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Popkultur

„Tommy“, „The Wall“ und Co.: Was wurde eigentlich aus der Rockoper?

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The Who
Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images

The Who machen es vor, die Kinks, Andrew Lloyd Webber, Tim Rice und Pink Floyd ziehen nach. Werke wie Tommy, Arthur, Jesus Christ Superstar und The Wall prägen ganze Generationen. Inzwischen gibt es die Rockoper seit mehr als 50 Jahren. Doch was wurde eigentlich aus dem komplexen Genre?

von Timon Menge

Jeder Rockfan kennt das: Man sitzt im Musikunterricht in der Schule, lauscht mehr oder weniger geduldig den Ausführungen des Lehrkörpers und trällert zum Abschluss der Stunde ein Liedchen. Inhaltlich geht es selten um Hendrix’ geilste Soli, die knackigsten AC/DC-Riffs oder die Erfindung des Heavy Metal durch Black Sabbath. Stattdessen stehen oftmals Mozart, Bach und die italienische Oper auf dem Stundenplan. 1966 liefern The Who mit ihrem Album A Quick One einen kleinen Hoffnungsschimmer — und schreiben die erste kleine Rockoper.

In den sechs Teilen des mehr als neunminütigen Songs A Quick One, While He’s Away geht es um eine nicht näher benannte Dame, deren Freund für „fast ein Jahr“ unterwegs ist. Sie vermisst ihn, doch ihre Freunde erzählen ihr, dass sie ein Heilmittel haben. Dieses Heilmittel heißt Ivor, ist Zugfahrer und springt mit Freude ein. Als ihr Partner zurückkehrt, gesteht sie ihm ihre Schuld. Letztendlich vergibt er ihr. The Who sprengen mit diesem Ansatz die Grenzen der Rockmusik, erstmals verknüpfen sie mehrere Songparts zu einer Geschichte. Doch da kommt noch mehr.

Hier könnt ihr euch Tommy von The Who anhören:

Der Startschuss

Am 17. Mai 1969 veröffentlichen die Briten ein Album, dass die Rockgeschichte für immer verändern soll: Tommy. Mit der Rockoper gelingt The Who der Durchbruch, innerhalb kürzester Zeit spielen sie in Woodstock, beim Isle Of Wight Festival und im Metropolitan Opera House in New York City. Rockbegeisterte Schüler atmen auf. Die Geschichte des taub-stumm-blinden Tommy und seines Familienlebens eignet sich hervorragend als weniger langweiliger Unterrichtsstoff, zumindest objektiv betrachtet. Schauen wir uns deshalb einmal an, was eine Rockoper eigentlich ist.


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Per Definition handelt es sich bei einer Rockoper um eine Folge von Songs, die eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Wie genau die Handlung dieser wiedergegeben wird, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. So können Monologe oder Dialoge dafür eingesetzt werden, es mag aber auch einen Erzähler „im Off“ geben. Der wichtige Unterschied zum Konzeptalbum liegt darin, dass die Stücke auf Konzeptalben auf jede nur erdenkliche Art miteinander verwoben sein können, nicht zwangsläufig durch eine gemeinsame Handlung.

Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung von Tommy legen auch die Kinks mit Arthur eine Rockoper vor. Gemeinsam mit Autor Julian Mitchell schreibt Frontmann Ray Davies eine Geschichte nieder, die teilweise aus seinem eigenen Leben stammt. So orientiert er sich auf dem Album an der persönlichen Erfahrung, dass seine Schwester Rose 1964 mit ihrem Mann nach Australien auswandert. Der wiederum liefert die Vorlage für den Arthur-Hauptcharakter Arthur Morgan, einen Teppichverleger.

Rock am Broadway

1971 entdeckt auch das Broadway-Duo aus Andrew Lloyd Webber und Tim Rice das spannende Format und schafft einen Meilenstein, der sich bis heute großer Beliebtheit erfreut: Jesus Christ Superstar. Die Handlung orientiert sich lose an den letzten sieben Tagen von Jesus Christus, beginnend mit den Vorbereitungen seiner Ankunft in Jerusalem, und endend mit seiner Kreuzigung. Dennoch gestaltet das Autorenduo weite Teile der Geschichte völlig fiktional und zeichnet einen Konflikt zwischen Jesus und Judas nach, den es so laut Bibel nicht gab.

Ende der Siebziger widmen sich auch die Könige der progressiven Rockmusik der Rockoper. Mit The Wall veröffentlichen Pink Floyd unter der Federführung von Roger Waters ein Monumentalwerk, das die Geschichte des jungen Rockmusikers Pink beleuchtet, der sich aus freien Stücken aus der Gesellschaft zurückzieht. Das Symbol für die Isolation: eine Mauer. Pink Floyd landen einen riesigen Erfolg, ganze 15 Wochen belegt die Platte Platz eins der US-Charts. Doch was wurde später aus der Rockoper?

Punk und das Plektrum des Schicksals

Zu Beginn der Zweitausender steht es nicht allzu gut um Green Day. Mit Warning (2000) hat die Gruppe eine erfolglose Platte veröffentlicht. Anschließend spielen die Kalifornier ein weiteres Album mit dem Titel Cigarettes And Valentines ein. Kurz vor Ende der Aufnahmen werden allerdings die Masterbänder geklaut, die Punkrocker stehen vor dem Nichts. Im Nachhinein bezeichnet Frontmann Billie Joe Armstrong diesen Vorfall als Segen. Statt das gestohlene, mittelmäßige Material zu reproduzieren, beginnen Green Day mit der Arbeit an völlig neuen Songs.

In den Monaten danach entsteht das wichtigste Album der Band, weltweit gelingt der erneute Durchbruch. Inhaltlich beschäftigt sich die Punkrock-Oper American Idiot (2004) mit der Geschichte von „Jesus Of Suburbia“, einem jugendlichen Antihelden aus der amerikanischen Mittelschicht. Die Gruppe thematisiert zum Beispiel den Irak-Krieg und seinen Beitrag zur Desillusionierung einer ganzen Generation. Weltweit fährt das Werk hervorragende Kritiken ein, 2005 folgt sogar der Grammy für das „Beste Rockalbum“.

2006 folgt mit The Pick Of Destiny von Tenacious D eine etwas andere Rockoper. Mit der Hilfe von Gaststars wie Meat Loaf oder Ronnie James Dio erzählen Jack Black und Kyle Gass auf dem Album und im dazugehörigen Film Kings Of Rock die Geschichte des jungen Jables, der aus seinem spießigen Elternhaus nach Hollywood flieht, um dort die beste Band aller Zeiten zu gründen. Als er gemeinsam mit seinem Kumpel Kage herausfindet, dass dabei vor allem das sogenannte „Plektrum des Schicksals“ eine Rolle spielt, nimmt die Reise ihren Lauf.

Und nun?

Ob Tommy, Arthur, Jesus Christ Superstar oder The Wall: Mit ihren Rockopern haben Gruppen wie The Who und Pink Floyd das fortgeführt, was die Beatles mit Alben wie Rubber Soul (1965), Revolver (1966) und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) begonnen haben. Sie haben das Album über das Konzeptalbum hinaus als Kunstform etabliert und einmal mehr bewiesen, dass es bei Rock- und Popmusik nicht um Hittauglichkeit gehen muss, sondern dass auch gerne etwas mehr Tiefe im Spiel sein darf.

Rockopern mögen heute nicht mehr in der gleichen Taktung erscheinen, wie in den Sechzigern und Siebzigern. Dennoch haben sie etwas geleistet, das bis heute Bestand hat: die Versöhnung von Popmusik und Klassik. Schon der Begriff „Rockoper“ macht deutlich, dass hier zwei Dinge miteinander verschmolzen wurden, die eigentlich in unterschiedlichen Welten stattfinden. Bis heute darf man deshalb Kollaborationen bestaunen, die vor einigen Jahrzehnten noch nicht denkbar gewesen wären, ob im Rockschuppen um die Ecke oder auf der Opernbühne. Beide Welten haben sich für die jeweils andere geöffnet. So klappt’s dann auch im Musikunterricht.

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