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Popkultur

Zeitsprung: Am 19.8.1977 müssen die Sex Pistols unter falschem Namen auf Tour.

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Sex Pistols
Foto: Billedbladet NÅ/Arne S. Nielsen/National Archives of Norway

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 19.8.1977."

von Christof Leim und Tom Küppers

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich völlig ungeniert. Ein Sinnspruch, den man sich besonders im Rock’n’Roll immer wieder gerne zu Herzen nimmt. Dass diese Attitüde aber nicht nur Vorteile birgt, erfahren die englischen Punk-Vorreiter Sex Pistols, als sie ihre am 19. August 1977 beginnende UK-Tour unter falschem Namen antreten müssen. Angesichts der Vorgeschichte überrascht das nicht…

Hört hier in die größten Klassiker der Sex Pistols rein:

Johnny Rotten, Sänger der Sex Pistols, erinnert sich in Jon Savages lesenswertem Buch England’s Dreaming an die Stimmung in seinem Heimatland während der frühen Siebziger: „Großbritannien war damals ein deprimierender Ort. Komplett heruntergewirtschaftet, der Müll lag auf den Straßen, die Menschen waren entweder arbeitslos oder im Streik. Das Bildungssystem hat dir klipp und klar mitgeteilt, dass du aus der falschen Gegend stammst. Es gab keinerlei Hoffnung oder irgendwelche beruflichen Perspektiven für dich.“ Genau in diesem Klima finden sich die Sex Pistols zusammen.

Ärger von Anfang an

Rund um die Band, ihren Impresario Malcolm McLaren und die Designerin Vivienne Westwood entwickelt sich die Punk-Szene in England geradezu rasant. Nach nur wenigen Auftritten erhalten die Sex Pistols im Herbst 1976 einen Vertrag beim Majorlabel EMI, das nur wenig später die erste Single Anarchy in The UK veröffentlicht. Derart explizite politische Aussagen hatten in der Rockmusik noch Seltenheitswert und sorgen beim Establishment für gerümpfte Nasen. Im Dezember provozieren die Sex Pistols dann einen landesweit medial ausgeschlachteten Skandal, als sie spontan als Ersatz für ihre Labelkollegen von Queen bei einer Fernsehsendung einspringen dürfen. Als sich Moderator Bill Grundy mit der zufällig ebenfalls anwesenden Siouxsie Sioux einen leicht schlüpfrigen Schlagabtausch liefert, grätscht Pistols-Gitarrist Steve Jones dazwischen und weist Grundy unter anderem mit „You dirty fucker“ verbal in die Schranken.

Titelseite des „Daily Mirror“ am 2. Dezember 1976

Am nächsten Tag kennt die Boulevardpresse nur ein Thema: Die Sex Pistols im Speziellen und Punk im Allgemeinen. Der Daily Mirror prägt mit „The Filth And The Fury“ eine Phrase, die die Band später selbst verwenden wird. Und damit geht der Ärger erst richtig los. Von den zwanzig Konzerten einer geplanten Tournee müssen mehr als ein Dutzend aufgrund des Widerstandes offizieller Stellen oder der Angst der Veranstaltungsfirmen vor Unannehmlichkeiten abgesagt werden. Im Lager der EMI weigert man sich derweil, die Single auch nur anzufassen. Das Londoner Ratsmitglied Bernard Brook Partridge erklärt sogar allen Ernstes, dass die meisten Punkbands durch spontanen Tod nur besser werden könnten. Natürlich hält er die Sex Pistols für die Schlimmsten von allen: „Sie sind unglaublich ekelerregend, die Antithese der Menschheit. Ich würde es sehr begrüßen, wenn jemand ein sehr sehr, tiefes Loch buddeln und die verfluchte Bande da reinwerfen würde.“

Der Widerstand wächst

Die EMI gibt dem öffentlichen Druck irgendwann nach, doch mit A&M greift schnell ein weiterer großer Branchenvertreter zu, um nur eine Woche später wieder vom Vertrag zurückzutreten. Nach der im Rahmen einer Pressekonferenz zelebrierten Vertragsunterschrift waren die Dinge schnell außer Kontrolle geraten: Der neue Bassist Sid Vicious zerdeppert eine Toilette und humpelt mit blutigem Fuß durch die Gänge, Steve Jones intensiviert auf der Damentoilette die Beziehungen zu den weiblichen Mitarbeiterinnen, und Johnny Rotten beschimpft alles und jeden.

Im Mai 1977 erscheint dann über Virgin Records die zweite Single God Save The Queen. Zur Feier des Tages wird ein Boot gechartert, auf dem die Sex Pistols live auftreten, während man am Regierungssitz der Königin vorbei fährt. Von Polizeibooten eskortiert, muss das Schiff wieder anlegen. Umgehend werden etliche Gäste festgenommen, die Band kann unerkannt über einen Seitenausgang flüchten. Im Juni wird Rotten gleich zweimal von Gangs angegriffen und verprügelt, Bandkollegen und Freunden aus dem Umfeld widerfährt ähnliches.

Da helfen nur noch Tricks

Doch selbst das kann die Musiker nicht stoppen. Stattdessen lassen sie sich für ihre kommende Tournee einen Trick einfallen. Schlagzeuger Paul Cook erklärt: „Wir wollten unbedingt mal wieder zu Hause in England auftreten. Aber wir konnten das nicht publik machen, denn sonst wären irgendwelche Typen aus der örtlichen Politik gekommen und hätten uns das aus irgendwelchen dämlichen Gründen verboten. Also haben wir die Clubs direkt angesprochen und sie gebeten, das Ganze geheim zu halten.“ Als die Musikzeitschrift Melody Maker davon Wind bekommt, packt sie das Thema auf ihre Titelseite, liegt aber bei sämtlichen Terminen und Orten völlig daneben. Die „S.P.O.T.S.“ getaufte Tournee (für „Sex Pistols On Tour Secretly“) startet am 19. August in Wolverhampton, umfasst sechs Shows und endet am 1. September in Penzance. Für die Konzerte wechseln die Musiker allabendlich ihr Pseudonym: mal steht lediglich Special Guest auf der Ankündigung, mal The Hamsters, Tax Exiles, Acne Rabble oder gar A Mystery Band of International Repute. Zeitzeugen schwärmen von einer sagenhaften Energie, die diese Shows auszeichnet. Und angesichts einer damals mitgeschnittenen Liveversion von Anarchy In The UK kann man schon sagen: Mist, da hätten man dabei sein müssen.

Epilog: Ein halbes Jahr später ist die Band bereits implodiert, im Oktober 1978 wird Bassist Sid Vicious wegen Mordes an seiner Freundin Nancy Spungen verhaftet. Aber das ist eine andere Geschichte (und steht hier)…

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Zeitsprung: Am 2.1.1979 beginnt der Mordprozess gegen Sex-Pistols-Bassist Sid Vicious.

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