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Popkultur

Zeitsprung: Am 21.5.1970 nehmen CSNY „Ohio“ auf, inspiriert von einer Tragödie.

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Foto: Cover

"Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 21.5.1970.

von Bolle Selke und Christof Leim

Beim Kent-State-Massaker erschießen Nationalgardisten im US-Bundesstaat Ohio ohne ersichtlichen Grund vier Studierende, die gegen den Vietnamkrieg protestieren. Der schreckliche Vorfall schockiert die USA und inspiriert Neil Young zum Song Ohio, einem der bekanntesten Protestsongs der Welt. Am 21. Mai 1970 Jahren nehmen Crosby, Stills, Nash & Young das Lied auf. Hier ist seine Geschichte.

Hier könnt ihr euch das Album So Far anhören:

Die Vorgeschichte: Am 1. Mai 1970, einem Freitag, versammeln sich kurz nach Mittag etwa 300 Studierende der Kent State University außerhalb von Cleveland auf dem grasbewachsenen Campus, um gegen Präsident Nixons Ausweitung des Vietnamkrieges nach Kambodscha zu protestieren. Sie kündigen eine weitere Kundgebung für den 4. Mai angesetzt an. Später in dieser Nacht, nachdem die dreistesten der jungen Leuten Läden in der Innenstadt von Kent zerstören, bittet der Bürgermeister den Gouverneur des Staates Ohio, James Rhodes, um Hilfe. Der holt die Nationalgarde ran, die zweite Instanz der militärischen Reserve der Streitkräfte der Vereinigten Staaten. 

Viel Randale

Am nächsten Abend brennt das sich auf dem Campus befindliche Gebäude des Reserve Officer Training Corps, eines der wichtigsten Rekrutierungsinstrumente der Armee während des Vietnamkrieges. Verantwortlich ist wahrscheinlich eine sehr kleine Gruppe unter den Beteiligten an den Aktionen. Der Republikaner Rhodes wiederum polarisiert stark, indem er die Teilnehmenden der Demo „schlimmer als Braunhemden“ (Nazis) und „kommunistische Elemente“ schimpft und bezeichnet sie als „die schlimmste Art von Menschen, die wir in Amerika beherbergen“.

Neil Young, David Crosby, Stephen Stills und Graham Nash 1970 – Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images

Am darauffolgenden Montag, dem 4. Mai, wartet die Menge auf die Mittagskundgebung, um gegen die Anwesenheit der Nationalgarde auf dem Campus sowie gegen Nixons Invasion in Kambodscha zu protestieren. Auf Geheiß der Nationalgarde gibt die Universität jedoch ein Verbot der Zusammenkunft bekannt. Die Studis versammeln sich trotzdem – und blicken über ein hügeliges Grün auf eine Phalanx von Soldaten. 

Die Soldaten schießen 13 Sekunden lang

Der Himmel ist wolkenlos, die Frühlingsluft warm und still. Im Laufe des Vormittags beginnt ein Teil der anwesenden Studierendenschaft, mittlerweile an die Tausend Leute, die Armeeangehörigen zu verspotten. Kurz nach Mittag zieht sich eine Gruppe aus der Garde kurz zurück, marschiert ein kurzes Stück in Formation – und schießt 13 Sekunden lang auf die Studierenden. Es werden mindestens 67 Schüsse abgegeben, einige Nationalgardisten verschießen ihr gesamtes Magazin mit acht Projektilen. 

Die Protestierenden sind nicht nur unbewaffnet, die meisten wissen auch nicht, dass die Gewehre der Wachen scharfe Munition enthalten. Vier junge Menschen sterben durch die Schüsse: Allison Krause, Jeffrey Miller, Sandra Scheuer und William Schroeder. Neun weitere werden verletzt. Zwei der Opfer sind völlig unbeteiligt und auf dem Weg zu Vorlesungen, die vier Getöteten sind im Durchschnitt über 110 Meter von den Schützen entfernt. Nach 50 Jahren weiß die Öffentlichkeit immer noch nicht, warum sich die Nationalgardisten umgedreht und geschossen haben.

„Four dead in O-hi-o“

Als Neil Young die verheerenden Bilder des Vorfalls in der Zeitschrift Life sieht, schreibt er, 2.500 Meilen entfernt, das perfekte Lied über das Kent-State-Massaker. Nur drei Wochen nach den Todesfällen, am 21. Mai, nehmen Crosby, Stills, Nash & Young das Stück bereits auf und veröffentlichen es als Single. Das Lied mit dem markanten Refrain „Four dead in O-hi-o“ läuft im Untergrund und Uniradio hoch und runter, während viele größere Sender die Ausstrahlung wegen der Kritik an der Regierung untersagen. Ohio wird zum Schlachtruf einer Generation für den Widerstand gegen die Nixon-Regierung und den Vietnamkrieg.

„Ich wusste, dass Jeff ein Fan von Neil Young war“, schreibt Chrissie Hynde später in ihren Memoiren Reckless: Mein Leben. „Ich war froh, dass Young zu unserem Sprecher, unserer Stimme geworden war. Er hatte großen Anteil daran, dass wir uns aus diesem Schock befreien konnten.“ Hynde, Frontfrau der britischen Rockband The Pretenders, hatte das Kent-State-Massaker persönlich miterlebt. Der Verstorbene Jeffrey Miller war der Freund einer ihrer Freundinnen.

„Das Mutigste, was ich je gehört habe“ 

Selbst heutzutage, im digitalen Zeitalter, stellte es eine Herausforderung dar, eine Single zu schreiben, aufzunehmen, zu mischen, zu mastern und innerhalb weniger Wochen bei einem großen Label zu veröffentlichen. Die Tatsache, dass Crosby, Stills, Nash & Young es in der Vinyl-Ära schaffen, darf man schon  ein kleines Wunder betrachten. Laut Crosby dauert die Aufnahme inklusive der B-Seite Find The Cost Of Freedom gerade mal 24 Stunden. Autor Jimmy McDonough schreibt in seiner Young-Biografie Shakey: „Neil Young hat in zehn Zeilen die Angst, Frustration und Wut der Jugendlichen im ganzen Land eingefangen und sie auf einen schwerfälligen Todesmarsch in der Tonfolge DADGAD gebündelt, der ihre Angst weghämmerte.“ Wem gelten die Frustration und die Wut der US-Jugend? Präsident Richard M. Nixon. 

Die Rückseite der Single-Hülle

Und Neil Young textet: “Tin soldiers and Nixon coming. We’re finally on our own. This summer I hear the drumming, Four dead in Ohio.” Auf Deutsch: „Zinnsoldaten und Nixon kommen. Wir sind endlich alleine. Diesen Sommer höre ich das Getrommel, Vier Tote in Ohio.“ Crosby sagt später, die Tatsache, dass Young Nixons Namen in dem Stück erwähnt, sei „das Mutigste“, was er „je gehört habe“. Schließlich schien es, „als würden diejenigen, die sich gegen Nixon stellten – wie an der Kent State University – erschossen. Neil Young schien überhaupt keine Angst zu haben.“

Lektion gelernt?

Der Komponist selbst hält in den Liner Notes seines Albums Decade, einer 1977 erschienenen Kompilation, fest: „Es ist immer noch kaum zu glauben, dass ich diesen Song schreiben musste. Es ist ironisch, dass ich vom Tod dieser amerikanischen Studenten profitiert habe. Wahrscheinlich die wichtigste Lektion, die jemals an einer amerikanischen Bildungsstätte gelernt wurde.“

Ohio wird im Juni 1970 veröffentlicht und erreicht Platz 14 der Billboard Charts. Auf einem Album taucht der Song nicht auf, sieht man von Compilations und Livemitschnitten ab. Dorian Lynsky nennt in der Zeitung The Guardian (Großbritannien) Ohio das „wohl größte Protestlied: bewegend, unvergesslich und zum perfekten Zeitpunkt erschienen.“

Zeitsprung: Am 30.4.1975 endet der Vietnamkrieg – mit „White Christmas“.

 

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