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Popkultur

Zeitsprung: Am 22.6.1987 erscheint das letzte Marillion-Album mit Fish: „Clutching At Straws“.

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Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 22.6.1987.

von Christof Leim und Tom Küppers

Das Leben nimmt manchmal die eine oder andere unerwartete Wendung. Marillion fahren 1984 mit ihrem dritten Album Misplaced Childhood und der megaerfolgreichen Auskopplung Kayleigh weltweit Triumphe ein. Ausverkaufte Konzerte, goldene Schallplatten, Fernsehauftritte: Die britischen Prog-Rocker führen jetzt das sorgenfreie Leben von Stars. Sollte man zumindest meinen. Doch hinter den Kulissen brodelt es bereits bedenklich. Die Produktion des Nachfolgers Clutching At Straws macht das nicht einfacher…

Hier könnt ihr in Clutching At Straws reinhören:

Dass es die Band überhaupt soweit geschafft hat, grenzt an ein kleines Wunder. Anfang der Achtziger Jahre dominierten New Wave, Dance und Pop die Hitparaden, doch die nach dem J.R.R.-Tolkien-Bestseller Silmarillion benannte Truppe ignoriert den Zeitgeist. Ihre progressive Musik, artverwandt mit Yes und den frühen Genesis, trifft trotzdem einen Nerv, vor allem bei den Hörern in Großbritannien, wo schon das Debüt Script For A Jester’s Tear (1983) ein waschechter Überraschungserfolg wird. Dem Nachfolger Fugazi (1984) ergeht es ähnlich, dank der Single Kayleigh starten die Briten mit dem dritten Studioalbum Misplaced Childhood (1985) dann außerhalb ihrer Heimat voll durch.

Aufgerieben

Es geht Schlag auf Schlag, ein Termin jagt längst den nächsten, und genau das wird zum Problem. Sänger Derek William Dick, besser bekannt als Fish, verrät 2009 in einem Interview mit einer schottischen Tageszeitung: „Unser Manager hat 20 Prozent der Bruttoeinnahmen kassiert und ordentlich verdient, während wir uns die Ärsche abgespielt haben.“ Dass sich der Frontmann zwischen Interviews und Bühne regelrecht aufreibt, ist Bassist Peter Trewavas Jahre später auch klar. Gegenüber Loudersound sagt er: „Wenn alle mit dir reden wollen, dann wird dir zeitlich einiges abverlangt. Vielleicht hätten wir etwas verständnisvoller sein sollen“.

Nach dem Ende der Misplaced Childhood-Tournee brauchen die Musiker eigentlich eine Pause. Management und Plattenfirma sehen das aber anders, sie wollen schnellstmöglich eine weitere Platte nachschießen. Um wenigstens ein bisschen Abwechslung von der Tretmühle zu bekommen, tappt die Band in einer der klassischen Karrierefallen und widmet sich in ihrer Freizeit Drogen und Alkohol, wie der Sänger unumwunden zugibt. Gepaart mit der Unzufriedenheit darüber, wie die Dinge intern ablaufen, bildet das den perfekten Nährboden für die Rolle des Torch, der lyrischen Hauptfigur des kommenden Albums Clutching At Straws. Angelegt als Schriftsteller, der an einer Schreibblockade leidet und an seinen Süchten kaputtgeht, sind die Parallelen zum Marillion-Sänger unverkennbar. Selbst das Alter von Figur und Erschaffer deckt sich: Fish ist Jahrgang 1958 und war demnach 1987 genau wie sein Alter Ego 29 Jahre alt. Und dafür studieren andere Psychologie…

Ab aufs Land

Auch musikalisch tut sich das Quartett schwerer als bisher. Um die hedonistischen Ausbrüche zumindest ansatzweise im Zaum zu halten, werden die Musiker in die britische Einöde geschickt, weit weg von den Clubs und Bars der Großstadt, irgendwo zwischen London und Brighton. Doch selbst dieser Ortswechsel hilft zunächst kaum, wie Produzent Chris Kimsey und Label-Abgeordnete während eines Besuchs feststellen. Das, was sie zu hören bekommen, beeindruckt sie überhaupt nicht, abgesehen von der ersten Single Incommunicado, einem Song, der irgendwann nach einem nächtlichen Pub-Ausflug zusammengeschustert wurde.

Keyboarder Mark Kelly hat ein eingängiges Motiv in petto, das seinen Sänger spontan an The Who erinnert. Doch der Rest der Band teilt diese Begeisterung leider weniger. „Ich wollte gerne rockigere Sachen machen, die anderen nicht“, sagt Fish. „Aber als ich die Nummer Chris Kimsey vorgespielt habe, meinte der sofort: Das ist die Single!“ Erst als die Vorabauskopplung Incommunicado im Mai 1987 auf Platz sechs der britischen Charts einschlägt, ist diese Diskussion beendet. Die zweite Single Sugar Mice erscheint im Juli und schafft es ebenfalls in die Top 30.

Die drei Singles: „Incommunicado“, „Sugar Mice“ und „Warm Wet Circles“

Zu persönlich?

Hier liegt nicht die einzige Meinungsverschiedenheit, mit der sich Marillion während der Aufnahmen herumschlagen. Dass Fish einer potenziell als Hit auserkorenen Komposition den Titel Warm Wet Circles verpasst, schmeckt seinen Kollegen nicht besonders. Außerdem empfinden sie den Seelenstriptease ihres Frontmanns als „klischeebeladen, kindisch und überdramatisiert“.

Gegen Ende der Aufnahmen schmeißt Fish dann ein Glas voll Whiskey nach Gitarrist Steve Rothery, worauf hin der die Band für gute 24 Stunden verlässt. Ein eilig geschlossener Burgfrieden kann genau so wenig über die immer offener auftretenden Spannungen hinwegtäuschen wie der Einstieg von Clutching At Straws auf Position zwei der britischen Verkaufscharts. (In Deutschland erreicht das Album Platz drei.)

Das große Schweigen

Auf der dazugehörigen Konzertreise spaltet sich die Band in zwei Fraktionen auf: Sänger Fish auf der einen Seite, der Rest der Band auf der anderen. „Im Tourbus zu sein, hat keinen Spaß gemacht. Wir saßen alle getrennt voneinander und haben kein Wort miteinander geredet“, heißt es später. Die Shows hingegen werden immer größer, wie Keyboarder Mark Kelly sich erinnert: „Ich stand weit entfernt ganz alleine auf einem riesigen Podest, als ob ich nur für mich spielen würde.“ Und das ganze Drumherum wird zusehends anstrengender: „Wir durften ohne Sicherheitsleute nicht mehr vor die Tür und mussten unter Pseudonymen in die Hotels einchecken“, berichtet Bassist Trewavas. „Wir konnten nicht einfach losgehen und einen Soundcheck machen. Dafür musste erst jemand kommen und uns einsammeln, damit wir am Hintereingang vorfahren können. Und das dauert dann 40 Minuten.“

Dass Fish allabendlich Songs über das fürchterliche Leben als Künstler aufführt, während er genau das gerade durchlebt, zermürbt ihn weiter. „Hätte ich ein paar verfluchte Abba-Songs gesungen, wäre es mir auf jeden Fall besser gegangen“, sagt er später. Als die Band sich nach über einem Jahr auf der Straße dem nächsten Album widmen will, platzt dem Sänger im Laufe einer Session endgültig der Kragen. Er schreibt seinen Kollegen einen Brief, in dem er die Absetzung des Managements fordert. Die lassen wiederum durch ihren Manager ausrichten, dass sie die Kündigung des Frontmanns akzeptieren…

Und heute?

Sowohl die Sololaufbahn von Fish als auch die weitere Karriere von Marillion mit neuem Sänger Steve Hogarth verlaufen nicht mehr in den ganz großen Erfolgsbahnen. Dennoch dürfen sich beide Formationen bis heute über beeindruckende Fanscharen erfreuen. Persönlich ist  zwischen den Musikern wieder alles im Reinen. Als Fish bei einem Soloauftritt 2007 in der Bandheimat Aylesbury „ein paar alte Freunde“ auf die Bühne bittet, findet die bis dato einzige Wiederbelebung der damaligen Besetzung Steve Rothery, Mark Kelly, Pete Trewavas und Ian Mosley (Drums) statt. Eine vollwertige Reunion hingegen schließen alle Beteiligten bis heute kategorisch aus.  

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Zeitsprung: Am 8.10.1983 veröffentlichen Yes „Owner Of A Lonely Heart“.

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