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Popkultur

Die musikalische DNA von KISS

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An kaum einer Rockband scheiden sich dermaßen nachhaltig die Geister wie KISS. Was für manche wie eine unmotivierte Faschingsparty aussieht, ist für andere die bestmögliche Unterhaltung. Es braucht aber keine Mitgliedschaft bei der KISS Army, um eins zuzugeben: Dass das Starchild, der Demon, der Spaceman und der Catman ihr Handwerk verstehen. Anders wären sie wohl kaum zur größten US-amerikanischen Rockband der siebziger Jahre geworden und hätten wohl keinesfalls mehr Platten verkauft als so ziemlich jede andere Band.


Hört euch hier KISS’ musikalische DNA als Playlist an und lest weiter:


Das gilt aber nicht nur für ihre Imagepflege und die opulenten Bühnenshows des Quartetts, das seit Anfang der achtziger Jahre diverse Line-Up-Änderungen mit ansehen musste. Auch in musikalischer Hinsicht zeichneten sich KISS durch stilistische Offenheit aus, die vielen ihrer Zeitgenossen noch bis heute abgeht. „Unsere alleroberste Regel ist ‚keine Regeln‘“, soll Paul Stanley mal geknurrt haben, als ihn jemand auf das legendär krumme Logo seiner Band ansprach. Das gilt eben auch im Studio. Mit einem Blick auf die musikalische DNA von KISS erfahren wir, was die Band neben einer satten Show noch so alles zu bieten hat – und das ist einiges!


1. Alice Cooper – Hello Hooray

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Der Godfather of Shockrock, Alice Cooper, gehört zur musikalischen DNA von KISS wie die Zunge zu Gene Simmons. Neben den New York Dolls prägtet er mit seinen dramatischen Auftritten, aber natürlich auch seiner Musik die Band von Anfang an. Ohne Cooper wären KISS nie zu der Band geworden, die sie heute sind.

Ace Frehley erinnert sich: „Als KISS gerade am Anfang standen und nicht mal einen Plattenvertrag hatten, schauten Paul und ich uns die Billion Dollar Babies-Show an. Alice war unglaublich!“ Insbesondere der Opener Hello Hooray hatte es den beiden angetan. Gegen den Vorwurf, sie hätten Cooper nachgeäfft, wehrte er sich: „Wir wollten theatralischen Rock aufs nächste Level bringen!“ Cooper selbst zeigte sich ebenfalls nicht pikiert: „Als KISS groß rauskamen, haben sie es smart angestellt – sie haben ja nie behauptet, das erfunden zu haben.“ Also: alles in Ordnung!


2. Slade – Mama Weer All Crazee Now

Vor allem aber schauten KISS musikalisch immer nach England und fanden dort mit Led Zeppelin, Eric Clapton und seinen diversen Bands sowie natürlich den Beatles ihre Inspiration. Gene Simmons gab sogar sehr direkt zu, sich großzügig in Übersee bedient zu haben: „Ich habe so viele englische Riffs nachgebaut“, sagte er. „Wenn es den britischen Einfluss nicht gegeben hätte, dann wären wir heute nicht hier. Rock and Roll All Nite ist ein direkter Abkömmling von Slades Mama Weer All Crazee Now.“

Die Glam-Pioniere Slade machten Anfang der siebziger Jahre große Wellen, die auch in den USA ankamen. Als sie 1975 selbst in die Vereinigten Staaten übersiedelten, floppte die Band allerdings. Der Exotenstatus allein garantierte ihnen keine große Karriere. Aber KISS hatten sie auf ewig geprägt. „Wir mochten die Art, in der sie eine Verbindung mit ihrem Publikum aufbauten und echte Hymnen schrieben“, so Simmons in seinem Buch Kiss and Make-Up. „Wir wollten dieselbe Energie, die gleiche unwiderstehliche Einfachheit.“ Es ist ihnen gelungen – vielleicht sogar besser als dem Original?


3. The Who – Won’t Get Fooled Again

Die Schockeffekte von Alice Cooper und der dandyhafte Charme von Slade waren nicht das Einzige, was KISS gleichermaßen musikalisch wie ästhetisch geprägt hat. Auch The Who gehörten zu einer der britischen Bands, die für das Quartett stilprägend wurde. Sowohl in Sachen Lautstärke als auch in Hinsicht auf die Zerstörungswut, die das „Starchild“ Paul Stanley auf der Bühne an den Tag legte. 2009 überboten KISS auf einem Konzert im kanadischen Ottawa mit 136 Dezibel alle Lautstärkerekorde. 1976 waren The Who noch in die Geschichtsbücher eingegangen – mit zehn Dezibel weniger.

The Who hatten als eine der ersten Bands die wuchtige Simplizität von Rock-Musik in neue Sphären gehoben. Hymnisch und doch beinhart klang die Band um Pete Townshend, deren Rock-Opern für KISS und ganze Generationen zum Vorbild wurden. Den im Original ganze achteinhalb Minuten langen Song Won’t Get Fooled Again spielen KISS noch bis heute in einer unnachahmlichen Coverversion auf ihren Konzerten. Eine Hommage an die britische Band, die KISS mehr als nur den perfekten Gitarrenzerschmetterungswinkel beigebracht hatte!


4. Donna Summer – I Feel Love

Dass KISS Ende der siebziger Jahre zunehmend mit dem grassierenden „Disco Fever“ kokettierten, nahm ihnen so mancher Rock-Fan übel. Disco stand damals für zwanghaften Hedonismus, exaltierte Outfits und exzessives Gehabe. Moment mal – das klingt doch eigentlich wieder sehr nach Rock’n’Roll? Oder zumindest nach KISS! Es ist eigentlich kaum verwunderlich, dass sich KISS vom Dance Craze der späten Seventies anstecken ließen, denn Disco-Songs waren so simpel und doch mitreißend wie ihre eigenen Songs.

Als 1978 auf dem ersten Gene Simmons-Soloalbum Donna Summer für einen Gastauftritt vorbeischaute, wunderten sich trotzdem einige Fans. „Ein paar Jahre lang war Donna die Disco-Königin. Niemand konnte ihr das Wasser reichen. Und anders als andere Disco-Artists der Zeit war sie glaubwürdig“, erinnerte sich Simmons nach dem Tod der Legende, die zeitweise sogar im selben Haus lebte wie er. „Die Donna, an die ich mich erinnere, war eine warmherzige und charmante Person.“ Nur schade, dass aus Burning Up With Fever kein zweites I Feel Love wurde. Aber Giorgio Moroders Monsterproduktion für Summer ist eben unschlagbar.


5. Hello – New York Groove

Simmons war nicht das einzige KISS-Mitglied aus der Originalbesetzung der Band, welcher 1978 debütierte – tatsächlich legten alle vier zugleich ihre ersten Soloalben vor. Ein Marketingcoup? Vielleicht. Vor allem bewiesen die vier LPs, wie breit das musikalische Spektrum der Bandmitglieder sein konnte. Ace Frehley hatte in Hinsicht auf den kommerziellen Erfolg allerdings die Nase vorn. Der charismatische Spaceman ging darauf auf Suche nach seinen musikalischen Wurzeln und vergaß darüber keineswegs den charakteristischen Glam-Sound, der KISS bekannt gemacht hatte.

Das Kernstück des Ace Frehley-Albums war – natürlich – ein Produkt der britischen Glam-Szene. Der vom Songwriter Russ Ballard geschriebene New York City Groove wurde von der kurzlebigen Band Hello bekannt gemacht, bevor ihn Frehley nach einem prägenden Besuch am New Yorker Time Square neu interpretierte. Mit seinem stampfenden Beat und dem funkigen Gitarrenriff klang das Stück bei Frehley um einiges tighter als im Original. In Britannien erfunden, in den USA veredelt!


6. Ludwig van Beethoven – Klavierkonzert No. 5

Neben Gene Simmons und Ace Frehley ist das „Starchild“ Paul Stanley oft untergegangen, obwohl sein zackiges Rhythmusspiel der Band überhaupt erst ihren notwendigen Drive gab. Tatsächlich war Stanley Bert Eisen, wie der Gitarrist mit vollem Namen heißt, von Anfang an auf Rock’n’Roll geeicht. Als Backfisch stand zuerst Doo-Wop auf dem Programm, bevor er die Beatles und die Stones entdeckte. Seine erste Gitarre war – enttäuschender Weise – eine rein akustische. Obwohl ihm die elektrische lieber gewesen wäre, so behalf er sich mit Coverversionen von Bob Dylan, den Byrds oder The Lovin’ Spoonful.

Eine ganz andere und vielleicht überraschende Passion Stanleys allerdings findet sich woanders. Schon in früher Kindheit stieß er auf die Musik Ludwig van Beethovens. „Als sehr junger Bursche schon hatte ich eine Verbindung zur Musik, die ich selbst kaum verstand“, erinnerte er sich. „Beethovens Kaiserkonzert zu hören war für mich monumental. Es war so majestätisch und kraftvoll…“ Bei aller Einfachheit steckt in der Musik von KISS eben viel Wissen, Leidenschaft und eine Komplexität, die auf der Oberfläche nicht immer zu erkennen ist. Da passt der aufrührerische Klassik-Komponist tatsächlich bestens ins Bild!


7. Louis Prima – Sing, Sing, Sing (With A Swing)

Auch Peter Criss hat mehr zu bieten als nur den spitzbübischen Katzenlook, der seine Zeit bei KISS prägte. Der Kindheitsfreund des New York Dolls-Drummers Jerry Nolan war in seiner Jugend nicht nur ein begeisterter Student der schönen Künste, sondern auch ein Swing-Fan, wie er Seinesgleichen suchte. So begann die Karriere von George Peter John Criscuola tatsächlich auch in der Jazz- und Big-Band-Szene von New York und dem nahegelegenen New Jersey, wo er unter anderem bei Gene Krupa sein Hand- und Fußwerk lernte.

Gene Krupa erlangte bereits in den dreißiger Jahren mit seinem druckvollen Spiel Berühmtheit. Die rollenden Toms am Anfang von Louis Primas Sing, Sing, Sing (With A Swing) wurden stilprägend. „Er ist der Grund, warum ich Schlagzeug spielen“, berichtete Criss vor einer Weile auf seiner Homepage. „Wenn ich das Wort Schlagzeug auch nur höre, denke ich an Gene Krupa! Wenn es ihn nicht gegeben hätte, klänge zeitgenössische amerikanische Musik ganz anders.“ So wie auch KISS wohl nie KISS gewesen wären ohne den Einfluss der Drum-Legende!


8. Van Halen – Jump

Wenn wir von KISS sprechen, dann dürfen wir uns allerdings nicht allein auf die legendäre Originalbesetzung der Band beschränken. Eric Carr, Vinnie Vincent, Mark St. John und Bruce Kulick hinterließen genauso ihre Spuren im Sound der Band wie es heute Tommy Thayer und Eric Singer an der Seite von Gene Simmons und Paul Stanley tun. Dass Ace Frehley die Band gleich zwei Mal – 1982 und nach seinem Wiedereinstieg im Jahr 1996 sechs Jahre später zum allerletzten Mal – verließ, wird von vielen Fans immer noch als herber Verlust eingeschätzt.

Wusstet ihr allerdings, wer den Spaceman beinahe an der Leadgitarre ersetzt hätte? Niemand Geringerer als Eddie van Halen! In seiner Autobiografie Kiss and Make-Up berichtet Gene Simmons davon, dass der Gitarrist wegen der Spannungen zwischen ihm und dem Van Halen-Sänger David Lee Roth die Band wechseln wollte, sich aber von seinem Bruder Alex und Simmons dazu überreden ließ, standhaft zu bleiben. Mit Erfolg: Roth verließ die Gruppe stattdessen und wurde durch Sammy Hagar ersetzt. Wie KISS wohl mit Eddie van Halen in der Rolle des Spacemans geklungen hätten?


9. Vinnie Vincent Invasion – Boyz Are Gonna Rock

Van Halen war nicht der Einzige, der sich für die Nachfolge Frehleys empfahl. Auch Punky Meadows, Doug Aldrich, Richie Sambora und sogar Yngwie Malmsteen hatten Interesse daran. Die Wahl fiel dennoch auf den damals eher unbekannten Vinnie Vincent, der als „Ankh Warrior“ der Band einen neuen Touch verpasste. Der Gitarrist debütierte 1982 auf Creatures Of The Night als Leadgitarrist der Band, hielt es aber nur zwei Jahre in der Position aus, bevor er von Mark St. John ersetzt wurde. Vincents Mitgliedschaft fiel allerdings mit einer entscheidenden Wende im KISS-Universum zusammen: 1983 zeigte sich die Band erstmals ohne Make-Up der Öffentlichkeit.

Sein virtuoses Gitarrenspiel hatte der italienischstämmige Gitarrist im Elternhaus verfeinert, denn sowohl der Vater wie auch die Mutter verdienten mit der Musik ihren Lebensunterhalt. Der Name Warrior leitete sich übrigens von Vincents alter Band ab, die er für KISS verließ. Einige der Songs aus dieser Zeit wie etwa Boyz Are Gonna Rock nahm er allerdings wieder auf, als er sich nach dem Ende seiner KISS-Mitgliedschaft mit der Vinnie Vincent Invasion einen Namen machte. Der Glam-geprägte Hard Rock-Sound macht nur allzu deutlich, warum Simmons ihn selbst Gitarrengöttern wie Malmsteen vorzog.


10. Momoiro Clover Z – Moon Pride

Aller Eskapaden zum Trotz: KISS sind immer noch dabei und nach wie vor spricht ihr internationaler Erfolg Bände. Ihre spektakulären Bühnenshows wurden stilprägend für den Rock-Zirkus, manchmal aber liehen sich auch waschechte Pop-Acts Ideen von der Band. Wie weit der musikalische Einfluss der Band reichte, zeigte sich allein an der Compilation Kiss My Ass: Classic Kiss Regrooved aus dem Jahr 1994. Lenny Kravitz und Stevie Wonder, die Mighty Mighty Bosstones, Dinosaur Jr., Garth Brookes sowie sogar Die Ärzte interpretierten darauf alte Hits der Band in einem neuen Gewand.

In kaum einem anderen Land aber konnten KISS einen dermaßen großen Erfolg verbuchen wie in Japan. Nachdem die Band selbst einige Inspiration aus der reichhaltigen Kabuki-Tradition des Inselstaats bezogen hatte, kam es zu einem regelmäßigen Austausch zwischen den Kulturen. Das Yoshiki-Cover von Black Diamond auf Kiss My Ass war dabei nur der Anfang: 2015 tat sich die Band sogar mit der Idol-Gruppe Momoiro Clover Z für einen Song zusammen. „Musik, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte“, urteilte Paul Stanley über die quietschige Gruppe. Da würden viele Fans sicherlich zustimmen… Eine der sicherlich ungewöhnlichsten Kollaborationen der Rockgeschichte!


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