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„…And Justice For All“ von Metallica: Die Sache mit dem Bass

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…And Justice For All gehört unbestritten zu den großen Metal-Werken der Achtziger und hat Metallica an die Spitze des Genres befördert. Doch eine Eigenart hängt dem Album seit seiner Veröffentlichung nach: Es klingt sehr „speziell“, insbesondere hört man den Bass von Jason Newsted fast nicht.

von Christof Leim

Das verwundert, denn beim ersten Studio-Testlauf mit dem damals neuen Bandmitglied, der Garage Days-EP von 1987, drückt der Bass deutlich. Das folgende Album Metallica a.k.a. The Black Album tönt 1991 sogar in allen Belangen nahezu perfekt. Was ist also passiert? Drei Gründe lassen sich für den fehlenden Bass ausmachen: die Mitten, die Dopplung und der Lars. Schauen wir uns die mal näher an. (Lest die ganze Geschichte des Albums hier, Details zu den einzelnen Tracks hier.)

Hört hier in das Remaster von …And Justice For All rein:

Jason im Studio

An Newsteds Leistung bei den Aufnahmen liegt das Dilemma jedenfalls nicht. Flemming Rasmussen, der zusammen mit Lars Ulrich und James Hetfield als Produzent fungierte, erinnert sich im Rolling Stone: „Jason ist ein großartiger Musiker. Von ihm selbst und Toningenieur Toby Wright abgesehen bin ich vermutlich einer der wenigen Menschen auf der Welt, der die Bassspuren von Justice gehört hat. Und sie waren verdammt noch mal brillant.“ Damals lässt Rasmussen den Neuen seine Parts während Lars’ Schlagzeugaufnahmen proben und arrangiert einige Details, während Toby Wright an den Sounds arbeitet. Anschließend ballert der 24-Jährige Newsted in nur zwei oder drei Tagen beziehungsweise Nächten seine Spuren ein. Mehr „Produktion“ findet für dieses Instrument nicht statt – aber es ist noch “da”.

Im Mix allerdings geht der Bass dann verloren: Während der laufenden US-Tour mit Van Halen und den Scorpions im Sommer 1988 (alles dazu hier) fliegen Ulrich und Hetfield ständig nach New York. Dort steht das Bearsville Studio, in dem Steve Thompson und Michael Barbiero (bekannt von Appetite For Destruction) das Album abmischen. Deren erklärtes Ziel lautet, den Vorgänger Master Of Puppets als Messlatte zu begreifen und klanglich noch zu übertreffen. Doch wie sich rausstellt, hegen die Musiker andere Pläne.

Metallica 1988: James Hetfield, Kirk Hammett, Lars Ulrich, Jason Newsted (v.l.)

Die Sache mit den Mitten

Wie und wann genau die Vision der beiden Chefs entsteht und aus dem Ruder läuft, wissen wir nicht, aber Lars und James entscheiden sich für einen extrem trockenen Klang mit weniger Mitten, den so genannten „scooped sound“. So verleihen Metallica ihren Songs einen brettharten, vor allem aber eigenen Klang. Knüppelhart und ordentlich auf die Zwölf passt bestens zum Material, allerdings geht fett, lebendig und „rund“ doch anders.

Hetfields Gitarrenwand besitzt deswegen insbesondere Höhen und Bässe – und endet mit letzteren in dem Klangbereich, in denen sich eigentlich der eigentliche Bass durchsetzen sollte, nämlich „unten rum“. Oder anders formuliert: Hetfields Axt klingt alleine schon sehr “bassig”. Die Folge: Es gibt zwar „Gewummer“ auf der Platte, aber das stammt zu großen Teilen von Gitarren und Schlagzeug, nicht nur vom Bass. Was Jason spielt, hört man alleine wegen dieses Konfliktes weniger.

Die Sache mit der Dopplung

Hinzu kommt, dass Newsted es von seiner vorherigen Band Flotsam & Jetsam kennt, die Riffs der Gitarre einfach mitzuspielen, was im Thrash Metal generell nicht ungewöhnlich ist. Wenn Bass und Gitarre also das Gleiche spielen und sich zudem in den gleichen Frequenzbereichen tummeln, wird es schwer, das im Mix noch auseinanderzuhalten. Im tonalen Zweikampf mit den mächtigen Riffgebirgen und den dominanten Drums geht Jason Newsteds Instrument jedenfalls unter.

James Hetfield formuliert das 2008 in einem Interview mit Guitar World so: „Weil Jason meine Parts gedoppelt hat, konnte man kaum sagen, wo die Gitarre anfängt und der Bass aufhört. Außerdem hatte ich auf Justice diesen ‚scooped sound’ mit vielen Tiefen und Höhen, aber wenigen Mitten. Meine Gitarre hat so die ganzen tiefen Frequenzen quasi aufgefressen.“ Newsted selbst bestätigt dieses Problem ebenfalls , etwa gegenüber der Website Metal Exiles, und verweist auf seine mangelnde Erfahrung: „Hätte ich damals schon gewusst, was ich jetzt weiß, wäre das anders gelaufen.“

Lars’ Entscheidung

Vor allem aber, und hier liegt wohl der Hauptgrund für Jason Newsteds klangliche Abwesenheit auf der Platte, wird das Instrument Bass im Mix runtergedreht. Steve Thompson hat das vor einigen Jahren explizit bestätigt und erzählt im Interview mit Loudwire die ganze Geschichte: „Am ersten Tag kam Lars an mit einem Stapel Notizen zum EQ-Setup für die Drums. Das haben wir umgesetzt, und es klang beschissen.“ Also fertigen Thompson und Barbiero eine Alternative an, die Hetfield absegnet. Lars’ beharrt jedoch auf seiner Vision und geht noch weiter: Er bittet den Mischer, den Bass so sehr leiser zu machen, dass er kaum noch wahrzunehmen ist – und dann noch ein Stück weiter. Thompson fragt den Dänen, ob er Witze macht, und schaut fragend zu Hetfield. Der wirft daraufhin nur die Arme in die Luft. (Im Videointerview sieht man die Geste nicht, aber Thompson wird hier damit zitiert.) Flemming Rasmussen bestätigt das: „Lars und James haben entschieden, den Bass runterzuregeln. Ich weiß das, weil ich sie gefragt habe.“ Hinter dem Gesamtsound steckt also eine vielleicht nicht kluge, aber bewusste künstlerische Entscheidung, eine Vision für einen eigenen Klang. Aber das ist womöglich nicht alles, wie wir gleich sehen werden.

Jasons Reaktion

Jason Newsted trifft das natürlich hart. Der Metallica-Biograf Joel McIver zitiert den Bassisten in seinem (empfehlenswerten) Buch Justice For All: The Truth About Metallica: „Ich war so dermaßen enttäuscht, als ich den finalen Mix gehört habe. Das hat mich echt am Boden zerstört, deshalb habe ich das einfach ausgeblendet.“

Der Musikjournalist Steffan Chirazi, langjähriger Metallica-Kollaborateur und federführend beim Fanclub-Magazin So What!, erinnert sich im Buch aus dem neuen Justice-Boxset an eine frühe Reaktion Newsteds. Kurz vor der Veröffentlichung spielt ihm der Musiker das fertige Album vor und schaut in die Runde: „Fällt euch was auf?“ Keiner versteht, was Jason meint, bis der merklich frustriert die Frage stellt: „Wo ist der verdammte Bass?“ Chirazi gibt zu Protokoll, dass der Bassist ihm gegenüber fortan kein weiteres Mal über dieses diffizile Thema gesprochen habe.

In der Tat hält Newsted den Rücken gerade (nicht zum letzten Mal) und sorgt eben umso mehr dafür, dass man ihn insbesondere live nicht überhören kann. Drei Dekaden später hat er seinen Frieden gemacht: „Justice ist, was es ist“, sagt er öfter, eine spezielle Momentaufnahme eben, die trotzdem große Erfolge einfahren konnte. In einem Interview mit Eddie Trunk 2016 formuliert er es so: „Das Album klingt perfekt für diese Zeit und das, was wir damals repräsentiert haben.“ (Nachhören könnt ihr das hier.)

Hat seinen Frieden mit dem Album gemacht: Jason Newsted

Was die Band heute sagt

Natürlich kritisieren viele Fans seit Erscheinen der Platte den Sound – selbst wenn wir der Vollständigkeit halber an dieser Stelle konstatieren wollen, dass manche Hörer genau diesen speziellen brettharten, furztrockenen Klang lieben. In einem Videointervie mit Rolling Stone-Journalist David Fricke kurz nach Erscheinen der Remastered-Version bezeichnet Lars den Prozess als „Ergebnis instinktiver Entscheidungen, die wir damals getroffen haben“. Er bestätigt das Problem mit den Frequenzen und weist daraufhin, dass niemand sich vorher fest vorgenommen hat, das Album auf eine bestimmte Art abzumischen. Vielmehr habe es sich aus den Begebenheiten entwickelt. „Es ist wichtig festzuhalten, dass das nicht so geplant war.“

Umstrittenes Meisterwerk: „…And Justice For All“

Schon zum 20. Jubiläum der Scheibe hatte Ulrich im Decibel-Magazin klargestellt, dass der Bass nicht als Trotzreaktion gegenüber Jason entfernt wurde: „Justice war die James-und-Lars-Show, von Anfang bis zum Ende. Aber es ging uns nicht darum, ihm eine reinzuwürgen. Wir haben das Teil abgemischt und uns selbst zu sehr auf die Schulter geklopft dabei. Wir haben die Rhythmusgitarren und die Drums so lange hochgedreht, bis der Bass verschwunden ist.“ Leadgitarrist Kirk Hammett schlägt in Decibel eine ähnliche Kerbe: „Es war ein Experiment, und ich bin nicht sicher, ob das hundertprozentig geglückt ist.“

Oder doch Schikane?

Nun könnte hinter diesen Entscheidungen noch mehr gesteckt haben als klangliche Überlegungen: Die Fans wissen, dass Jason Newsted von den Metallica-Jungs lange Zeit sehr hart angepackt, ja geradezu schikaniert wurde. Anders wussten die zotteligen Headbanger nicht mit dem Tod seines Vorgängers Cliff Burton umzugehen. Denn schon wenige Wochen nach dessen Unfall am 27. September 1986 (mehr hier) rollt die Metal-Maschine weiter, und Metallica stehen wieder auf der Bühne, ohne den Verlust zu verarbeiten. Man darf nicht vergessen: Die Burschen waren damals nicht mal Mitte Zwanzig und befanden sich in einem Wirbelsturm aus Metal-Wahnsinn, Bier und Weltreisen. Als Rechtfertigung reicht das nicht, aber als Erklärung. Und wir wagen die Behauptung, dass James, Lars und Kirk als erwachsene Männer rückblickend da auch den Kopf schütteln. Jason sieht das genauso: „Würde man sie heute fragen, jetzt, wo alle Kinder haben und reifer geworden sind, käme die Antwort: ‚Oh, Mist. Oops.‘ Das würden sie einem so direkt sagen.“ Wir haben gesehen, dass definitiv nicht nur diese Attitüde gegenüber dem Neuen eine Rolle gespielt hat. Aber es wäre ärgerlich und mehr als ein bisschen doof, wenn Jason vor allem runtergedreht wurde, um ihm eine reinzuwürgen.

And Justice For Jason

Einige technisch beschlagene Fans wollen sich mit dem Sound jedoch nicht abfinden: Über die Jahre tauchen immer neue Versionen des Albums mit Titeln wie …And Justice For Jason oder …And Jason For All auf, bei denen versucht wurde, den vermissten Bass stärker in den Vordergrund zu rücken. Mal hat jemand am EQ gedreht, mal den Bass selber neu eingespielt, vor allem aber hat die offizielle Veröffentlichung einer Handvoll der Songs als Einzelspuren für das Spiel Guitar Hero: Metallica im Jahr 2009 neue Möglichkeiten eröffnet. Die Qualität der Ergebnisse unterscheidet sich deutlich.

5 Wahrheiten über Metallica

Metallica selbst haben sich jedoch dagegen entschieden, ihr Werk nach dreißig Jahren komplett neu zu mischen oder gar nochmal einzuspielen. „Diese Platten sind das Produkt einer bestimmten Zeit unseres Lebens, Schnappschüsse einer Ära“, sagt Hetfield in Guitar World. „OK, Justice könnte etwas mehr Bässe gebrauchen und St. Anger weniger Blechtrommel, aber solche Sachen machen die Alben zu einem Teil unserer Geschichte.“ Oder anders formuliert: Die Platten sollen grundsätzlich bleiben, was sie sind – einen Standpunkt, bei dem sich Hetfield, Ulrich, Hammett und auch Newsted einig zu sein scheinen. Steve Thompson äußerte sogar die Vermutung, dass der Zustand der Bänder gar keine neue Abmischung von Grund auf erlauben würde, aber das ist eine andere Geschichte.

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In Flames: 6 Neuauflagen der Melodic-Death-Titanen auf Coloured Vinyl

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In Flames
Foto: Mariano Regidor/Redferns/Getty Images

In Flames erfreuen sich derzeit bekanntlich an ihrem zweiten Frühling. Da passen die sechs schicken Vinyl-Neuauflagen in besonderen Farben, die es ab sofort bei uns zum Vorbestellen gibt. Erscheinen werden sie im November.

von Björn Springorum

Mit Foregone haben sich In Flames in diesem Jahr mehr als eindrucksvoll zurückgemeldet. Die Tour der Band war ein Triumph, die Festivalauftritte Abrisse wie vor 20 Jahren. Da passt natürlich eine große Neuauflagen-Offensive, die uns jetzt ganze sechs schmucke und limitierte Reissues in besonderen Farben beschert. Hier kann man sie alle vorbestellen, erscheinen werden sie dann im November:


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In Flames - Diverse Alben
In Flames
Diverse Alben
Col. Vinyl

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Vom großen Durchbruch bis in die jüngere Vergangenheit

Da wäre zum Beispiel Sounds Of A Playground Fading (genau, die mit Where The Dead Ships Dwell), die in einem edlen Beige kommt, das perfekt zum Artwork passt. Reroute To Remain, der internationale Durchbruch von 2002, erscheint in sattem und knalligen Rot. Mit diesem Album nahm die Karriere von In Flames damals so richtig Fahrt auf – Songs wie Trigger oder Cloud Connected sei Dank.

Gleich zweimal gibt es das intensive und emotionale Come Clarity, mit dem In Flames 2006 zahlreiche Preise abräumen konnten: Einmal als Total clear und einmal in einem transparenten Violett. Auch A Sense Of Purpose von 2008 stellt Sammler vor eine schwere Wahl: Transparent lime green oder Transparent ocean blue steht hier zur Wahl – bei letzterer Neuauflage wird das Ganze dann noch um die EP The Mirror’s Truth ergänzt.

Alle Neuauflagen sind auf schweres 180-Gramm-Vinyl gepresst, kommen als Doppel-LP im Gatefold daher. Und verschönern jede In-Flames-Sammlung da draußen erheblich.

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Interview mit In Flames: „Sobald man ein paar Alben veröffentlicht hat, ist plötzlich alles voller Regeln“

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Fehlfarben: „Glut und Asche“ erscheint als 40th-Anniversary-Edition

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Fehlfarben Glut und Asche Header

Vor 40 Jahren veröffentlichten Fehlfarben – eine der wichtigsten deutschsprachigen Bands aller Zeiten – ihr Album Glut und Asche. Zum runden Jubiläum gibt’s eine besondere Ausgabe des Albums – und zwar auf limitiertem, farbigem Vinyl.

Hier könnt ihr euch Glut und Asche anhören:

„Es wirkt manchmal so, als hätten wir nur Monarchie und Alltag gemacht“, erzählte Fehlfarben-Gründungsmitglied Thomas Schwebel 2020 anlässlich des 40. Geburtstags der Fehlfarben-Überplatte Monarchie und Alltag im uDiscover-Interview. Dabei hat die Band, soviel steht fest, noch eine ganze Reihe anderer fabelhafter Alben aufgenommen – etwa Glut und Asche, das es nun zu feiern gilt.

Fehlfarben-Mitglied bezeichnet Glut und Asche als „persönlichen Favoriten“

Glut und Asche bezeichnete Schwebel damals sogar als sein Lieblingsalbum der Band: „Weil wir da nur noch eine ganz kleine Band waren – und mit wahnsinnig viel Aufwand und Genauigkeit lange daran gearbeitet haben. Musikalisch ist das, glaube ich, die beste Platte. Die kam damals raus, als sich die Neue Deutsche Welle erledigt hatte und von einem Tag auf den anderen völlig in sich zusammenbrach und plötzlich alle Flops hatten. Auch wesentlich erfolgreiche Bands als wir verkauften plötzlich keine Platten mehr. Unsere Platte ist im Vergleich sogar noch ganz gut angenommen, aber nicht so gut, wie wir uns das erhofft hatten. Die kam ein bisschen zum falschen Zeitpunkt“.

Limitierte, signierte Vinyl

Nun ist es also soweit: Glut und Asche feiert seinen 40. Geburtstag. Das wird mit einer speziellen Langspielplatte getan: Eine Jubiläumsausgabe von Glut und Asche erscheint am 20.Oktober 2023 als Doppel-LP auf violettem Vinyl.


Jetzt in unserem Shop erhältlich:

Fehlfarben - Glut und Asche
Fehlfarben
Glut und Asche
Ltd. Ed. Purple 2LP (signed, 10000 copies)

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Die Ausgabe kommt signiert daher und ist streng limitiert. Das Besondere: Es werden drei bislang unveröffentlichte Songs enthalten sein – die verloren geglaubten englischen Songs  All Night Station (Jenseits der Tür), It’s Not Enough (Tag und Nacht)  und Magnificent Obsession.  Pflichtkauf für jeden Fehlfarben-Fan also!

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Zeitsprung: Am 19.9.1988 erscheint „New Jersey“ von Bon Jovi

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Bon Jovi
Foto: Rob Verhorst/Redferns/Getty

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 19.9.1988.

von Christof Leim

Wie geht man mit dem Problem um, einen Nachfolger für ein internationales Nummer-eins-Album liefern zu müssen? Die Antwort von Bon Jovi: Man schreibt noch eins. Mit New Jersey etablieren sich die fünf Rocker mit Nachdruck in der Ruhmeshalle des Hard Rock – Gold, Platin, eine gewaltige Welttour und mehrere Klassikersongs inklusive.

Hört hier in New Jersey rein:

Ab Mitte der Achtziger läuft’s bei Bon Jovi: Mit dem dritten Album Slippery When Wet erreicht die Band 1986 zum ersten Mal die Spitze der Charts in den USA und etlichen anderen Ländern. Songs wie You Give Love A Bad Name, Livin’ On A Prayer und Wanted Dead Or Alive laufen wirklich immer und überall. Kurz gesagt: Die fünf frisch gebackenen Millionäre zwischen 25 und 35 haben es geschafft. Doch Frontmann Jon Bon Jovi will nach diesem Höhenflug auf keinen Fall als One-Hit-Wonder verglühen. Der immense Erfolg und die (tatsächlich tolle) Platte sollen nicht als Glückstreffer abgehakt werden. Außerdem muss man das Eisen – oder eher: Gold und Platin – schmieden, solange es heiß ist. Deshalb macht sich der Sänger mit seinem Songwriting-Partner, Gitarrist Richie Sambora, nur vier Wochen nach unfassbaren 16 Monaten auf Welttour zu Slippery When Wet schon Ende 1987 wieder an die Arbeit.

Sie schreiben über zwei Dutzend neue Stücke, immer mit der bangen Frage im Hinterkopf, ob ihnen nochmal ein Knaller gelingt wie You Give Love A Bad Name, ihre erste US-Nummer eins. Erneut arbeiten sie mit Hitschmied Desmond Child, mit dem sie schon Hitsingles für Slippery When Wet komponiert hatten. Never change a winning Erfolgsrezept, keine Frage. Und wieder hauen die drei Kollegen ein paar Granaten raus, darunter Bad Medicine und Born To Be My Baby. Die Ergebnisse dieser Kollaboration klingen immer noch nach Bon Jovi, aber irgendwie scheint der Herr Child ein Händchen für Refrains zu haben, die quasi zwingend im Radio gespielt werden müssen. Es gibt kaum einen Songwriter, der den US-Hard Rock insbesondere der Achtziger so geprägt hat, angefangen mit Kiss (I Was Made For Lovin’ You) über Aerosmith (Dude (Looks Like A Lady)) bis Alice Cooper (Poison). Mit dem Team Bon Jovi/Sambora funktioniert das am allerbesten. Auch andere Lohnschreiber wie Holly Knight und Diane Warren sind beteiligt.

Für die Aufnahmen begibt sich die Band erneut mit Produzent Bruce Fairbairn und Toningenieur Bob Rock in die Little Mountain Studios in Vancouver, nutzt also so das gleiche Setup wie zwei Jahre zuvor. Ursprünglich wollen die Musiker ein Doppelalbum veröffentlichen, auch einen Titel haben sie sich schon ausgesucht: Sons Of Beaches. Davon hält die Plattenfirma jedoch gar nichts, und Bon Jovi müssen die Tracklist ganz ordentlich zusammenstreichen. Dazu laden sie 50 junge Fans ins Studio ein und spielen ihnen die über 20 Songs vor, um herauszufinden, welche am besten ankommen. Schon beim Vorgängeralbum hat diese Methode (offensichtlich) geholfen, das potenteste Material auszusuchen. Direkte Marktforschung, wenn man so will.

Übrig bleiben die zwölf Lieder mit sonnigem Party-Hard Rock, wie gemacht für unendliche MTV-Einsätze und die wirklich großen Stadien der Welt. Besser geht’s in diesem Genre fast nicht. Nichtsdestotrotz zeigen sich Bon Jovi als Band und Songwriter gereift und bieten eine musikalisch breitere Palette. Beispiele dafür finden sich zum Beispiel im getragenen, souligen Intro zu Lay Your Hands On Me, der Mundharmonika bei Homebound Train und dem Akustik-Blues Love For Sale. Textlich haben die Herren zwar glücklicherweise weiterhin nichts mit Feuilleton oder Auf-die-Füße-guck-Studentengeschrammel zu, doch Jon und Ritchie erweisen sich zusehends als Geschichtenerzähler in der Tradition ihres Helden Bruce Springsteen. So beschwört Blood On Blood alte Freundschaften samt der alltäglichen, aber prägenden Erlebnisse von früher. In Born To Be My Baby hält ein Paar ganz wie in Livin’ On A Prayer in mageren Zeiten zusammen, während Living In Sin von zwei Liebenden erzählt, deren Eltern sie lieber getrennt sehen wollen. Klassischer Songwriting-Stoff, keine Weltrettung, aber auch mehr als Floskeln.

Die Produktion erweist sich erneut als äußerst groß und kräftig, schön und poliert, und klingt dabei noch ein bisschen runder als auf Slippery. Vom albernen Arbeitstitel Sons Of Beaches verabschieden sich Bon Jovi und wählen stattdessen den Namen des Bundesstaates, aus dem sie stammen: New Jersey. Der gilt üblicherweise nicht als das Zentrum der Welt-Coolness, doch hier kommen einige Rock’n’Roll-Helden wie Springsteen, Skid Row und Zakk Wylde her. Das geplante Artwork, eine Sgt. Pepper-mäßige Collage, wird ebenfalls verworfen zugunsten eines einfach gehaltenen Designs, das eine blauschwarze Steinwand, das Bandlogo und den Albumtitel zeigt.

New Jersey erscheint am 19. September 1988, weniger als zwei Jahre nach Slippery When Wet und nur acht Monate nach dem Ende der monumentalen Tour. Der Rolling Stone schreibt damals kritisch, aber an einer Stelle mit weiser Voraussicht: „Jon Bon Jovi ist brilliant… in dem, was er tut. Noch klingt kaum einer der Tracks nach einem Hit, aber es besteht kein Zweifel daran, dass in einem Jahr mindestens vier Songs Teil unseres kollektiven Bewusstseins sind werden.“ Und so kommt es auch: New Jersey steigt auf Platz 8 in den USA ein, kracht aber schon in der nächsten Woche mit Schwung auf die Eins und bleibt da erstmal einen Monat. Bon Jovi haben es also geschafft und das Kunststück von Slippery When Wet tatsächlich wiederholt. Auch in anderen Ländern erobert die Scheibe die Charts, in Deutschland reicht es für Rang 4. Und die Konkurrenz aus diesem Stil kann sich damals sehen lassen: Def Leppard stehen mit Hysteria immer noch ganz weit vorne, Aerosmith und Mötley Crüe verkaufen Millionen, und seit einem Jahr spielt noch eine neue Band namens Guns N’ Roses mit.

Alle Singles von „New Jersey“ schaffen es in die US-Top Ten

Von den zwölf Songs werden gleich fünf als Single ausgekoppelt, und alle erreichen sie die Top Ten. Das hat es für ein Hard Rock-Album bis vorher nicht gegeben und nachher auch nicht mehr. Die Platte kommt sogar erstes amerikanisches Album überhaupt in der Sowjetunion auf den Markt. Schon die erste Single Bad Medicine, am 3. September vorab veröffentlicht, steht rasch auf Platz 1 der Single-Charts, womit Bon Jovi auch an diese Errungenschaft ein weiteres Häkchen machen können. Für das Video zu dieser spaßigen Rock’n’Roll-Nummer mit XXL-Refrain lässt Regisseur Wayne Isham mit Hilfe des Comedians Sam Kinison bei einem Konzert in Long Beach 5000 Kameras an die Fans verteilen – und schneidet aus deren Aufnahmen den Clip zusammen.

Born To Be My Baby klettert bis auf Platz drei, die dritte Auskopplung I’ll Be There For You rauscht wieder ganz nach oben. Nicht überraschend: Das Stück gehört zu den Top-Balladen der Ära, alleine die Backing Vocals von Richie sind schon ihr Geld wert. Man höre rein bei 2:15 Min. und 3:37 Min.. Und ein bisschen zeigt die Nummer schon den „erwachseneren“ Sound späterer Alben.

Wie lange New Jersey „heiße Ware“ bleibt, zeigt sich daran, dass Lay Your Hands On Me fast ein ganzes Jahr nach der Albumveröffentlichung ausgekoppelt wird. Der Song wird sogar von Dolly Parton als Countrynummer gecovert. Ansonsten empfiehlt sich das Stück mit seinem kapitalen Refrain natürlich als perfekte Konzerteröffnung.

Bei Living In Sin schließlich zickt MTV ein bisschen rum wegen ein paar Sexszenen, also gibt es vom Video eine entschärfte Version. Reichweite verschenken kommt für Bon Jovi nicht in Frage. Aber die Platte hat mehr drauf als die Singles: Blood On Blood und Wild Is The Wind sind Hammersongs, Love For Sale klingt (oder soll klingen), als sei es nach etlichen „Erfrischungen“ inmitten einer Party aufgenommen worden, und das kurze Ride Cowboy Ride erinnert dank einer Aufnahme in Mono an eine LoFi-Aufnahme von Annodazumal. Hinter den angegebenen Songwritern „Captain Kidd“ und „King of Swing“ stecken, genau, Jon und Richie.

Und die vielen übrig gebliebenen Songs? Etliche der unveröffentlichten Sons Of Beaches-Demos erscheinen erst 2014 im Rahmen einer Neuauflage der Platte. Einige davon tauchen daneben an anderer Stelle auf, etwa das von Alice Cooper, Joan Jett und Desmond Child geschriebene House Of Fire, das Meister Cooper schließlich 1989 auf Trash veröffentlicht. Does Anybody Really Fall in Love Anymore? nehmen später Samboras Freundin Cher und Alice Cooper-Klampfer Kane Roberts auf, Diamond Ring verwursten Bon Jovi selber 1995 für ihr Album These Days.

Jon Bon Jovi auf der Bühne in Rotterdam, November 1988: Rob Verhorst/Redferns/Getty

Mit New Jersey stehen Bon Jovi 1988 ganz oben: Sie haben zwei Hitalben hintereinander abgeliefert, die eine Ära definieren und gleichzeitig einige zeitlose Songs bieten. Das muss man erstmal hinbekommen. Die Tour zur Platte dauert nochmal anderthalb Jahre, und danach sind fünf Rocker tatsächlich komplett durch. Doch die Hard Rock-Weltherrschaft haben sie erstmal in der Tasche.

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Zeitsprung: Am 24.12.1980 kann man Jon Bon Jovi mit R2-D2 singen hören.

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