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Popkultur

Was kann die neue 3-CD-Version von Metallicas „Black Album“?

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Metallica
Foto: Mick Hutson/Redferns/GettyImages

Das schwarze Album von Metallica erscheint einen Monat nach seinem 30. Geburtstag in einer remasterten Neuauflage mit allerlei Bonuskram. Wir haben uns die „Expanded Edition“ auf drei CDs angesehen: Welche Schätzchen finden sich unter den Bonustracks? Woher stammen die Liveaufnahmen? Und kann man die kloppenden Sowjetsoldaten und und die Begeisterung des späteren Machine-Head-Chefs Robb Flynn womöglich sogar hören? Vor allem: Was haben die damit zu tun?

von Christof Leim

Hier gibt es passend zur Lektüre das Black Album in der Remaster-Version:

Am 12. August 1991 ließen Metallica ihr gleichnamiges fünftes Album auf die Welt los und landeten einen astronomisch großen Hit. Zu diesem auch Black Album genannten Meisterwerk müssen wir vermutlich nicht viel sagen (denn es steht ja ausführlich hier).

Aus einer Scheibe werden drei

Im Rahmen der Festwochen zum 30. Jubiläum erscheint die Scheibe nun in remasterter Form, und wer will, bekommt jede Menge Beilagen. Zum einen gibt es wieder ein Deluxe-Box-Set mit so viel Bonuskram, dass empfindliche Metallinerds vor Aufregung in eine Papiertüte atmen müssen – ein herrlicher Overkill („Megadeath“, wenn man so will), der schon bei den Geburtstagen der ersten vier Alben Spaß gemacht (Details zu Puppets hier, zu Justice hier).

Metallica 1991

Eine Nummer kleiner geht auch – mit der vergleichsweise aerodynamischen 3-CD-Expanded-Edition. Sie enthält das Album als Remaster, eine zweite Scheibe mit „Riffs, Demos, Rough Mixes & Easy Listening Music“ und eine Sammlung von Liveaufnahmen aus verschiedenen Ecken der Welt. Damit liefert diese Variante quasi einen Querbeet-Ausschnitt der Box.


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Metallica
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Easy Listening? Wie bitte?

Das Sammelsurium auf CD2 beginnt mit dem Nukleus eines Welthits: mit dem Enter Sandman-Riff in seiner Frühfrühform, wie sie Kirk Hammett irgendwann nachts aus der Gitarre gefallen ist. (Alles zum Sandmann könnt ihr hier lesen – auch, was Lars mit dem Riff dann angestellt hat.)

Von James Hetfields Rifftape gibt es eine Rohfassung von Nothing Else Matters, die schon viel von dem enthält, was wir kennen. Weniger bekannt ist die „Elevator Version“ des Songs, die 1993 als B-Seite der Single Sad But True versteckt wurde: Nothing Else Matters nur (!) mit Akustikgitarre, James’ Stimme und viel, viel Orchester. „Easy Listening“ trifft es ganz gut, aber: hat was. 

Ansonsten finden sich Rough Mixe, Testaufnahmen und Demos aller zwölf Tracks in verschiedenen Entwicklungsstadien. So singt Hetfield bei Holier Than Thou und Don’t Tread On Me noch „Nanananana“-Fantasietexte, Sad But True marschiert ein gutes Stück schneller, und The Unforgiven weist in der Probe noch ein unfertiges Gniedelsolo auf. Wie viel Schweiß die vier Musiker in die Aufnahme gesteckt haben, zeigt sich bei Through The Never, von dem wir „Take 53“ (!) bekommen. Das alles ist natürlich nichts zum Immer-wieder-durchhören, sondern interessant vor allem für die Leute, die die Stücke richtig gut kennen. Nerdkram halt.

Was ist denn jetzt mit den Sowjetsoldaten?

CD3 enthält Liveaufnahmen, angeordnet wie eine typische Setlist aus der Zeit. Es gibt zum Beispiel Mitschnitte vom Tushino-Airfield in Moskau, wo am 28. September 1991, also wenige Wochen nach Albumveröffentlichung, die letzte Show der Monsters-Of-Rock-Tour stattfand. Hier spielten Metallica vor AC/DC und damit zum letzten Mal als Nicht-Headliner; Pantera, Mötley Crüe, Queensrÿche und die Black Crowes waren auch dabei.

Dieses Konzert kennen die Fans von den A Year And A Half In The Life Of Metallica-Videos: Vor der Bühne standen geschätzt mindestens eine halbe Millionen Menschen, aber so genau weiß das niemand, und sie drehten komplett durch. Das sorgte für hartes Durchgreifen der Staatsmacht in Form von langen Reihen an Soldaten mit Schlagstöcken. Die Intensität der Situation kann man in der Performance der Band durchaus hören. Der Sound klingt gut und besitzt viel Atmosphäre. Fett.

Heimspiel vor Robb Flynn

Ihre eigene Endlos-Tour zur „Schwarzen“ starteten Metallica am 12. Oktober 1991 mit einem Heimspiel beim Day On The Green in Oakland, Kalifornien. Hier hatten unsere Helden schon 1985 mit Ride The Lightning triumphiert, was man im Homevideo Cliff‘Em All sehen kann. Die große Underground-Band der Bay Area hatte damals den nächsten großen Schritt gemacht, insbesondere für den heimatverbundenen Cliff Burton bedeutete dieser Termin viel. Sechs Jahre später widmet Hetfield deshalb For Whom The Bell Tolls seinem verstorbenen Freund und Kollegen.

Zeugen dieser Show wurden auch der ehemalige Forbidden- und Vio-Lence-Gitarrist Robb Flynn samt seinem bassspielenden Kumpel Adam Duce. Nach eigenen Aussagen gründete Robb seine Band Machine Head bei/wegen/nach diesem Metallica-Auftritt! Drei Lieder von diesem Tag finden sich auf der Expanded Edition, vermutlich mitgeschnitten am Mischpult mit mittelgutem Klang und wenig Publikum.

…und sie touren immer noch

Im Livesegment taucht noch ein dritter Gig auf, nämlich aus Muskegon, Michigan vom Anfang der Wherever We May Roam-Tour. Da spielen Metallica mittlerweile „in the round“, also mit der Bühne in der Mitte der Halle und dem legendären Snakepit. Das ganze Konzert veröffentlichte die Band bereits am 29. April 2020 im Rahmen der Metallica Mondays zur Lockdown-Beschallung (mehr dazu hier). Hier stand zum Beispiel das mittlerweile vergessene Holier Than Thou noch auf der Setlist. Die Aufnahme: Soundboard, unbearbeitet, roh, und die Band hat Feuer. Ein Dreivierteljahr (!) später rollten Metallica dann am 11. Januar 1992 wieder nach Kalifornien, nämlich nach Sacramento. Und da waren sie mit der Tour noch lange, lang nicht fertig. Sound: siehe oben.

Am 20. April 1992 schließlich eröffneten Hetfield, Ulrich, Hammett und Newsted das gewaltige Tributkonzert für Freddie Mercury im Londoner Wembley Stadium. Die drei Songs erschienen bisher vor allem in der raren „Fan Can“, hier gibt es Nothing Else Matters. Am 22. Mai 1992 schließlich, zwei Jahre nach Start der Monstertour, gastiert das Quartett auf dem Maimarktgelände in Mannheim. Dort wurde die selten gespielte Schimpftirade So What mitgeschnitten.

Alles in allem bietet die Live-CD einen gutem Überblick über die Bühnenpräsenz von Metallica zu diesen Zeiten: eine souveräne, nicht aufzuhaltende Metal-Maschine mit einem Bein in den wilden Untergrundzeiten, mit den anderen schon bei der zukünftigen Weltherrschaft. 

Fazit

Wer tatsächlich das Black Album noch nicht besitzt und eine CD im Schrank haben möchte, kann mit der Expanded Edition ein bisschen Zusatzspaß mitnehmen. Zur Aufmachung können wir anhand der Vorabversion noch nicht viel sagen: Es gibt ein alternatives Cover (lies: leicht abgeändert, Lars hat’s ausgesucht) und coole Ross-Halfin-Pics im Booklet. Das Remaster bringt vielleicht ein wenig mehr Brillanz und Lautstärke, macht aber schlussendlich keinen großen Unterschied. Was soll man bei einem Album auch verbessern, dessen Produktion tatsächlich noch als Goldstandard gilt?

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Schwarze Wucht: Zum 30. Jubiläum des „Black Album“ von Metallica

Popkultur

Zeitsprung: Am 9.6.1982 trotzen Mötley Crüe einer Bombendrohung. Oder doch nicht?

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Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 9.6.1982.

von Christof Leim

1982 machen sich Mötley Crüe auf in den amerikanischen Norden zur Crüesing Through Canada Tour ’82. Seit dem Vorjahr steht ihr erstes Album Too Fast For Love in den Läden, jetzt soll die Musik unter die Leute. Allerdings scheint in Edmonton jemand etwa dagegen zu haben – und droht, die vier Krachmacher in die Luft zu sprengen…

Hört hier in das Mötley-Crüe-Debüt Too Fast For Love rein:

Bei der Polizei von Edmonton geht die die telefonische Drohung ein, das Leben der Musiker sei in Gefahr, wenn sie am 9. Juni 1982 auf die Bühne gehen. An diesem Tag sollen Mötley Crüe ihre dritte Show in einem Club namens Scandals spielen. Doch Bassist und Bandchef Nikki Sixx lässt sich davon nicht beeindrucken und sagt in einem Nachrichtenbeitrag der CBC News: „Uns ist das egal. Wir sind hier, um allen eine gute Show zu bieten. Wer daran keinen Spaß hat, muss sich das nicht anschauen.“

Glücklicherweise verläuft das Konzert ohne Zwischenfall, Mötley Crüe spielen sogar noch zwei weitere Gigs in der Stadt in einem anderen Laden namens Riviera Rock Room. Der Mut der Band hat sich also ausgezahlt und bringt nicht nur 1000 Punkte an „street credibility“, sondern auch Presseberichte in Kanada und zu Hause in Kalifornien.

Mötley Crüe früher. Ganz früh.

Was eine verdammt coole Band also, was? Wirklich? Natürlich nicht. Wie sich später herausstellt, wurde die Bombendrohung vom Management der Truppe lanciert, um Aufmerksamkeit zu generieren. Eine PR-Aktion, nichts weiter, und sie funktioniert hervorragend. Die Show ist eben alles. Dem Tod kommt Nikki Sixx erst fünf Jahre später so richtig nahe, aber das ist eine andere Geschichte (die hier steht).

Immer Chaos

Über zu wenig Action während ihrer Kanadareise können sich Mötley Crüe allerdings nicht beschweren. Das ging schon los am Flughafen von Edmonton, wie Sänger Vince Neil in seiner Autobiografie Tattoos & Tequila schreibt: Bei der Einreise werden die Musiker nämlich erstmal verhaftet. Warum sie in ihrem Bühnenoutfit – Leder, Schminke, High Heels, Haare bis zur Decke – durch die Zollkontrolle laufen, kann drei Dekaden später wohl niemand mehr so richtig erklären. Die kanadischen Behörden stellen sich solche Fragen gar nicht erst und konfiszieren kurzerhand sämtliche Nietengürtel und Lederarmbänder, und Vince darf nicht mal seine Reiselektüre behalten (Playboy, Hustler, wegen der Interviews). Ansonsten gibt es Kloppereien mit Hockeyspielern, die ja in Kanada an jeder Ecke rumstehen, wie man weiß, aber dummerweise besser ausgerüstet sind. Außerdem fliegen ganz klassisch Fernseher aus Hotelfenstern. Man hat ja einen Ruf zu verlieren beziehungsweise aufzubauen. Wir würden uns nicht wundern, wenn das alles ebenso PR-Aktionen gewesen wären. Ein Einschätzung, die Vince Neil übrigens teilt. Immerhin hat sich diesmal niemand selbst angezündet oder als Doppelgänger von Nikki Sixx ausgegeben. Aber so läuft das wohl im Showgeschäft, was?

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Zeitsprung: Am 17.2.1988 zündet sich ein Mötley-Crüe-Fan selber an. Aua!

 

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Popkultur

„Come On“: Die erste Single der Rolling Stones wird 60 Jahre alt!

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Rolling Stones
Foto: Mark and Colleen Hayward/Redferns/Getty Images

Schon mit ihrem ersten veröffentlichten Song Come On landeten die Rolling Stones einen Hit. Auch wenn er aus der Feder einer anderen Rocklegende stammt: Chuck Berry. Später konnten Mick Jagger und Co. die Nummer noch nicht einmal mehr leiden. Am 7. Juni 1963 erschien die Single in Großbritannien.

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch Come On von den Rolling Stones anhören:

Schon als sich Mick Jagger und Keith Richards Ende 1961 auf der Zugfahrt von Dartford nach London kennenlernen, kann man erahnen, welche Musik die beiden einmal spielen werden. So trägt Jagger ein paar Blues-Platten von Muddy Waters und Chuck Berry mit sich herum. Richards überlegt, ob er den schlaksigen jungen Mann überfallen und die Platten klauen soll — entscheidet sich dann aber doch für ein Gespräch über die Musik. Wenig später gründen die beiden eine gemeinsame Band. Sie soll sich zu einer der größten in der Rockgeschichte entwickeln: The Rolling Stones — ein Name, der von Muddy Waters inspiriert ist. Der erste Song, den die Gruppe aufnimmt: Come On von Chuck Berry.

Come On: Die erste Single der Rolling Stones

Das Original nimmt Berry im Jahr 1961 in den Chicagoer Chess Studios auf. Gerade einmal 1:53 Minuten dauert der Song. Doch die kurze Zeit reicht der Gitarrenlegende, um einen gekonnten Rumba hinzulegen und einen weiteren Beitrag zur Konstruktion des Rock’n’Roll zu leisten. Inhaltlich geht es in dem Stück Blues-typisch um einen Kerl, bei dem wirklich alles schiefläuft: Seine Freundin hat ihn verlassen, der Wagen springt nicht an und arbeitslos ist er auch noch. Es sind Themen, mit denen sich offenbar auch die jungen Rolling Stones identifizieren können. Im Mai 1963 fahren sie mit einem Bus in ein Aufnahmestudio der Plattenfirma Decca und covern Come On.

„Der Song war seicht, aber auch sehr poppig“, erinnert sich Gitarrist Richards in According To The Rolling Stones. „Wir nahmen Come On zusammen mit mehreren Bo-Diddley-Songs auf. Die Nummer wurde wahrscheinlich ausgesucht, weil sie chartorientierter war.“ Vermutlich hätten einige Mitarbeiter von Decca Records die Entscheidung getroffen. „Uns war das egal“, ergänzt Richards. „Wir wollten einfach eine Single veröffentlichen.“ Tatsächlich gelingt mit Come On ein größerer Erfolg als erwartet. Nach dem Release am 7. Juni 1963 steigt der Song auf Platz 21 der britischen Single-Charts ein — und ebnet den Weg für ein jahrzehntelanges Rockmärchen.

Ein unliebsamer Startschuss für eine große Erfolgsgeschichte

Live findet der Song nach der Veröffentlichung kaum statt. Das liegt daran, dass Come On nicht gerade zu den Lieblingsstücken der Stones gehört. Gitarrist Ronnie Wood findet die Nummer zwar super, wie er in einem Interview verrät: „Meiner Meinung nach ein brillanter Song. Ich mag auch das Original von Chuck Berry.“ Mick Jagger) äußert laut Bill Wymans Rolling Stones Story allerdings: „Ich glaube nicht, dass Come On sehr gut war — es war scheiße. Weiß Gott, wie der Song in die Charts kam; es war ein Hype. Wir mochten das Stück so wenig, dass wir es bei keinem Gig spielten.“ Genau das sorgt kurze Zeit später noch für Ärger.

Come On im NME

Was das britische Magazin NME über Come On und die B-Seite I Want To Be Loved von Willie Dixon zu sagen hatte

Als Stones-Manager Andrew Oldham mitbekommt, dass seine Schützlinge Come On auf der Bühne boykottieren, flippt er aus. „Er drehte durch, weil wir Come On nicht spielten“, erinnert sich Bassist Bill Wyman. „Er befahl uns, den Song bei jeder Show zu bringen.“ Das machen die Stones dann auch — allerdings nicht lange. Von der fertigen Single erhalten die Musiker damals übrigens nur vier Stück; weitere Exemplare müssen sie aus eigener Tasche bezahlen. Unvorstellbar, dass eine der größten Rockbands des Planeten einmal so stiefmütterlich behandelt wurde. Heute sind die Stones schon lange Legenden. Angefangen hat der Erfolg mit ihrer ersten Single Come On am 7. Juni 1963.

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60 Jahre Rolling Stones: Ihre 10 besten Alben im Ranking

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Popkultur

Zum Pride Month: Die queeren Wurzeln des Rock

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Sister Rosetta Tharpe
Foto: Tony Evans/Getty Images

Rock ohne die LGBTQ+-Community? Undenkbar. Ob die frühen Anfänge im Blues, die Erfindung des Rock’n’Roll, Glam Rock oder Heavy Metal: Die Geschichte der Rockmusik erstrahlt in bunten Regenbogenfarben. Wir haben die queeren Wurzeln des Rock für euch unter die Lupe genommen. Erster Halt: die 1910er-Jahre!

von Timon Menge

Man mag es bisweilen vergessen haben oder verdrängen, aber es gab in der Geschichte der Menschheit lange Zeiten, in denen die Mitglieder der LGBTQ+-Community ihre Identität für sich behalten mussten, weil ihnen sonst juristische Verfolgung oder gar der Tod drohte. Noch schlimmer: In Teilen der Welt ist es bis heute so, zum Beispiel in Jamaika oder Uganda. Zusätzlich herrschen vielerorts mehr oder minder unterschwellige Ressentiments gegenüber der LGBTQ+-Gemeinschaft. Dafür muss man sich nur einmal eine Kommentarspalte zu einem Artikel mit dem entsprechenden Thema anschauen. Eine der Lösungen ist, der Community zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, ob von innen oder von außen. Ein traditionell gutes Mittel dafür ist die Kultur — im Speziellen die Musik.

Ma Rainey und Bessie Smith: Die „Bisexual Queens Of The Blues“

Zu den vielleicht ersten öffentlichen Ikonen der LGBTQ+-Community gehören die beiden bisexuellen Blues-Sängerinnen Ma Rainey und Bessie Smith. Sie lernen sich 1912 während einer Minstrel Show kennen, einer Art Wanderzirkus, der weiße US-Bürger*innen unterhält, indem auf der Bühne Schwarze Stereotype präsentiert werden. Meistens kommt dabei das sogenannte Blackfacing zum Einsatz, bei dem sich weiße Darsteller*innen ihre Gesichter dunkel anmalen und Schwarze als naive Sklaven zeigen, die ihre Besitzer*innen trotz aller Misshandlungen lieben. Es gibt allerdings auch Schaustellergruppen wie die Rabbit Foot Minstrels, zu denen Rainey und Smith gehören, und die ausschließlich aus Schwarzen Mitwirkenden bestehen.

Für Rainey und Smith ist die Wander-Show ein Karriere-Katalysator. Heute gelten beide zurecht als Blues-Legenden und werden sogar als „Bisexual Queens Of The Blues“ betitelt. Das liegt zum Beispiel daran, dass sie quasi den Soundtrack zu einem großen US-amerikanischen Umbruch liefern. So strömen in den 1910er- und den 1920er-Jahren viele US-Bürger*innen vom Land in die wachsenden Großstädte, wo bisher grundlegende Gesetze des Zusammenlebens neu verhandelt werden. Kultur, soziale Fragen, Politik, Kriminalität, Sexualität: Alles verändert sich und Künstler*innen wie Ma Rainey und Bessie Smith bilden die Veränderungen in ihren Songs ab. So lautet ein Auszug aus dem Text von Prove It On Me Blues von Ma Rainey:

They say I do it, ain’t nobody caught me
Sure got to prove it on me;
Went out last night with a crowd of my friends,
They must’ve been women, ’cause I don’t like no men.

Sister Rosetta Tharpe: Die „Godmother Of Rock And Roll“

Während der Transformation des Blues zum Rock spielt vor allem eine Schwarze, queere Musikerin eine entscheidende Rolle: Sister Rosetta Tharpe, eine der frühen Frauen des Rock’n’Roll. Schon mit vier fängt sie an, Gitarre zu spielen. Später kombiniert sie die Gospelmusik ihrer Kindheit mit ihrer verzerrten Gitarre sowie ihrem ausdrucksstarken Gesang und legt damit einen wichtigen Grundstein für die Entstehung des Rock’n’Roll. In ihren Texten singt sie über Themen wie Sexualität und Liebe und lebt offen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Das dürfte sie nicht nur einmal in Schwierigkeiten gebracht haben — dennoch feiert sie als Musikerin große Erfolge. Heute, also noch 50 Jahre nach ihrem Tod, gilt die „Godmother Of Rock And Roll“ als Ikone der LGBTQ+-Community.

Little Richard: Der „Architect Of Rock And Roll“, der seine Meinung änderte

Auch Little Richard, der übrigens von Sister Rosetta Tharpe entdeckt wird, gehört zu den frühesten Sprachrohren der LGBTQ+-Community. Als Schwarzer homosexueller Mann aus dem Süden der Vereinigten Staaten ist ihm vermutlich fast jedes Vorurteil schon einmal begegnet. Dennoch steht der „Architect Of Rock And Roll“ für seine Sexualität ein und lebt sie mehr oder minder offen aus. So lautet der Text seines größten Hits Tutti Frutti ursprünglich:

Tutti Frutti, good booty
If it don’t fit, don’t force it
You can grease it, make it easy 

Für die Änderung der Lyrics in „Tutti Frutti, aw rooty“ sorgt Produzent Robert Blackwell, der sich wegen des eindeutigen Originaltextes Sorgen macht. Ab Anfang der Achtziger vollzieht Little Richard leider eine 180-Grad-Wende, spricht sich in der TV-Show Late Night With David Letterman öffentlich gegen das Schwulsein aus und bezeichnet Homosexualität noch 2017 als „unnatürlich“. Sie widerspreche „Gottes Willen“.

Musicals und der Broadway

Einen besonderen Stellenwert in der Musikhistorie der LGBTQ+-Community nehmen auch Musicals und der Broadway ein. So leben Komponisten wie Marc Blitzstein schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offen schwul und prägen die Bühnenwelt maßgeblich. Die lesbische US-Theaterproduzentin Cheryl Crawford gründet unter anderem die Schauspielschule Actors Studio, an der zum Beispiel Marlon Brando, James Dean, Marilyn Monroe, Al Pacino, Robert De Niro, Dustin Hoffman und Jack Nicholson ausgebildet werden. Einen der größten Meilensteine im LGBTQ+-Theater markiert die Rocky Horror Show, die am 19. Juni 1973 am Londoner West End Premiere feiert, und bei der es sich um eine der berühmtesten Travestie-Shows der Welt handeln dürfte.

Disco und der Christopher Street Day

Genau wie in der Welt der Musicals findet die LGBTQ+-Community auch in der Disco einen Heimathafen. Ihren Ursprung haben die Tanzlokale im Zweiten Weltkrieg, als es jungen Menschen durch die Nazis untersagt war, Swing- und Jazzmusik aus den Vereinigten Staaten zu hören. In den späten Sechzigern schwappt der Trend über den großen Teich, wo vor allem Afroamerikaner*innen, die Schwulenszene und Latinos in die Diskotheken strömen. In der Bar Stonewall Inn in der Christopher Street in New York City kommt es am 29. Juni 1969 zu den sogenannten Stonewall-Unruhen, bei denen die Bar um 1:20 Uhr nachts von Polizeibeamten gestürmt wird. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und dem LGBTQ+-Publikum der Bar schockieren. In Gedenken an die Ereignisse feiern wir heute deshalb jedes Jahr den Christopher Street Day. Ihren Höhepunkt erreicht die Disco-Ära ab Mitte der Siebziger mit Künstler*innen wie Grace Jones und dem Film Saturday Night Fever.

Glam Rock und Heavy Metal: Die LGBTQ+-Community in der Radaumusik

Nachdem Ma Rainey, Bessie Smith, Sister Rosetta Tharpe und Little Richard die Grundsteine dafür gelegt hatten, bleibt die LGBTQ+-Community auch weiterhin ein wichtiger Einfluss auf die Rockwelt. Da wären zum Beispiel Marc Bolan und David Bowie, die mit der Erfindung des Glam Rock Rollenmuster aufbrechen und androgyne Alter Egos erfinden. The Kinks thematisieren in ihrem Song Lola das Thema Transsexualität. Charismatische Künstler wie Freddie Mercury und Elton John sind weit oben auf der Spitze des Rockolymp zu finden und prägen das Genre nicht nur durch ihr grenzenloses Können, sondern auch durch ihre kreativen Kostüme. Und der homosexuelle Judas-Priest-Sänger Rob Halford erschafft die Metal-Mode, indem er sich am Dresscode der Sadomaso-Szene orientiert. Die Einflüsse der LGBTQ+-Community sind überall — und wir verdanken ihr einen großen Teil dessen, was wir heute unter Rockmusik verstehen.

Die Achtziger und Neunziger: LGBTQ+ im Mainstream sorgt für Homophobie

In den Achtzigern und Neunzigern explodiert der Einfluss der LGBTQ+-Community auf die Pop- und Rockmusik. Ob Culture Club, Wham!, die Pet Shop Boys, Cher, Blur, Cyndi Lauper, Madonna, Prince oder Frankie Goes To Hollywood: Zum ersten Mal ist die Szene in der Mitte des Mainstreams angekommen. Leider ruft das auch jede Menge Gegenwind auf den Plan. So führt die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den Achtziger-Jahren einen offenen Krieg gegen die LGBTQ+-Gemeinde. Das HI-Virus und AIDS werden öffentlich als „Schwulenpest“ verschrien. Nach gefühlten Schritten in die richtige Richtung erleidet der Kampf für die Akzeptanz der LGBTQ+-Community große Rückschläge. Doch die Bewegung gibt keine Ruhe und sorgt Stück für Stück dafür, dass sie akzeptiert wird. Erschreckend: Erst seit 1994 ist es in Deutschland nicht mehr illegal, homosexuell zu sein.

Mit Musik zu mehr Aufmerksamkeit und Toleranz

Heute sind wir zum Glück so weit, dass es selbst in den konservativsten Musikrichtungen eine LGBTQ+-Community gibt, was Country-Künstler*innen wie Orville Peck und Sarah Shook & The Disarmers unter Beweis stellen. Doch es ist auch offenkundig, dass es noch viel Arbeit zu tun gibt, bis die Sexualität von Musikerinnen und Musikern einfach keine Rolle mehr spielt. Die Lösungen dafür sind Sichtbarkeit, Aufklärung und Toleranz. Dafür war und ist die Musik eins der besten Hilfsmittel. Das Beste, was wir tun können, ist, die LGBTQ+-Community ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, bis auch der oder die Letzte verstanden hat, dass Gender, Liebe und Sexualität mindestens so bunt sind wie die Pride-Flagge.

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This Could Be Heaven For Everyone: 10 Pride-Hymnen

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