans weltweit können ihm dankbar sein für sein Spiel auf einigen wegweisenden Alben. Und wir sagen: Rest in peace.

Depressiv? Hier bekommst du Hilfe: Wenn du selbst depressiv bist oder Selbstmordgedanken hast, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du Hilfe von Beratern, die dir Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.

Zeitsprung: Am 29.8.1988 erscheint “Keeper Of The Seven Keys: Part II” von Helloween.

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