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Popkultur

25 Jahre „Le Frisur“: Das unfreiwillige Lockdown-Konzeptalbum der Ärzte

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Die jungen Ärzte. Foto: Frank Hempel/United Archives via Getty Images

„Richtig supi bist du nur mit einer schicken Haarfrisur“: Rechtzeitig zur Wiedereröffnung der Friseursalons erinnern wir uns an Le Frisur, das wohl abgedrehteste Punk-Konzeptalbum aller Zeiten.

von Björn Springorum

Auf dem Cover trägt sogar der Verstärker eine lange Matte: Le Frisur der Ärzte erscheint zu einem Zeitpunkt ihrer Karriere, an dem ihr Comeback einen ersten Zenit erreicht: Erst schießen sie 1993 mit Die Bestie in Menschengestalt in ungeahnte Mainstream-Regionen vor, im September 1995 legen sie mit Planet Punk ihr ganz persönliches Lieblingsalbum vor. Ein halbes Jahr später zeigen die Ärzte dann aber, dass sie wohl auf ewig die unberechenbare Konstante in der deutschen Rockmusik bleiben: Sie veröffentlichen ein Album, das sich vom ersten bis zum letzten Ton mit Friseur*innen und Frisuren auseinandersetzt. Und ordentlich Haare auf den Zähnen hat.

Hört hier das Album:

Mein Baby war beim Frisör,

und jetzt mag ich sie nicht mehr.

Mein Baby war beim Haareschneiden,

jetzt kann ich sie nicht mehr leiden.

Vorher war sie wunderschön,

jetzt kann ich sie nicht mehr sehen.

Das Leben ist schwer, das Leben ist schwer.

Mein Baby war beim Frisör.

(Mein Baby war beim Frisör)

Aktuelle Bedeutung

Das mag damals witzig, absurd, ironisch, albern oder einfach nur verdammt unterhaltsam geklungen haben. Im Pandemiejahr 2021 erlagt Le Frisur einen ganz anderen Symbolwert – ganz zufällig 25 Jahre nach der ersten Veröffentlichung. Deutschland trägt Matte, die Farbe rausgewaschen, die Dauerwelle hängt auf Halbmast, Ponys baumeln wie Gardinen vor den Augen, kurz: Nie war ein Land schlechter frisiert als Ende Februar 2021. Zur feierlichen Wiedereröffnung der Friseursalons kann man das wahrscheinlich ungewöhnlichste Album der Ärzte nochmal aus dem Regal ziehen und im Licht aktueller Ereignisse ganz neu goutieren.

Immer lustig und vergnügt

bis der Arsch im Sarge liegt

ballerst du durch diese Welt

Peter Maffay ist dein Held

(Vokuhila Superstar)

Das Cover des Albums

Die Wichtigkeit der Branche

Denn eines scheint ja festzustehen: Ohne den Friseursalon geht in diesem Land wenig bis gar nichts. Manche Salons öffneten in der Nacht auf den 1. März 2021 schon um Mitternacht, um die Krähennester, Zotteln und selbst verschnittenen Unfälle wieder auf Vordermann und Vorderfrau zu bringen. Damit man wenigstens im Home Office wieder in die Spiegel schauen kann. Der Ansturm war wohl gewaltig.

Die Assessors sind schon perfekt,

doch eins hast du noch nicht gecheckt.

Die glatte Haut dort im Gesicht

nein darauf steh’n die Frauen nicht.

Keine Frage dir fehlt der 3-Tage-Bart

(3-Tage-Bart)

17 Titel über die Frisur

Die Ärzte schienen schon vor 25 Jahren um die Relevanz dieses Themas zu wissen. Binnen zweier Wochen nehmen sie 17 Titel auf und präsentieren ihrer moderat begeisterten Plattenfirma ihre irrwitzige Idee, ein Konzeptalbum zum Thema Haare zu schreiben. „Unsere Firma dachte damals, dass wir mit Le Frisur totalen Mist gebaut hatten, weil sie sich weniger gut verkauft hatte. Aber darum geht‘s doch gar nicht. Wenn es nur darum ginge, wäre Dieter Bohlen der beste Musiker der Welt. Ist er aber nicht!“, so resümierte Farin Urlaub 2003. Also gönnen sie sich einen unfassbar sinnfreien Spaß, der es irgendwie sogar schafft, das altgediente Punk-Mantra No Future auf den Verzicht eines Friseursalonbesuchs zu münzen. Muss man auch erst mal schaffen:

Früher warst du beliebt, du konntest jede kriegen.

Jetzt bist Du abgestiegen. Oh, woran mag das wohl liegen?

Keine Freunde ohne neue Haarfrisur.

Keine Arbeit ohne neue Haarfrisur.

Keine Frauen ohne neue Haarfrisur.

Keine Zukunft ohne neue Haarfrisur.

(No Future (Ohne Neue HaarFrisur))

Und in der Tat: Le Frisur ist eines der am wenigsten gut verkaufte Ärzte-Album der letzten 30 Jahre. Aber irgendwie auch das Originellste. Ihr typischer Punkrock der Neunziger mischt sich mit Crossover-Versatzstücken (Haare), tiefgestimmtem Metal-Gebolze (Dauerwelle vs. Minipli), loungiger Barber-Shop-Pausenmusik (Der Afro von Paul Breitner), Surf-Pop (Drei-Tage-Bart), Ska (Motherfucker 666), Tavernen-Folk (Kaperfahrt) und jeder Menge Raum für ihren textlichen Wahnsinn und Humor. Hair Today, Gone Tomorrow zum Beispiel, die ultimative Männerglatzen-Prognose, ist an den Ramones-Song Here Today, Gone Tomorrow angelehnt.

Wir haben uns kennengelernt, auf dem Metall-Konzert,

erste Reihe vorne links.

Wir bangten wie verrückt, von der Musik verzückt,

da kam vom Schicksal der Wink.

Als mein Haar sich in Deinen verfing, funkte es zwischen uns,

mein Herz wollte zerspringen.

Ich verliebte mich in Dich, da schoß mir etwas in den Sinn,

eine Angst tief in mir drin.

Wirst Du mich noch lieben, wenn ich mal kahl bin?

(Hair Today, Gone Tomorrow)

Gut gealtert

Weia, es gibt nicht wenige Männer, insbesondere in der Metal-Welt, denen schon mal ähnliche Gedanken durch den (noch) behaarten Kopf gingen. Die Ärzte haben sogar das erkannt und feinfühlig in Songs gepackt, die erschreckenderweise besser gealtert sind als viele andere ihrer liederlichen Exempel der Neunziger. Man merkt schon: Bela, Farin, Rod haben hier wirklich nichts unversucht gelassen, um das weite Feld der Frisurenwitze vollständig abzugrasen. Und müssen in den zwei Wochen der Aufnahmen wahrhaft besessen gewesen sein von diesen langen Hornfäden, die uns aus allen möglichen Poren sprießen.

Haar

Lass es leben!

Gott hat’s mir gegeben!

Mein Haar.

Lass es spielen im Wind.

Lass drin wühlen ein Kind.

Mach daraus für die Laus ein Zuhaus!

Bau im Haargeäst dem Star ein Nest!

Wie wunderbar, wie sonderbar,

ein Welt allein für sich, das ist mein

Haar

(Haar)

Der ultimative Soundtrack für die aktuelle Zeit

Vor 25 Jahren lachten wir noch über so viel absurde Einfälle. Heute, nach drei Monaten ohne Smalltalk auf dem Frisurenstuhl, müssen wir alle langsam einsehen, dass die Ärzte schon damals den gesellschaftlichen Wert dieses Berufsstandes erkannt und auf ihre Weise honoriert haben. Friseursalons sind am Ende des Tages vielleicht sogar der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft vor der Schwelle des Wahnsinns bewahrt – und Le Frisur ist der ultimative Soundtrack für fallende Locken, gefärbte Strähnen und gepflegte Moustaches. Ob man so eine Auszeichnung jetzt in seiner Vita haben möchte oder nicht: Dieses Album ist bis heute das allgemeingültige Punkrock-Album zum Thema Kopf- und Gesichtsbehaarung.

Vielleicht war es ja aber auch nur eine humorvolle und hinterhältige Aktion, um von ihrer Plattenfirma loszukommen. Ihr nächstes Album 13, veröffentlicht drei Jahre nach ihrem Frisurenfiasko, erscheint erstmals bei ihrem eigenen Label Hot Action Records. Es sollte ihre bislang erfolgreichste Platte werden. Haarsträubender waren sie aber nie wieder.

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