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Popkultur

Interview mit Steven Wilson: „Elton John ist der berühmteste Shopper der Welt!“

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Foto: Will Ireland/Total Guitar Magazine/Future via Getty Images

Ein Steven Wilson ist in der Welt der Populärmusik nicht mit Gold aufzuwiegen. Auch auf seinem schillernden neuen Zukunftsszenario The Future Bites inszeniert sich der Brite als wichtigster Prog-Erneuerer, als Alan Parsons der Neuzeit – und begeistert mit einem zynischen, kritischen, vor allem aber unterhaltsamen Narrativ unserer selbst im Spiegel der Technologie.

von Björn Springorum

Wer Elton John in der Mitte eines Songs einfach mal einen Einkaufszettel vorlesen lässt, der ist entweder übergeschnappt oder genial. Bei Steven Wilson kann man sich irgendwie beides vorstellen. Der große Visionär, der wie kein zweiter seiner Generation die Grenzen des Prog erweitert und neu definiert hat, veröffentlicht mit der futuristischen Mär The Future Bites sein sechstes Soloalbum. Auf dem ist nicht nur Sir Elton zu hören: Wilson schiebt seinen Sound weg vom Rock hin in ein elektronisch ausstaffiertes Klangwunderland, das nach Pop duftet, aber Prog ist wie eh und je: Fortschrittlich gedachte Musik, mutig inszeniert, eher bei Alan Parsons und Giorgio Moroder als bei Porcupine Tree.

Hört euch das Album hier an:

Steven, als Jahrgang 1967 bist du ohne das Internet aufgewachsen. Heute ist das kaum vorstellbar.

Völlig richtig, wir hatten kein Portal in der Hosentasche, das uns mit dem Rest der Welt verbindet. Ich war eher allein und isoliert, doch ich meine das nicht negativ. Eher brachte es mich dazu, neugierig in die Welt zu blicken und mit großen Augen neue Wunder zu entdecken. Ich frage mich häufig, ob meine Kinder dieselbe Neugier fühlen. Heute hat man alles, was man wissen muss, immer dabei. Es ist so leicht geworden, man muss sich nichts mehr erarbeiten.

„Die menschliche Rasse wird immer engstirniger, egozentrischer, besessen von sich selbst.“

Das Thema beschäftigt dich ja schon länger. Mit The Future Bites hast du ihm diesmal ein ganzes Album gewidmet…

Ich wollte ein Album über Identität schreiben. Und wie diese Identität durch die sozialen Medien verändert wird. Ich habe mich gefragt: Haben wir wirklich verstanden, wie das Internet und die sozialen Medien die Evolution der menschlichen Spezies beeinflussen und verändern? Ich bin der Überzeugung, dass diese Technologien die Evolution vollkommen aus dem Ruder laufen lassen. Das Internet ist eine so neue Erfindung, und dennoch hat es bereits alles verändert. Von Grund auf, auf fundamentalste Weise. Es ging alles so beängstigend schnell: Vor 25 Jahren hatten die wenigsten von uns einen E-Mail-Zugang oder ein Handy. Niemand hatte eine Vorstellung davon, was soziale Medien denn bitteschön sein sollen. Kaum ein Vierteljahrhundert später – und die Menschheit ist nicht wiederzuerkennen. So faszinierend und spannend ich das alles finde, so beängstigend und verstörend ist es. Die menschliche Rasse wird immer engstirniger, egozentrischer, besessen von sich selbst. Dafür sind die sozialen Medien verantwortlich – und die Art und Weise, wir wir von der Welt wahrgenommen werden möchten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das dauerhaft gesund ist.

Lieferst du als Steven Wilson denn eher Fragen oder Antworten?

Als Musiker kann ich nur ein Spiegel sein. Erkennst du dich in dem wieder, was du siehst? Bist du zufrieden mit dem, was du siehst? Mit ist bewusst, dass ich als der Musiker, der ich bin, eher zu den längst schon Konvertierten predige und dass ein Album wie The Future Bites wenige Kids oder Teenager erreicht; dennoch sind mir diese Dinge wichtig genug, um sie anzusprechen. Und ich denke, sie sind meinen Hörern wichtig genug, um sie sich anzuhören.

„Ich liebe es, Zeug zu kaufen – insbesondere dann, wenn es limitiert ist!“

Es gibt eine Menge Kritik, aber auch eine Menge Spaß auf deinem neuen Album. Kann es sich denn nicht entscheiden, ob es Utopie oder Dystopie sein will?

Es ist eine Mischung. Ich sehe diese Dinge ambivalent: Vieles besorgt mich, vieles stimmt mich nachdenklich. Aber vieles ist eben auch absolut großartig. Der Song Personal Shopper bringt dieses Dilemma auf den Punkt: Eigentlich ist dieser Song eine zynische Abrechnung mit den Auswüchsen des Konsumismus; andererseits liebe ich es, Zeug zu kaufen – insbesondere dann, wenn es limitiert ist! Wir wissen doch alle, wie nervös wir werden, wenn wir diese besondere Vinyl-Box ergattern wollen und nicht sicher sind, ob wir eine bekommen. Ich pendle also fortwährend zwischen Utopie und Dystopie, bin aber nach der endlich final entschiedenen US-Wahl durchaus optimistischer gestimmt als zuletzt.

Auf Personal Shopper liest Elton John  allen Ernstes einen Einkaufszettel vor…

(lacht) Mir kam die Idee, als ich Rocketman sah, wo ja am Ende gesagt wird, dass Elton alle seine Süchte bis auf eine besiegt hat. Dann erscheint ein Bild von ihm mit all diesen Einkaufstüten. Da wusste ich: Elton ist perfekt dafür! Elton John ist der berühmteste Shopper der Welt. Er liebte den Song und war sofort begeistert von der Idee.

Im zugehörigen Online-Shop zu diesem Album gab es kuriose Produkte wie Luft in Dosen oder Steven-Wilson-Toilettenpapier. Haben die Leute das Zeug wirklich gekauft?

Alles war in kürzester Zeit ausverkauft! Das ist so absurd, dass ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen kann. Doch mir gefällt es, weil es zeigt, dass alles Kunst sein kann. Man muss es nur Kunst nennen und eine Signatur hinzufügen. Es geht heute nicht mehr darum, etwas zu brauchen, sondern darum, etwas zu besitzen.

Steven Wilson steigert die Vorfreude auf sein neues Album mit der Single „King Ghost“

„Ich habe ein großes Ego.“

Warum kommt The Future Bites eigentlich im Jahr 2021? Die Themen und Entwicklungen sind ja nicht gerade neu.

In den letzten vier Jahren hat sich das alles noch mal immens verschärft. Die letzten vier Jahre bescherten uns ein raues Klima aus Hass, Kriegslust und Spaltung, das ich so nicht für möglich gehalten hätte. Viele Menschen sind heute so wütend, denken nur noch schwarzweiß. Das alles addiert sich zu den schon erwähnten Auswirkungen dieser Nabelschau, hervorgerufen durch die sozialen Medien. Daraus erwuchs dieser manchmal frustrierende, manchmal Hoffnung spendende Gedanke, dass dieses wundervolle Universum mit seinen endlosen Möglichkeiten von so wenigen genutzt wird. Wir können alles tun – und verbringen die meiste Zeit doch damit, neue Filter auf Instagram auszuprobieren. Ich schaue mir große Teile der menschlichen Rasse an und verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht. Ich verstehe nicht, wie man Trump wählen oder für den Brexit stimmen kann. Und doch gehöre ich derselben Spezies an. Ich fühle mich der menschlichen Rasse so fremd wie noch nie zuvor. Darüber wollte ich schreiben.

Unsere Nutzung der sozialen Medien hat ja auch viel damit zu tun, dass jemand unser Ego streichelt. Wie ist es um dein Ego bestellt, Steven?

Des einen Selbstbewusstsein ist des anderen Arroganz. Wie man es auch nennt: Es ist wichtig, hinter sich selbst zu stehen. Ein Ego zu haben. Ich habe ein großes Ego, das will ich gar nicht abstreiten. Jeder, der auf die Bühne geht und vor 3.000 Menschen spielt, hat ein ziemlich großes Ego. Das heißt nicht, dass ich keine Unsicherheiten kenne, im Gegenteil. Die meisten der großen Rockstars, zu denen ich mich jetzt aber nicht zählen möchte, waren voller Unsicherheiten und suchten deshalb ihr Heil auf der Bühne vor all diesen Menschen. Die Kunst ist nur, dass dieses Ego nicht in verblendeten Narzissmus kippt. Dann geht alles kaputt. Und genau das wird von den sozialen Medien befeuert.

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