Popkultur
Die musikalische DNA von James Brown
Mr. Dynamite. The Soul Brother No. 1. The Godfather of Soul. The Hardest Working Man In Show Business. Sex Machine. Die Reihe von Spitznamen allein zeigt, was für ein Typ James Brown war und welche Bedeutung er für die Entwicklung der gesamten Pop-Geschichte hatte. „Er war beinahe ein Musikgenre für sich“, sagte ein ehrfürchtiger Jimmy Page einmal über den Entertainer. „Er veränderte und entwickelte sich ständig, sodass sein Publikum von ihm lernen konnte.“ Zu diesem Publikum gehören sie alle: Angefangen mit seinem vielleicht größten Fan Michael Jackson hin zu unzähligen Rockbands und den tausenden von Rap-Artists, die für ihre Tracks Drum-Breaks und Vocals aus seinen Songs sampelten.
Hör dir hier James Browns musikalische DNA als Playlist an und lies weiter:
Der Erfolg Browns liegt nicht nur in viel Leidenschaft, sondern auch harter Arbeit begründet. Hart war er aber auch zu anderen. Von seiner Band verlangte er ungebrochene Disziplin, jedes Mitglied musste Abend für Abend genauso wie der Chef zum Äußersten gehen. Er selbst schonte sich nie und verschleppte mehr als eine Krankheit, weil er lieber auf die Bühne stürmte anstatt im Wartezimmer eines Arztes Däumchen zu drehen. Im Privaten indes verlor er häufig die Kontrolle – insbesondere gegen Frauen. Physische Gewalt und sogar Vergewaltigung wurden Brown vorgeworfen. Der Mann mit den vielen Spitznamen hatte viele Gesichter und nicht jedes davon war schön anzusehen.
Mit seiner Musik allein hat Brown viel Gutes getan. Songs wie Say It Loud – I’m Black and I’m Proud drückten nach Jahrhunderten von Unterdrückung und Rassismus ein neues Selbstbewusstsein aus, das bis heute noch ganze Generationen von KünstlerInnen beeinflusst. Und Brown selbst? Von wem hat sich der Godfather of Soul beeinflussen lassen? Wir finden es raus! Mit Blick auf die musikalische DNA von James Brown werden wir herausfinden, was den Mann mit den vielen Spitznamen so vielseitig machte.
1. Louis Jordan & His Tympany Five – Caldonia
Früh übt sich, weiß der Volksmund zu berichten. Das stimmt auch im Falle von James Brown. Schon als junges Kind stand der Knirps bei Talentwettbewerben auf der Bühne, das erste Mal im zarten Alter von elf Jahren im Lenox Theater in Augusta, Georgia – angeblich mit der unvergesslichen Ballade So Long. Von da an hatte es den Jungspund gepackt. Er lernte Klavierspielen, brachte sich seine ersten Kniffe auf der Gitarre bei und meisterte sogar die Mundharmonika.
Den Ausschlag dafür gab ein ganz bestimmter Song: „Mein Einfluss war Louis Jordan, der einen Song namens Caldonia aufnahm sowie weitere Stücke, die in den fünziger und späten vierziger Jahren groß waren“, so Brown selbst. Er selbst nahm wie viele andere Größen der damaligen Zeit – darunter etwa B. B. King – eigene Coverversionen des Jump-Blues-Stücks auf. Insbesondere Jordans exaltierter Gesangsstil wird es ihm angetan haben. Der kieksiger Sprechgesang Jordans, der viel Wert auf mitreißende Dynamiken legte, wurde später von Brown perfektioniert.
2. The Staple Singers – The Old Landmark
Mit nur dreizehn Jahren scharte Brown bereits Musiker um sich, um seinen Traum in die Tat umzusetzen. Es sollte zuerst aber anders kommen. Lediglich drei Jahre später ging es für den jungen Wilden zuerst einmal ins Kittchen. Und weil es ihm dort langweilig wurde, gründete er flugs sein eigenes Gospel-Quartett und widmete sich auch nach seiner frühzeitigen Entlassung der spirituellen Musik, die in vielen seiner Songs nachhallt.
Ein kleines Highlight in Browns Karriere war zweifellos sein Auftritt im Kultfilm Blues Brothers, in welchem er seine Gospel-Leidenschaft voll ausleben konnte. In seiner Rolle als verschwitzter und heiserer Prediger war der Sänger schließlich voll in seinem Element! Wenn er mit der Gemeinde den Klassiker The Old Landmark spielt, der unter anderem in der Version der Staple Singers zu einem großen Hit wurde, dann wird das Kirchenschiff schnell zum Dancefloor. Da kann selbst ein abgebrühter Blues Brother nur ehrfürchtig zittern…
3. The Orioles – Baby Please
Bevor Brown als Solokünstler seinen endgültigen Durchbruch feiern konnte, schloss er sich verschiedenen Bands an. Als Sänger der Famous Flames konnte er aber die Grundlagen für seinen späteren Welterfolg legen. Try Me oder Please, Please, Please waren bittersüß eingefärbte Songs, die dem Rhythm and Blues-Genre einen balladesken Anstrich gaben. Kein Wunder, kamen die Einflüsse der Band doch von Gruppen wie Hank Ballard und seinen Midnights, Billy Ward und den Dominoes oder den Orioles.
Die Orioles gehörten zu den ersten Gruppen, die ausgehend von Rhythm and Blues, Doo Wop und dem Blues einen neuen Sound zu schmieden begannen, der vor komplexen Vocal-Arrangements ebenso wenig zurück schreckte wie vor dem Einsatz von Kammerorchestern. 1951 coverte die Band das Blues-Stück Baby Please, das laut dem Musikjournalisten Larry Birnbaum für den ersten Hit der Flames Pate stand: Please, Please, Please.
4. Little Richard – Lucille
„Moment mal“, werden nun Fans protestieren. „Alles Quatsch! Die Inspiration für das Stück kam doch von jemand ganz anderem!“ Und ja, es gibt zum Signature-Song der Flames noch eine andere Geschichte, die niemand Geringeren als Little Richard zur Hauptfigur hat. Von dieser Geschichte existieren mehrere abweichende Versionen, sicher indes scheint der ungefähre Ablauf: Brown und seine Band fragten den Rock-Pionier, ob sie ihn auf der Bühne begleiten dürften. Der lehnte zwar ab, ließ die junge Truppe aber in der Pause ihr Ding machen – und war so angetan von ihr, dass er sie an seinen Manager Clint Brantley verwies.
Brantley schickte sie direkt weiter zur nächstbesten Radiostation, wo sie eine gewisse Nummer mit dem Namen Please, Please, Please aufnahmen. Die Lyrics sowie die passende Musik dazu soll Brown geschrieben haben, nachdem der Lucille-Sänger die titelgebenden Worte auf eine Serviette gekritzelt hatte. Was stimmt nun also? Vermutlich beides, denken wir. Obwohl Little Richard den ersten Impuls für das Stück gab, so hallt darin immer noch der Doo Wop-orientierte Herzschmerz-Sound der Orioles nach. Ist doch ein guter Kompromiss, oder?
5. Fela Kuti – Viva Nigeria
Browns eigenwilliger und für seine Zeit absolut visionärer Sound wurzelte allerdings nicht nur in den Genres, die sich zu seiner Zeit in den USA breit machten. Er schaute stattdessen auch nach Afrika, wo einigen Musikhistorikern zufolge die gesamte Pop-Geschichte ihren Anfang nahm. Während der sechziger Jahre traten die Blues- und Gospel-Elemente in Browns Musik zurück, die Rhythmen wurden härter… Kurzum, der Funk war geboren!
Gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre beschäftigte sich Brown noch entschiedener mit afrikanischer Musik und kam dabei natürlich nicht um Fela Kuti herum. Die beiden sollen sich gegenseitig beeinflusst haben. Laut Kutis Drummer Tony Allen soll Brown sogar seinen Bandleader David Matthews auf ein Konzert der nigerianischen Band geschickt haben, um sich Notizen zu machen. Und Browns ehemaliger Bassist Bootsy Collins erinnert sich an einen legendären Auftritt in Lagos, bei dem die dortige Afrobeat-Szene den Soul Brother No. 1 mit offenen Armen empfing.
6. Fred Wesley & The Horny Horns feat. Maceo Parker & Mike E. Clark – Four Play
Die komplexen, unwiderstehlichen Grooves des Afrobeats wurden so nahtlos in die Musik Browns übertragen. Nicht das einzige Genre, von dem er sich die besten Elemente heraus pickte, um sie in sein klangliches Gesamtbild zu integrieren – zum Leidweisen seiner Bandmitglieder. Denn nicht selten folgte auf eine stilistische Neuorientierung ein Besatzungswechsel. Fred Wesley beispielsweise gehört zu den Musikern, die neben Maceo Parker in den sechziger und siebziger Jahren als Ko-Songwriter maßgeblich den neuen, an Jazz geschulten Funk Browns mitprägten.
„Ich war nicht nur Bandleader, sondern Psychologe. Ich musste mich um Psycho-James kümmern, genauso um die Musiker und die Tontechniker“, erzählt Wesley rückblickend in einem Interview. „Ich musste alles am Laufen halten. Jeder Musiker, der bei James Brown spielte, war irgendwann so angenervt, dass er gehen wollte.“ Seine Leidenschaft für Bebop konnte er da nur bedingt ausleben und verabschiedete sich 1975 von der Band, als Brown den nächsten Stilwechsel forcierte. Ohne Wesley, Parker und andere aber hätte der Hardest Working Man In Show Business aber sicher nicht den Sound schmieden können, der ihn damals von allen anderen absetzte.
7. David Bowie – Fame
Warum Wesley damals das Handtuch schmiss? Nein, es lag nicht allein an seiner eigenen Drogensucht. Vielmehr waren es musikalische Gründe, die ihn zum Weggang bewegten. „Weil er, der Erfinder des Funk, auf einmal wollte, dass ich die Musik anderer für ihn kopiere: Fame von David Bowie etwa oder die Afro-Funk-Sachen“, so Wesley. „Wir hatten bis dahin immer neue Musik geschaffen. Und jetzt sollte ich auf einmal kopieren? Noch dazu Musik, die zum Teil von James Brown kopiert und inspiriert war? Nein.“
Dann eben ohne Wesley: 1976, ein Jahr nach dessen Ausstieg, veröffentlichte Brown einen Hit (I Need To Be Loved, Loved, Loved, Loved), der auf einem Hauptriff aufbaut, das von David bowie und dem Gitarristen Carlos Alomar geschrieben wurde. Kein Wunder eigentlich, dass die beiden das zuließen: Alomar war zuvor selbst schon Teil von Browns Band gewesen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass sich Brown auch mal von einem Weißbrot wie Bowie eine Scheibe abschnitt.
8. MFSB – Love Is The Message
Aber so war Brown: Er hatte immer ein Ohr am Puls der Zeit. Was ihm Wesley vorwarf – diejenigen zu imitieren, die von ihm beeinflusst waren – lässt sich auch positiv deuten: Brown nahm dankend an, was mit seiner Musik veranstaltet wurde und dachte es selber weiter. Als sich Ende der sechziger Jahre in der Bathhouse-Szene New Yorks Männer trafen, um zu treibender Musik – darunter natürlich auch viele Klassiker der Sex Machine – Drogen zu konsumieren und ihre Homosexualität frei auszuleben, war noch nicht abzusehen, was eines Tages daraus werden würde. Beinahe hätte auch Brown die Geburtsstunde von Disco verpasst. Weil er aber Mitte der siebziger Jahre eine kommerzielle Durststrecke durchlief, suchte er auf dem Dancefloor neue Inspiration.
Als Brown 1979 ein Album mit dem etwas protzigen Titel The Original Disco Man veröffentlichte, war die Discomania jedoch bereits an seinem Zenit angekommen. Eins aber müssen wir Brown zugutehalten: Statt sich am klinischen Euro-Disco-Sound von Giorgio Moroder und Co. zu orientieren oder den New York-Style zu kopieren, horchte er lieber nach Philadelphia, wo Kollektive wie MFSB Disco-Musik schmiedeten, die zugleich mitreißend und komplex arrangiert war. So wie Brown es selbst vorgemacht hatte und wie er es wieder und wieder perfektionierte. Es ist doch keine Schande, sich von den nachfolgenden Generationen inspirieren zu lassen!
9. Afrika Bambaataa – Planet Rock
Dasselbe gilt auch für die achtziger und neunziger Jahre, in denen das aufstrebende Hip Hop-Genre den klassischen schwarzen Musikstilen wie Soul und Funk den Rang ablief. Afrika Bambaataas Planet Rock gilt als eine der maßgeblichen Rap-Platten. Als Grundlage dafür dienten gleich zwei Kraftwerk-Songs – Numbers und Trans Europe Express –, das Fundament aber war ein funkiger Groove, wie ihn James Brown der Welt beigebracht hatte. Nur die Mittel waren andere: Statt dem Funky Drummer Clyde Stubblefield war eine Roland TR-808 zu hören.
Der Sound der japanischen Drummachine hallt auch in Unity nach, der gemeinsamen Single von Afrika Bambaataa mit James Brown. Es sollte nicht seine einzige Stippvisite in dem Genre sein, als dessen Vordenker er bis heute gilt: 1992 stattete er MC Hammer in einem Video einen Besuch ab, was durchaus als respektvolle Geste seitens des Ballonhosenträgers zu verstehen war: Ohne Browns Musik, die so oft im Rap gesampelt wurde, und seine legendären Tanzeinlagen, die ihrerseits einen immensen Einfluss auf die B-Boy- und Girl-Kultur hatten, dürften es weder Bambaataa noch Hammer in die Charts geschafft haben.
10. Public Enemy – Fight The Power
Es gibt noch so viele andere Musiker, die James Brown Zeit seiner langen Karriere beeinflusst haben – von Frank Sinatra bis Ray Charles. Wer aber seinen Einfluss verstehen will, muss zwangsläufig nachvollziehen, wie sich Brown mit den unterschiedlichen Strömungen seiner Zeit auseinandergesetzt hat. So nämlich wird klar, dass von Louis Jordans Caldonia hin zu Afrika Bambaataa und MC Hammer eine Traditionslinie besteht, die der Godfather of Soul wie kein zweiter geprägt hat. Das kurze Drum-Break Stubblefields in Funky Drummer gehört zu den meistgesampelten überhaupt und stellt die Grundlage für unzählige Hip Hop-Tracks. So auch Fight The Power von Public Enemy, die mit Alben wie Fear Of A Black Planet die Brownsche Losung Say It Loud – I’m Black and I’m Proud auf ein neues Level hoben.
Ob es ein Zufall ist, dass die Gruppe denselben Namen trägt wie ein James Brown-Song vom Album There It Is? Wohl kaum! Und sicher ist auch, dass ohne Browns markanten Sprechgesang dieses Ding namens Rap niemals möglich gewesen wäre. Es hat ihm eben nicht gereicht, den Funk zu erfinden – Brown hatte als Musiker schon immer noch größere Pläne. Er wurde ja schließlich nicht umsonst The Hardest Working Man In Show Business genannt. Also, unter anderem.
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Popkultur
„Monsters Of California“: Alles über den UFO-Film von Blink-182-Sänger Tom DeLonge
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von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Nine von Blink-182 anhören:
… genau. In Monsters Of California hängt der Teenager Dallas Edwards am liebsten mit seinen verpeilten Freund*innen herum. Eines Tages findet die südkalifornische Clique zufällig einige Unterlagen von Dallas’ Vater, die darauf schließen lassen, dass er beruflich mit mysteriösen und paranormalen Ereignissen zu tun hat. Die Jugendlichen verknüpfen ihre Erkenntnisse miteinander, stellen Theorien auf — und werden auf einmal von uniformierten Männern mit Maschinengewehren umstellt. Spätestens jetzt wissen sie, dass etwas Großem auf der Spur sind. Doch sie haben natürlich noch keine Ahnung, wie groß ihre Entdeckung wirklich ist …
Tom DeLonge: Pop-Punk-Ikone und UFO-Fan
Die meisten kennen Tom DeLonge als Sänger und Gitarrist der erfolgreichen Pop-Punks Blink-182. Doch der Kalifornier ist auch ein ausgewiesener Alien-Fan, der sich in seiner Freizeit ausgiebig mit UFO-Sichtungen, Area-51-Theorien, außerirdischen Lebensformen und paranormalen Aktivitäten beschäftigt. (Mit dem Song Aliens Exist vom Blink-182-Album Enema Of The State brachte er DeLonge beiden Leidenschaften 1999 unter einen Hut — und genau diese Nummer ist natürlich auch im Trailer von Monsters Of California zu hören.) Immer wieder hinterfragt und forscht er im Namen der Wissenschaft nach Aliens und sucht Erklärungen für diverse Verschwörungstheorien. Schräg, oder?
DeLonges Engagement geht so weit, dass er am 18. Februar 2017 zum Beispiel den „UFO Researcher of the Year Award“ von OpenMindTV verliehen bekam. 2015 erzählte er in einem Interview von einer mutmaßlichen Begegnung mit Außerirdischen — während eines Camping-Trips nahe der sagenumwobenen Area 51. „Mein ganzer Körper hat sich angefühlt, als sei er statisch aufgeladen gewesen“, versicherte der Sänger. Auch Freunde von ihm könnten über Begegnungen mit Aliens berichten. Außerdem verfüge er über Regierungsquellen und auch sein Telefon sei aufgrund seiner Forschungen schon abgehört worden. Wenn er meint …
Monsters Of California: Wann startet der erste Film von Tom DeLonge?
In den USA läuft Monsters Of California am 6. Oktober 2023 an, doch wann der Streifen in Deutschland erscheinen soll, ist bisher nicht klar. So oder so: Der Trailer verspricht mindestens einen unterhaltsamen Kinobesuch — nicht nur für Blink-182-Fans.
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Popkultur
Zeitsprung: Am 29.9.1986 trumpfen Iron Maiden erneut auf mit „Somewhere In Time“.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 29.9.1986.
von Christof Leim
In den Achtzigern stürmen Iron Maiden von einem Triumph zum nächsten. Dabei reiben sie sich fast bis zur Überlastung auf, halten aber konsequent Kurs und Niveau und entdecken neue Sounds. Am 29. September 1986 erscheint Somewhere In Time – und Eddie wird zum Cyborg.
Hier könnt ihr das Album hören:
Die Geschichte von Somewhere In Time beginnt mit völliger Erschöpfung. Kann nach einer Welteroberung schon mal passieren: 1984 hatten die fünf Briten auf der World Slavery Tour elf Monate lang in 28 Ländern auf vier Kontinenten gespielt – und zwar satte 193 Shows vor geschätzten 3,5 Millionen Fans. Der Preis: Bruce Dickinson (Gesang), Steve Harris (Bass), Dave Murray (Gitarre), Adrian Smith (Gitarre) und Nicko McBrain (Schlagzeug) sind fix und fertig. Deshalb fordern die Musiker sechs Monate Pause. Daraus werden zwar nur vier, doch zum allerersten Mal seit Jahren steht die Maiden-Maschine ein Weilchen still.
Neues Spielzeug
Die Konsequenzen hört man: Harris, Smith und Murray experimentieren mit Gitarrensynthesizern, mit denen sich Keyboardsounds über die Gitarre und den Bass erzeugen lassen. Dickinson indes zweifelt an seiner Motivation und will musikalisch in eine andere Richtung. Er komponiert vor allem akustisches (also stromloses, ruhiges) Material, das von den Kollegen und dem Produzenten aber abgelehnt wird. Der Sänger zeigt sich verletzt, freut sich aber darüber, für eine Weile „nur“ singen zu müssen. Für ihn springt Adrian Smith in die Bresche und liefert im Alleingang mehrere fertige Tracks, die auf einhellige Begeisterung stoßen und Somewhere In Time maßgeblich prägen sollten.
Futuristische Fahrzeuge, klassische Patronengurte: Iron Maiden auf dem Pressefoto für „Somewhere In Time“ – Foto: Aaron Rapoport/Promo
Erst im Januar 1986 geht es zurück ins Studio, genauer: in mehrere Studios. Drums und Bass nehmen Iron Maiden in den Compass Point Studios auf den Bahamas auf, in dem auch AC/DC Back In Black eingespielt hatten. Gitarren und Gesänge bringen die Musiker in den Wisseloord Studios im niederländischen Hilversum auf Band, abgemischt wird schließlich in den Electric Lady Studios in New York. Damit wird Somewhere In Time nicht nur zum teuersten Album der bisherigen Bandkarriere, sondern auch zum technisch ambitioniertesten. Wie für die Beständigkeit in der Maiden-Welt der Achtziger typisch, ändert sich an der sonstigen Formel wenig. Die Produktion übernimmt ein weiteres Mal Stammproduzent Martin Birch.
Fünf Minuten mindestens
Somewhere In Time erscheint am 29. September 1986 und steigt in Großbritannien auf Platz drei ein. In den USA schafft die Band mit Platz elf ihre bis dato beste Platzierung. Auf dem Cover prangt natürlich das unvergleichliche Iron Maiden-Monster Eddie in einem aufwändigen Science-Fiction-Gemälde. Schon im Intro der ersten Nummer, dem vom Film Blade Runner inspirierten Quasi-Titelstück Caught Somewhere In Time aus der Feder von Steve Harris, hören die Fans die besagten Gitarren-Synthesizer. Doch am grundsätzlichen Stil von Iron Maiden hat sich nichts geändert. Es galoppiert der Bass, wie es sich gehört, die Gitarren riffen, und Dickinson lässt seine Sirenenstimme aufheulen. Wo Iron Maiden drauf steht, ist Heavy Metal drin, vermutlich bis ans Ende aller Tage. Allerdings klingt Somewhere In Time insgesamt weniger rau, sondern bei gleichem Energieniveau erwachsener, vielschichtiger und, wenn mal so will, futuristischer.
Von den acht Songs fällt keiner kürzer aus als fünf Minuten aus, das Gros stammt von Steve Harris, drei Beiträge kommen von Adrian Smith. Dazu gehört die erste Single Wasted Years, in der Maiden so eingängig klingen wie es nur geht, ohne ihren eigenen Sound zu verlieren. Der Text erzählt von Heimatlosigkeit und Entfremdung – ein klarer Kommentar zur endlosen World Slavery Tour. Als Wasted Years drei Wochen vor dem Album als Single ausgekoppelt wird, sieht man auf dem Cover das Cockpit einer Zeitmaschine, in deren Armaturenbrett sich der Kopf von Eddie spiegelt. Der Grund: Sein neues Aussehen sollte nicht vor Erscheinen des Albums verraten werden, schließlich hat das Maskottchen mittlerweile Kultstatus erreicht.
Auf der Vorabsingle durfte Eddie sich noch nicht ganz zeigen…
Filme und Bücher als Inspiration
Das folgende Sea Of Madness, ein dramatischer Uptempo-Banger, stammt ebenfalls von Smith, setzt aber keine besonderen Akzente. Für Heaven Can Wait, einen Harris-Song über eine Nahtoderfahrung, rekrutieren Maiden die Gäste einer Kneipe, um die „Oh-Oh“ -Fußballchöre im Mittelteil einsingen zu lassen.
Das ebenso harte wie vertrackte The Loneliness Of The Long Distance Runner basiert nicht nur im Titel auf einer Kurzgeschichte des britischen Autoren Alan Sillitoe. Stranger In A Strange Land hingegen geht direkt ins Ohr und wird deshalb als zweite Single ausgekoppelt. Inspiriert wurde Adrian Smith hierfür durch ein Gespräch mit einem Arktisforscher, der einen gefrorenen Körper im Eis gefunden hatte. Vom gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Robert A. Heinlein hingegen leiht sich Smith lediglich den Titel.
Egal, wo und wann: Eddie ist immer cool
Die Credits für Deja-Vu teilt sich Harris mit Dave Murray, der im Schnitt für jedes zweite Album einen Song beisteuert. Alexander The Great stammt vom Bassisten alleine und reiht sich mit einer Spielzeit von achteinhalb Minuten in den Reigen der großen Maiden-Epen ein, diesmal mit explizit historischem Bezug.
Ein Cover wie ein Bildband
Ein sicherer Hit ist zweifelsfrei das Artwork der Platte: Hier steht Eddie als Weltraum-Terminator mit Cyborg-Auge und Laserpistolen in einer futuristischen Stadt, die vor Details nur so überquillt. Der Künstler Derek Riggs, der Künstler hinter diesem Werk, erinnert sich an den Arbeitsauftrag: „Wir haben uns eigens in Amsterdam getroffen und drei Tage lang über das Cover gesprochen. Sie wollten eine Kulisse wie in Blade Runner, eine Science-Fiction-Stadt.“ Um das zu erreichen, erschafft Riggs eine Skyline mit Werbeslogans und Firmennamen, die er größtenteils erfindet, um Copyright-Probleme zu vermeiden. Dabei dreht er richtig auf und auch ein wenig durch.
Immense Detailfülle und jede Menge versteckte Späßchen: Das Artwork aus der Feder von Derek Riggs
Wer genau hinguckt, kann unter anderem erkennen: den Sensenmann und die Katze mit Heiligenschein von Live After Death, den abstürzenden Himmelsstürmer aus Flight Of Icarus, ein Flugzeug über der „Aces High Bar“ , das „Ancient Mariner Seafood Restaurant“, ein Straßenschild zur „Acacia Avenue“ , ein Konzertposter mit dem Ur-Eddie, die Dame aus Charlotte The Harlot, die Tardis aus Doctor Who, Batman, eine Uhr, die zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt, das „Phantom Opera House“ , den Ruskin Arms Pub (eine der ersten Spielstätten der Band) sowie die exakt gleiche Straßenlaterne wie auf dem Cover des Debüts. Irgendwo steht sogar auf Japanisch „Pickelcreme“ , auf Russisch „Joghurt“ und in Spiegelschrift „Dies ist ein sehr langweiliges Gemälde“. Drei Monate sitzt Derek Riggs an dem Werk, mitgezählt eine mehrwöchige Zwangspause, weil er irgendwann Halluzinationen bekommt und aussetzen muss. Kurzum: Das Cover ist Wahnsinn. Und absolut großartig.
…und die Rückseite ist genauso bombastisch.
Auf die Straße. Natürlich.
Natürlich geht es für die fünf Musiker umgehend auf Konzertreise: Der Somewhere On Tour getaufte Trek zieht von September 1986 bis Mai 1987 um die Welt, mit dabei ein überdimensionaler Cyborg-Eddie, der über die Bühne spaziert, zwei riesige Podeste rechts und links in Form von Monsterkrallen, eine aufwändige, sehr helle Lightshow sowie ein pulsierendes Leuchtherz als Teil von Bruces Bühnenoutfit.
Somewhere On Tour: Dave Murray schreddert, Eddie guckt kritisch – Foto: Ebet Roberts/Redferns/Getty Images
So stressig und geradezu selbstmörderisch wie zwei Jahre zuvor auf der World Slavery Tour sollte es jedoch nicht mehr werden, auch die Zeiten, in denen Iron Maiden jedes Jahr ein Album und eine Welttour hinlegen, sind mit Somewhere In Time vorbei. Doch die Metal-Weltherrschaft der Achtziger haben Iron Maiden da längst inne.
Zeitsprung: Am 28.4.1988 starten Iron Maiden ihre Welttournee in einem Kölner Club.
Popkultur
„Wicked Game“ von HIM: Wie eine Coverversion den Finnen alle Türen öffnete
Mit ihrer Coverversion des Chris-Isaak-Hits Wicked Game legten HIM so ziemlich alle Grundsteine für ihre einzigartige Erfolgsgeschichte. Im Folgenden lest ihr, welchen Stellenwert der Song in der HIM-Historie einnimmt und warum die Finnen das Stück mindestens viermal in unterschiedlichen Versionen aufgenommen haben.
von Timon Menge
Hier könnt ihr euch Greatest Lovesongs Vol. 666 von HIM anhören:
Es ist der Song, der HIM ins Rampenlicht befördert. Schon für ihre Demo This Is Only The Beginning nehmen Ville Valo und seine Bandkollegen eine Coverversion des Chris-Isaak-Klassikers Wicked Game auf und schinden damit jede Menge Eindruck — zum Beispiel bei BMG-Mitarbeiter Asko Kallonen, der die Newcomer sofort unter Vertrag nimmt. Am 19. Oktober 1996 veröffentlichen HIM ihre erste EP und geben der Welt damit einen Vorgeschmack auf eine der letzten großen Karrieren der Rock’n’Roll-Geschichte. 666 Ways To Love: Prologue heißt das gute Stück und die junge Band arbeitet für die Veröffentlichung mit Produzent Hiili Hiilesmaa zusammen, der laut Ville Valo maßgeblich an der Entwicklung des typischen HIM-Sounds beteiligt ist. Auch Wicked Game ist auf der EP zu hören — doch es handelt sich noch lange nicht um die letzte Version des Songs.
Wicked Game: ein melancholischer Love-Song mit großer Bedeutung für HIM
Im Sommer 1997 starten HIM mit der Produktion ihres Debütalbums Greatest Lovesongs Vol. 666. Einmal mehr spielen sie dafür Wicked Game ein, und zwar in der Version, die am 28. September 1998 als Single erscheint und die für viele Rock-Fans der erste Berührungspunkt mit HIM sein dürfte. Wüsste man nicht, dass es sich um eine Komposition von Chris Isaak handelt: Das Stück könnte auch ein Ville-Valo-Eigengewächs sein. Melancholie, Fatalismus, Liebe: Wicked Game enthält alle Trademarks des Finnen, weshalb HIM die Nummer auch bloß nachspielen müssen, um sie sich zu eigen zu machen. Damit heben sie sich von vielen anderen Bands und Musiker*innen ab, denn nur wenige Stücke werden so oft gecovert wie Wicked Game. Das britische Lifestyle-Magazin Dazed bezeichnet den Hit sogar mal als „möglicherweise einflussreichsten Love-Song in der modernen Musik“.
Auf die Idee für das Stück kommt Chris Isaak laut eigener Aussage nach einem Telefonat. So möchte eine Frau damals ein spontanes Treffen mit dem Musiker arrangieren, doch der hat gemischte Gefühle. In einem Interview verrät er: „Ich habe den Song zwischen dem Telefonat und dem Besuch geschrieben. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn man sich stark zu einer Person hingezogen fühlt, die nicht unbedingt gut für einen ist. Ich glaube, dass ich damit einen Nerv getroffen habe, denn viele von uns fühlen sich stark zu anderen Menschen hingezogen, die uns nicht unbedingt gut tun.“ Genau jene Hin- und Hergerissenheit zwischen Liebe und Düsternis ist es, die den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Song aus der Feder von HIM-Frontmann Ville Valo. Manchmal passt es einfach.
Wicked Game: Der Song, mit dem HIM ihren Sound fanden
Noch heute hat Wicked Game seinen festen Platz in der HIM-Geschichte. „Das war einer der ersten Songs, die wir als Band zusammen gespielt haben, und er hat uns sehr dabei geholfen, unseren Sound zu finden“, erklärt HIM-Sänger Ville Valo Jahrzehnte später in einem Interview. „Das fällt in der Regel leichter, wenn man die Songs von jemand anderem spielt. Man muss nicht über den Text nachdenken oder so. Man kennt das Lied sowieso auswendig und das macht es einfacher.“ Ihr typischer Sound ist es auch, der HIM ab Ende der Neunziger in die Rock-Champions-League katapultiert. Schon mit ihrem zweiten Langspieler Razorblade Romance (1999) gelingt ihnen der große Durchbruch. Und wieder ist auf dem Album eine neue HIM-Aufnahme von Wicked Game zu finden. Die Jungs mögen den Song echt.
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