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Popkultur

Vom DDR-Schlager zum Zapfenstreich: Die Geschichte von „Du hast den Farbfilm vergessen“

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Nina Hagen
Foto: Gunter Zint/K & K Ulf Kruger OHG/Redferns/Getty Images

Auch die Godmother Of Punk hat mal mit Schlager angefangen. Dies ist die schöne Geschichte ihres ersten DDR-Hits Du hast den Farbfilm vergessen. Und die unschöne Geschichte seines Texters.

von Björn Springorum

In der DDR beherrschen Künstler*innen die hohe Kunst der Verschleierung. Staatskritisches Gedankengut wird subtil und verschachtelt in Lieder und Gedichte eingeschleust, selten wird offen angeprangert. Wer es doch tut, bekommt Auftrittsverbot, Schreibverbot, wird von der Stasi zersetzt. Ein gutes Beispiel für die chiffrierte Regierungskritik ist auch Du hast den Farbfilm vergessen, der Durchbruch für die damals 19-jährige Nina Hagen. Und das ist nur der Anfang einer unglaublichen, verstörenden, historischen Geschichte.

Vom Orchester ins Automobil

Alles beginnt 1974, als die Band Automobil bei einem Pressefest bei Leipzig eine junge Sängerin namens Nina Hagen entdeckt. Sie trällert für das Orchester Alfons Wonneberg, Schlager sind damals ihr ausgewiesenes Fachgebiet. Im Publikum sitzt auch Michael Heubach, Komponist von Automobil und in den vergangenen Jahren mehrfach mit dem System aneinandergeraten. Er ist begeistert von ihr, sie ist genau das, wonach er gesucht hat. Er kann Hagen für seine Band gewinnen, weil die eh vom Orchester weg will, und lädt sie zu einer Probe ein. „Der Probenraum war ein heruntergekommenes Kulturhaus“, erinnert sich Heubach. „Ungemütlich, manchmal war der Strom weg. Es gab keine Heizung. Wenn es kalt war, übten wir in Mänteln. Trotzdem hat es viel Spaß gemacht, weil wir an uns glaubten.“

Als erstes nimmt die Band ein Lied namens Du hast den Farbfilm vergessen mit Hagen auf, komponiert von Heubach und getextet vom Leipziger Kurt Demmler. Der liefert erst einen öden Text über einen Ausflug in die Berge, muss noch mal ran und kommt dann mit diesem genial spitzen, ironischen, schnoddrigen Kunststück daher. Aufgenommen wird das Lied im Funkhaus Nalepastraße in Berlin, verlegt beim DDR-Label Amiga – und praktisch über Nacht ein Hit.

Schmollen zur Tuba

Was den Song so stark macht, ist natürlich Nina Hagens frotzelnde, jugendlich freche, schmollende Stimme zu den schunkelnden Klängen von Piano und Tuba zwischen Dur und Moll. Und der Unmut scheint berechtigt: Da ist man schon mal auf Hiddensee – und der dämliche Typ vergisst einfach den Farbfilm. Wie soll man denn dann zuhause die Leute neidisch machen? Hintergründig passiert aber deutlich mehr in dem Lied. Wie eingangs erwähnt, verbirgt sich vorsichtig kaschierte Systemkritik zwischen den unschuldigen Zeilen. Warenknappheit und Mangelwirtschaft klingen an, gepaart mit der überspitzten Verzweiflung, dass man so etwas Wertvolles und Rares wie einen Farbfilm ausgerechnet in einem derart schönen Moment vergessen kann.

Für Hagen selbst spiegelt die Nummer die „Trostlosigkeit der Arbeitswelten zwischen Akkordschraube und Herumlungern an kaputten Maschinen; es spielt im Milieu einer irren Sehnsucht danach, dieser Schwarzweißwelt zu entfliehen, hin zu Orten voll Farbe und Licht.“ So zumindest erinnert sie sich in der Biografie Bekenntnisse an das Stück, das in der DDR sofort weit nach oben in die Charts geht und Heubach neben 10.000 DDR-Mark auch rund 500 Deutsche Mark als Gutschein für den Intershop einbringt. Davon kauft er sich einen Rasierapparat, Jeans und Kaugummi. „In Westdeutschland“, sagte er mal lakonisch, „wäre ich damit Millionär geworden.“

Song über häusliche Gewalt?

Eine weitere gruselige Ebene enthält der Text, wenn man ihn als Beschreibung häuslicher Gewalt liest. Die Zeile „Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr“ könnte sich auf blaue Flecken beziehen, der vergessene Farbfilm auf das Totschweigen der Tat. Auch „Micha, mein Micha und alles tut so weh, tu das noch einmal, Micha und ich geh!“ kann man eigentlich gar nicht anders rezipieren.

Das wird alles umso ungeheuerlicher, wenn man die Geschichte von Texter Kurt Demmler kennt. Erst Träger des Kunstpreises der DDR, ab 1976 solidarisch mit Wolf Biermann, später Träger des Nationalpreises der DDR. Immer öfter lädt er junge Mädchen zu sich nach Hause ein, 2000 wird das erste Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Er soll hunderte Kinder missbraucht haben. Er kommt in Untersuchungshaft und verübt in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 2009 in seiner Zelle Suizid.

Die Kanzlerin und der Farbfilm

Durchaus Ballast für ein unbeschwertes Lied wie dieses. Und doch einer von drei Titeln, den die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Verabschiedung am 2. Dezember 2021 wählt. „Das ist ein Song mit Text von Kurt Demmler, und dass jedoch der Kurt Demmler ein DDR-‚Staatsdichter‘ mit Sonderprivilegien war, und später ein wegen systematischem Kindesmissbrauchs verurteilter Sexualstraftäter, der im Gefängnis Selbstmord beging, wird ihr hoffentlich bekannt sein“, so äußerte sich Nina Hagen dazu.

Der Song ist der erste und einzige gemeinsame Erfolg von Nina Hagen und Automobil. Sie wechselt schon bald darauf zu Fritzens Dampferband, verlässt am 28. Dezember 1976 die DDR und beginnt ihre Solokarriere mit der Nina Hagen Band.

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Zeitsprung: Am 31.10.1965 probt die DDR-Jugend den Beat-Aufstand.

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