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Popkultur

Zeitsprung: Am 18.5.1980 stirbt Ian Curtis von Joy Division.

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Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 18.5.1980.

von Victoria Schaffrath und Christof Leim

Texte, die aus dem eigenen Leben einen Schwarzweißfilm machen, und eine manisch-magnetische Ausstrahlung: Ian Curtis schreibt bei Joy Division mit nur zwei Alben britische Musikgeschichte und verändert die Welt des alternativen Rock von Goth bis Post Punk. Doch der Musiker lebt mit einer schweren Form der Epilepsie und entwickelt Depressionen. Am 18. Mai 1980 sieht er keinen Ausweg mehr.

Hört hier Closer, das die Verfassung von Curtis zur Zeit seines Todes eindrucksvoll festhält: 

Es ist der Morgen des 18. Mai 1980. Deborah Curtis macht sich auf den Weg zum Haus ihres, ja, was eigentlich? Ehemann Ian und sie leben quasi in Scheidung, und doch dient sie ihm oft als seelische Stütze. Töchterchen Natalie verbindet zusätzlich. Sie erwartet nicht, den jungen Mann in seinem Heim vorzufinden, denn er soll sich auf dem Weg zum Flughafen befinden. Mit seiner Band Joy Division soll es in die Staaten gehen. Ein kühnes Unterfangen, wenn man Ians Zustand bedenkt.

Enorme Belastung

Als Sänger und Texter konnte er der Gruppe erst daheim in der Region um Manchester, dann in ganz Großbritannien zu ansehnlichen Erfolgen verhelfen. Als Schützlinge des legendären Rock-Labels Factory Records veröffentlichen sie im Vorjahr Unknown Pleasures mit dem ikonischen Cover und Liedern wie She’s Lost Control und Disorder. Die Arbeit am Nachfolger Closer klingt vielversprechend, Curtis selbst sieht es als frühen Höhepunkt seines Schaffens.

In dieser Aussage schwingt jedoch noch etwas anderes mit: Das Wissen, dass er das aktuelle Pensum nicht mehr lange mitmachen kann. Der dunkelhaarige Dreiundzwanzigjährige leidet seit zwei Jahren an epileptischen Anfällen, die sich dank unregelmäßigem Schlafrhythmus, Stress und den audiovisuellen Reizen des Musikerlebens dramatisch verschlimmern. Ob Lichtbeauftragte, die die Anweisungen des Managements ignorieren und bei Auftritten der Briten Stroboskoplicht einsetzen, Curtis selbst, der sich trotz Erschöpfungszustand an den Rand der Belastbarkeit zwingt, oder der verordnete Medikamentencocktail, den Fachleute aus heutiger Sicht als gefährlich einstufen: Die Anforderungen seiner Berufswahl betreiben Raubbau an seinem Körper. 

Physischer Abbau bedingt psychischen Verfall

Von der mentalen Gesundheit ganz zu schweigen. Der einstige Stipendiat neigt ohnehin zur Introspektion und klaut schon als Junge mit seinen Freunden Medikamente, deren Einnahme er ausreizt, bis man ihm den Magen auspumpen muss – Überdosis, wohl versehentlich. Nun aber bringt seine Medikation einige Nebenwirkungen mit sich, zu denen auch starke Stimmungsschwankungen gehören. 

 

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A3 poster featuring #IanCurtis from an exhibition I had in Italy #JoyDivision #FactoryRecords #Manchester – it’s sold now. Sorry

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Hinzu kommt seit Oktober 1979 angeblich eine Liebschaft mit der Journalistin Annik Honoré. Er kann die Finger nicht von der Belgierin lassen, und das häusliche Leben mit Deborah und Natalie lässt sich immer schwieriger mit dem musikalischen Erfolg vereinen. Damit befindet sich Curtis in einem moralischen Dilemma; auch sonst schwankte der Bassbariton stets zwischen Bürgertum und Bohéme, zwischen Beamtendasein und Rockstarleben, und eben zwischen seiner jungen Familie und der verbotenen Liebe.

Zwischen Bürgertum und Bohéme 

Und dann steht die Tour in Amerika auf dem Plan. Nicht nur plagt den Lyrik-Liebhaber enorme Flugangst, sondern auch die Häme des Publikums. Wie ein Schutzschild hält er stets seinen Bewegungsstil vor sich; verwendet seine Epilepsie, bevor man sie gegen ihn verwenden kann. Dennoch bleibt abzuwarten, wie die amerikanischen Zuschauer reagieren werden, und Curtis befürchtet das Schlimmste. Als Ian eines Abends voller Sorge zu tief ins Glas schaut, gehen die Ängste mit ihm durch: Er versucht das erste Mal, sich das Leben zu nehmen.

Es bleibt beim Versuch. Das Management, die Bandmitglieder und ein Team aus Medizinprofis wollen nicht so recht sehen, wie es um den Sänger wirklicht steht. Bassist Peter Hook sagt viele Jahre später: „Wenn ich mir Closer anhöre, bricht mir das Herz. Ian hat so ein wunderbares Dokument über seinen Zustand geschaffen: angespannt, ängstlich und dennoch kraftvoll. Nicht jedoch Herr seines Schicksals; man hört, wie dieser Bruch entsteht.“

Belastungsgrenze war lang überschritten

Eine weitere Krise droht dann am Abend des 17. Mai. Dieses Mal sucht Ian Kontakt, wendet sich an Deborah, sie möge die eingereichte Scheidung stoppen. Besorgt lässt sie sich darauf ein, ihm in der folgenden Nacht Gesellschaft zu leisten, bis Curtis es sich anders überlegt und sie bittet, nicht zurückzukehren, bis er nach Amerika aufgebrochen ist. „So komisch es klingt“, beschreibt Kollege Bernard Sumner diese Zeit, „wir haben uns Ians Texte erst nach seinem Tod so richtig angehört und die innere Unruhe bemerkt, in der er sich befand.“

So begibt es sich, dass Ian bis in die frühen Morgenstunden Iggy Pop hört, Familienfotos anschaut und einen Abschiedsbrief formuliert. Dann setzt er seinem Leben mit einer Wäscheleine ein Ende. Deborah findet, als sie am Folgemorgen nach dem Rechten sehen will, den leblosen Körper ihres Noch-Mannes.

Einen Monat später erscheint Love Will Tear Us Apart, vier weitere Wochen danach das Album Closer. Bis heute gelten sie als wegweisend. Wie fühlt sich das wohl an, wenn dich das, was du liebst, kaputt macht? Wenn das, wofür du geboren bist, deine Gesundheit so sehr zermürbt, dass du keinen Ausweg mehr siehst? Einer konnte diese Frage beantworten, und kaum jemand steht so sehr für diesen Widerspruch wie Ian Curtis. Am Ende bleiben seine Texte: „Existence, well, what does it matter? / I exist on the best terms I can / The past is now part of my future / The present is well out of hand“. Walk in silence, Ian.

Depressiv? Hier bekommst du Hilfe: Wenn du selbst depressiv bist oder Selbstmordgedanken hast, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du Hilfe von Beratern und Beraterinnen, die dir Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.

Zeitsprung: Am 27.7.1986 sticht ein Mann bei einem The-Cure-Konzert auf sich ein.

 

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Zeitsprung: Am 9.6.1982 trotzen Mötley Crüe einer Bombendrohung. Oder doch nicht?

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Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 9.6.1982.

von Christof Leim

1982 machen sich Mötley Crüe auf in den amerikanischen Norden zur Crüesing Through Canada Tour ’82. Seit dem Vorjahr steht ihr erstes Album Too Fast For Love in den Läden, jetzt soll die Musik unter die Leute. Allerdings scheint in Edmonton jemand etwa dagegen zu haben – und droht, die vier Krachmacher in die Luft zu sprengen…

Hört hier in das Mötley-Crüe-Debüt Too Fast For Love rein:

Bei der Polizei von Edmonton geht die die telefonische Drohung ein, das Leben der Musiker sei in Gefahr, wenn sie am 9. Juni 1982 auf die Bühne gehen. An diesem Tag sollen Mötley Crüe ihre dritte Show in einem Club namens Scandals spielen. Doch Bassist und Bandchef Nikki Sixx lässt sich davon nicht beeindrucken und sagt in einem Nachrichtenbeitrag der CBC News: „Uns ist das egal. Wir sind hier, um allen eine gute Show zu bieten. Wer daran keinen Spaß hat, muss sich das nicht anschauen.“

Glücklicherweise verläuft das Konzert ohne Zwischenfall, Mötley Crüe spielen sogar noch zwei weitere Gigs in der Stadt in einem anderen Laden namens Riviera Rock Room. Der Mut der Band hat sich also ausgezahlt und bringt nicht nur 1000 Punkte an „street credibility“, sondern auch Presseberichte in Kanada und zu Hause in Kalifornien.

Mötley Crüe früher. Ganz früh.

Was eine verdammt coole Band also, was? Wirklich? Natürlich nicht. Wie sich später herausstellt, wurde die Bombendrohung vom Management der Truppe lanciert, um Aufmerksamkeit zu generieren. Eine PR-Aktion, nichts weiter, und sie funktioniert hervorragend. Die Show ist eben alles. Dem Tod kommt Nikki Sixx erst fünf Jahre später so richtig nahe, aber das ist eine andere Geschichte (die hier steht).

Immer Chaos

Über zu wenig Action während ihrer Kanadareise können sich Mötley Crüe allerdings nicht beschweren. Das ging schon los am Flughafen von Edmonton, wie Sänger Vince Neil in seiner Autobiografie Tattoos & Tequila schreibt: Bei der Einreise werden die Musiker nämlich erstmal verhaftet. Warum sie in ihrem Bühnenoutfit – Leder, Schminke, High Heels, Haare bis zur Decke – durch die Zollkontrolle laufen, kann drei Dekaden später wohl niemand mehr so richtig erklären. Die kanadischen Behörden stellen sich solche Fragen gar nicht erst und konfiszieren kurzerhand sämtliche Nietengürtel und Lederarmbänder, und Vince darf nicht mal seine Reiselektüre behalten (Playboy, Hustler, wegen der Interviews). Ansonsten gibt es Kloppereien mit Hockeyspielern, die ja in Kanada an jeder Ecke rumstehen, wie man weiß, aber dummerweise besser ausgerüstet sind. Außerdem fliegen ganz klassisch Fernseher aus Hotelfenstern. Man hat ja einen Ruf zu verlieren beziehungsweise aufzubauen. Wir würden uns nicht wundern, wenn das alles ebenso PR-Aktionen gewesen wären. Ein Einschätzung, die Vince Neil übrigens teilt. Immerhin hat sich diesmal niemand selbst angezündet oder als Doppelgänger von Nikki Sixx ausgegeben. Aber so läuft das wohl im Showgeschäft, was?

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Zeitsprung: Am 17.2.1988 zündet sich ein Mötley-Crüe-Fan selber an. Aua!

 

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Popkultur

„Come On“: Die erste Single der Rolling Stones wird 60 Jahre alt!

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Rolling Stones
Foto: Mark and Colleen Hayward/Redferns/Getty Images

Schon mit ihrem ersten veröffentlichten Song Come On landeten die Rolling Stones einen Hit. Auch wenn er aus der Feder einer anderen Rocklegende stammt: Chuck Berry. Später konnten Mick Jagger und Co. die Nummer noch nicht einmal mehr leiden. Am 7. Juni 1963 erschien die Single in Großbritannien.

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch Come On von den Rolling Stones anhören:

Schon als sich Mick Jagger und Keith Richards Ende 1961 auf der Zugfahrt von Dartford nach London kennenlernen, kann man erahnen, welche Musik die beiden einmal spielen werden. So trägt Jagger ein paar Blues-Platten von Muddy Waters und Chuck Berry mit sich herum. Richards überlegt, ob er den schlaksigen jungen Mann überfallen und die Platten klauen soll — entscheidet sich dann aber doch für ein Gespräch über die Musik. Wenig später gründen die beiden eine gemeinsame Band. Sie soll sich zu einer der größten in der Rockgeschichte entwickeln: The Rolling Stones — ein Name, der von Muddy Waters inspiriert ist. Der erste Song, den die Gruppe aufnimmt: Come On von Chuck Berry.

Come On: Die erste Single der Rolling Stones

Das Original nimmt Berry im Jahr 1961 in den Chicagoer Chess Studios auf. Gerade einmal 1:53 Minuten dauert der Song. Doch die kurze Zeit reicht der Gitarrenlegende, um einen gekonnten Rumba hinzulegen und einen weiteren Beitrag zur Konstruktion des Rock’n’Roll zu leisten. Inhaltlich geht es in dem Stück Blues-typisch um einen Kerl, bei dem wirklich alles schiefläuft: Seine Freundin hat ihn verlassen, der Wagen springt nicht an und arbeitslos ist er auch noch. Es sind Themen, mit denen sich offenbar auch die jungen Rolling Stones identifizieren können. Im Mai 1963 fahren sie mit einem Bus in ein Aufnahmestudio der Plattenfirma Decca und covern Come On.

„Der Song war seicht, aber auch sehr poppig“, erinnert sich Gitarrist Richards in According To The Rolling Stones. „Wir nahmen Come On zusammen mit mehreren Bo-Diddley-Songs auf. Die Nummer wurde wahrscheinlich ausgesucht, weil sie chartorientierter war.“ Vermutlich hätten einige Mitarbeiter von Decca Records die Entscheidung getroffen. „Uns war das egal“, ergänzt Richards. „Wir wollten einfach eine Single veröffentlichen.“ Tatsächlich gelingt mit Come On ein größerer Erfolg als erwartet. Nach dem Release am 7. Juni 1963 steigt der Song auf Platz 21 der britischen Single-Charts ein — und ebnet den Weg für ein jahrzehntelanges Rockmärchen.

Ein unliebsamer Startschuss für eine große Erfolgsgeschichte

Live findet der Song nach der Veröffentlichung kaum statt. Das liegt daran, dass Come On nicht gerade zu den Lieblingsstücken der Stones gehört. Gitarrist Ronnie Wood findet die Nummer zwar super, wie er in einem Interview verrät: „Meiner Meinung nach ein brillanter Song. Ich mag auch das Original von Chuck Berry.“ Mick Jagger) äußert laut Bill Wymans Rolling Stones Story allerdings: „Ich glaube nicht, dass Come On sehr gut war — es war scheiße. Weiß Gott, wie der Song in die Charts kam; es war ein Hype. Wir mochten das Stück so wenig, dass wir es bei keinem Gig spielten.“ Genau das sorgt kurze Zeit später noch für Ärger.

Come On im NME

Was das britische Magazin NME über Come On und die B-Seite I Want To Be Loved von Willie Dixon zu sagen hatte

Als Stones-Manager Andrew Oldham mitbekommt, dass seine Schützlinge Come On auf der Bühne boykottieren, flippt er aus. „Er drehte durch, weil wir Come On nicht spielten“, erinnert sich Bassist Bill Wyman. „Er befahl uns, den Song bei jeder Show zu bringen.“ Das machen die Stones dann auch — allerdings nicht lange. Von der fertigen Single erhalten die Musiker damals übrigens nur vier Stück; weitere Exemplare müssen sie aus eigener Tasche bezahlen. Unvorstellbar, dass eine der größten Rockbands des Planeten einmal so stiefmütterlich behandelt wurde. Heute sind die Stones schon lange Legenden. Angefangen hat der Erfolg mit ihrer ersten Single Come On am 7. Juni 1963.

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60 Jahre Rolling Stones: Ihre 10 besten Alben im Ranking

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Popkultur

Zum Pride Month: Die queeren Wurzeln des Rock

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Sister Rosetta Tharpe
Foto: Tony Evans/Getty Images

Rock ohne die LGBTQ+-Community? Undenkbar. Ob die frühen Anfänge im Blues, die Erfindung des Rock’n’Roll, Glam Rock oder Heavy Metal: Die Geschichte der Rockmusik erstrahlt in bunten Regenbogenfarben. Wir haben die queeren Wurzeln des Rock für euch unter die Lupe genommen. Erster Halt: die 1910er-Jahre!

von Timon Menge

Man mag es bisweilen vergessen haben oder verdrängen, aber es gab in der Geschichte der Menschheit lange Zeiten, in denen die Mitglieder der LGBTQ+-Community ihre Identität für sich behalten mussten, weil ihnen sonst juristische Verfolgung oder gar der Tod drohte. Noch schlimmer: In Teilen der Welt ist es bis heute so, zum Beispiel in Jamaika oder Uganda. Zusätzlich herrschen vielerorts mehr oder minder unterschwellige Ressentiments gegenüber der LGBTQ+-Gemeinschaft. Dafür muss man sich nur einmal eine Kommentarspalte zu einem Artikel mit dem entsprechenden Thema anschauen. Eine der Lösungen ist, der Community zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, ob von innen oder von außen. Ein traditionell gutes Mittel dafür ist die Kultur — im Speziellen die Musik.

Ma Rainey und Bessie Smith: Die „Bisexual Queens Of The Blues“

Zu den vielleicht ersten öffentlichen Ikonen der LGBTQ+-Community gehören die beiden bisexuellen Blues-Sängerinnen Ma Rainey und Bessie Smith. Sie lernen sich 1912 während einer Minstrel Show kennen, einer Art Wanderzirkus, der weiße US-Bürger*innen unterhält, indem auf der Bühne Schwarze Stereotype präsentiert werden. Meistens kommt dabei das sogenannte Blackfacing zum Einsatz, bei dem sich weiße Darsteller*innen ihre Gesichter dunkel anmalen und Schwarze als naive Sklaven zeigen, die ihre Besitzer*innen trotz aller Misshandlungen lieben. Es gibt allerdings auch Schaustellergruppen wie die Rabbit Foot Minstrels, zu denen Rainey und Smith gehören, und die ausschließlich aus Schwarzen Mitwirkenden bestehen.

Für Rainey und Smith ist die Wander-Show ein Karriere-Katalysator. Heute gelten beide zurecht als Blues-Legenden und werden sogar als „Bisexual Queens Of The Blues“ betitelt. Das liegt zum Beispiel daran, dass sie quasi den Soundtrack zu einem großen US-amerikanischen Umbruch liefern. So strömen in den 1910er- und den 1920er-Jahren viele US-Bürger*innen vom Land in die wachsenden Großstädte, wo bisher grundlegende Gesetze des Zusammenlebens neu verhandelt werden. Kultur, soziale Fragen, Politik, Kriminalität, Sexualität: Alles verändert sich und Künstler*innen wie Ma Rainey und Bessie Smith bilden die Veränderungen in ihren Songs ab. So lautet ein Auszug aus dem Text von Prove It On Me Blues von Ma Rainey:

They say I do it, ain’t nobody caught me
Sure got to prove it on me;
Went out last night with a crowd of my friends,
They must’ve been women, ’cause I don’t like no men.

Sister Rosetta Tharpe: Die „Godmother Of Rock And Roll“

Während der Transformation des Blues zum Rock spielt vor allem eine Schwarze, queere Musikerin eine entscheidende Rolle: Sister Rosetta Tharpe, eine der frühen Frauen des Rock’n’Roll. Schon mit vier fängt sie an, Gitarre zu spielen. Später kombiniert sie die Gospelmusik ihrer Kindheit mit ihrer verzerrten Gitarre sowie ihrem ausdrucksstarken Gesang und legt damit einen wichtigen Grundstein für die Entstehung des Rock’n’Roll. In ihren Texten singt sie über Themen wie Sexualität und Liebe und lebt offen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Das dürfte sie nicht nur einmal in Schwierigkeiten gebracht haben — dennoch feiert sie als Musikerin große Erfolge. Heute, also noch 50 Jahre nach ihrem Tod, gilt die „Godmother Of Rock And Roll“ als Ikone der LGBTQ+-Community.

Little Richard: Der „Architect Of Rock And Roll“, der seine Meinung änderte

Auch Little Richard, der übrigens von Sister Rosetta Tharpe entdeckt wird, gehört zu den frühesten Sprachrohren der LGBTQ+-Community. Als Schwarzer homosexueller Mann aus dem Süden der Vereinigten Staaten ist ihm vermutlich fast jedes Vorurteil schon einmal begegnet. Dennoch steht der „Architect Of Rock And Roll“ für seine Sexualität ein und lebt sie mehr oder minder offen aus. So lautet der Text seines größten Hits Tutti Frutti ursprünglich:

Tutti Frutti, good booty
If it don’t fit, don’t force it
You can grease it, make it easy 

Für die Änderung der Lyrics in „Tutti Frutti, aw rooty“ sorgt Produzent Robert Blackwell, der sich wegen des eindeutigen Originaltextes Sorgen macht. Ab Anfang der Achtziger vollzieht Little Richard leider eine 180-Grad-Wende, spricht sich in der TV-Show Late Night With David Letterman öffentlich gegen das Schwulsein aus und bezeichnet Homosexualität noch 2017 als „unnatürlich“. Sie widerspreche „Gottes Willen“.

Musicals und der Broadway

Einen besonderen Stellenwert in der Musikhistorie der LGBTQ+-Community nehmen auch Musicals und der Broadway ein. So leben Komponisten wie Marc Blitzstein schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offen schwul und prägen die Bühnenwelt maßgeblich. Die lesbische US-Theaterproduzentin Cheryl Crawford gründet unter anderem die Schauspielschule Actors Studio, an der zum Beispiel Marlon Brando, James Dean, Marilyn Monroe, Al Pacino, Robert De Niro, Dustin Hoffman und Jack Nicholson ausgebildet werden. Einen der größten Meilensteine im LGBTQ+-Theater markiert die Rocky Horror Show, die am 19. Juni 1973 am Londoner West End Premiere feiert, und bei der es sich um eine der berühmtesten Travestie-Shows der Welt handeln dürfte.

Disco und der Christopher Street Day

Genau wie in der Welt der Musicals findet die LGBTQ+-Community auch in der Disco einen Heimathafen. Ihren Ursprung haben die Tanzlokale im Zweiten Weltkrieg, als es jungen Menschen durch die Nazis untersagt war, Swing- und Jazzmusik aus den Vereinigten Staaten zu hören. In den späten Sechzigern schwappt der Trend über den großen Teich, wo vor allem Afroamerikaner*innen, die Schwulenszene und Latinos in die Diskotheken strömen. In der Bar Stonewall Inn in der Christopher Street in New York City kommt es am 29. Juni 1969 zu den sogenannten Stonewall-Unruhen, bei denen die Bar um 1:20 Uhr nachts von Polizeibeamten gestürmt wird. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und dem LGBTQ+-Publikum der Bar schockieren. In Gedenken an die Ereignisse feiern wir heute deshalb jedes Jahr den Christopher Street Day. Ihren Höhepunkt erreicht die Disco-Ära ab Mitte der Siebziger mit Künstler*innen wie Grace Jones und dem Film Saturday Night Fever.

Glam Rock und Heavy Metal: Die LGBTQ+-Community in der Radaumusik

Nachdem Ma Rainey, Bessie Smith, Sister Rosetta Tharpe und Little Richard die Grundsteine dafür gelegt hatten, bleibt die LGBTQ+-Community auch weiterhin ein wichtiger Einfluss auf die Rockwelt. Da wären zum Beispiel Marc Bolan und David Bowie, die mit der Erfindung des Glam Rock Rollenmuster aufbrechen und androgyne Alter Egos erfinden. The Kinks thematisieren in ihrem Song Lola das Thema Transsexualität. Charismatische Künstler wie Freddie Mercury und Elton John sind weit oben auf der Spitze des Rockolymp zu finden und prägen das Genre nicht nur durch ihr grenzenloses Können, sondern auch durch ihre kreativen Kostüme. Und der homosexuelle Judas-Priest-Sänger Rob Halford erschafft die Metal-Mode, indem er sich am Dresscode der Sadomaso-Szene orientiert. Die Einflüsse der LGBTQ+-Community sind überall — und wir verdanken ihr einen großen Teil dessen, was wir heute unter Rockmusik verstehen.

Die Achtziger und Neunziger: LGBTQ+ im Mainstream sorgt für Homophobie

In den Achtzigern und Neunzigern explodiert der Einfluss der LGBTQ+-Community auf die Pop- und Rockmusik. Ob Culture Club, Wham!, die Pet Shop Boys, Cher, Blur, Cyndi Lauper, Madonna, Prince oder Frankie Goes To Hollywood: Zum ersten Mal ist die Szene in der Mitte des Mainstreams angekommen. Leider ruft das auch jede Menge Gegenwind auf den Plan. So führt die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den Achtziger-Jahren einen offenen Krieg gegen die LGBTQ+-Gemeinde. Das HI-Virus und AIDS werden öffentlich als „Schwulenpest“ verschrien. Nach gefühlten Schritten in die richtige Richtung erleidet der Kampf für die Akzeptanz der LGBTQ+-Community große Rückschläge. Doch die Bewegung gibt keine Ruhe und sorgt Stück für Stück dafür, dass sie akzeptiert wird. Erschreckend: Erst seit 1994 ist es in Deutschland nicht mehr illegal, homosexuell zu sein.

Mit Musik zu mehr Aufmerksamkeit und Toleranz

Heute sind wir zum Glück so weit, dass es selbst in den konservativsten Musikrichtungen eine LGBTQ+-Community gibt, was Country-Künstler*innen wie Orville Peck und Sarah Shook & The Disarmers unter Beweis stellen. Doch es ist auch offenkundig, dass es noch viel Arbeit zu tun gibt, bis die Sexualität von Musikerinnen und Musikern einfach keine Rolle mehr spielt. Die Lösungen dafür sind Sichtbarkeit, Aufklärung und Toleranz. Dafür war und ist die Musik eins der besten Hilfsmittel. Das Beste, was wir tun können, ist, die LGBTQ+-Community ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, bis auch der oder die Letzte verstanden hat, dass Gender, Liebe und Sexualität mindestens so bunt sind wie die Pride-Flagge.

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This Could Be Heaven For Everyone: 10 Pride-Hymnen

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